Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
6. August 1995

Das Gemeinschaftsprinzip in der Kirche

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir bekennen im Glaubensbekenntnis die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche. Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität sind die vier Eigenschaften und Kennzeichen der wahren Kirche Christi. Wir hatten an den vergangenen Sonntagen die Absicht, zu verstehen, was es heißt, wenn wir sagen: Die Kirche ist einig. Denn jede Aussage, jede menschliche Äußerung ist der Erklärung bedürftig. Deswegen muß auch interpretiert werden, was es heißt: Es gibt eine Kirche. Das bedeutet nämlich zweierlei. Es bedeutet: Es gibt eine einzige Kirche, also nicht zwei oder drei, und es bedeutet: Diese einzige Kirche ist einig, sie ist innerlich eine Einheit. Beide Aspekte der Einheit haben wir an den vergangenen Sonntagen bedacht. Es bleibt uns heute die Überlegung: Wie drückt sich die Einheit und Einigkeit der Kirche aus? Die Kirche ist ja eine sichtbar-unsichtbare Wirklichkeit. Wie zeigt sich nun in der Erfahrung, daß die Kirche einig ist? Die Antwort lautet: Die Kirche ist eine Glaubensgemeinschaft, sie ist eine Gebets- und Opfergemeinschaft, sie ist eine Leidensgemeinschaft, und sie ist eine Gehorsamsgemeinschaft.

Die Einigkeit der Kirche zeigt sich erstens darin, daß sie eine Glaubensgemeinschaft ist. Alle, die in der Kirche sind und in der Kirche bleiben wollen, sind gehalten, sich auf den einen wahren katholischen Glauben zu verpflichten. Er findet seinen Ausdruck in den Glaubensbekenntnissen. Die Glaubensbekenntnisse sind sogenannte Kurzformeln des Glaubens, wo also wesentliche Glaubenswahrheiten zusammengefaßt sind. Was in den Glaubensbekenntnissen enthalten ist, gibt den katholischen Glauben nicht erschöpfend wieder. Ein großer Teil der Glaubenswahrheiten ist nicht in den Glaubensbekenntnissen enthalten. Beispielsweise findet sich in den Glaubensbekenntnissen keine Aussage über das eucharistische Opfersakrament, welches doch das größte Geheimnis und der bedeutendste Schatz der Kirche ist. Die Glaubensbekenntnisse sind also der Ergänzung bedürftig und fähig. Sodann sind auch die Formeln des Glaubensbekenntnisses der Erklärung bedürftig. Man kann nämlich denselben Satz aussprechen und sich doch etwas ganz Verschiedenes darunter vorstellen. Deswegen muß das lebendige Lehramt der Kirche sagen, wie ein Glaubenssatz zu verstehen ist. Wir müssen uns einig sein nicht nur im Wortlaut, sondern auch im Verständnis des Glaubensbekenntnisses. Die Glaubensgemeinschaft wirkt sich weiter aus im Leben aus dem Glauben. Man muß mit der Zunge und mit dem Herzen den Glauben bekennen, aber man muß ihn auch im täglichen Leben verwirklichen. Man muß nach dem Glauben und aus dem Glauben leben. Unser Leben muß ein Zeugnis des Glaubens sein. Was wir glauben, muß sich im Leben widerspiegeln. Wir alle wissen, wie schwer diese Aufgabe ist; aber der Wille dazu, die Entschlossenheit zu dem Leben aus dem Glauben, die muß in einem jeden von uns sein, sonst verfehlen wir uns gegen die Kirche als Glaubensgemeinschaft.

Die Kirche ist zweitens eine Gebets- und Opfergemeinschaft. Sie ist ja der fortlebende Christus; und Christus betet immerfort zum Vater. In diese Bewegung des Gebetes ist die Kirche hineingenommen. Jedes Gebet, das die Kirche spricht, ist Anschluß an das Gebet Christi zum Vater. Auch wenn wir als einzelne beten, sind wir doch hineingenommen in die Gebetsgemeinschaft der Kirche. Wir beten als Glieder der Kirche. Auch in unserem einsamen Beten ist das Wir der Kirche in irgendeiner Weise wirksam.

Besonders eindeutig stellt sich die Kirche selbstverständlich dar in der Opfergemeinschaft, der heiligen Messe. Christus hat ja die Krönung seines Lebens und Wirkens vollbracht im Opfer am Kreuze. Aus dem Opfer am Kreuze muß die Kirche leben. Sie lebt daraus, wenn sie das Meßopfer würdig und fruchtbar feiert, denn das Meßopfer ist die Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers. Wenn die Kirche in das Meßopfer eingeht, dann stellt sie sich vor aller Welt dar als die Gemeinschaft derer, die durch Tod und Auferstehung des Herrn zu einer Gemeinschaft verbunden sind. Daraus erkennt man den Wert, den unersetzlichen Wert und die Bedeutung, die nicht zu übertreibende Bedeutung des Meßopfers. In jedem Meßopfer ist die ganze Kirche anwesend. Wie viele oder wie wenige daran teilnehmen mögen: Es ist immer das Opfer der Kirche, und zwar das Opfer der Gesamtkirche. Diejenigen, die versammelt sind, vertreten gewissermaßen nur die Kirche, aber in ihnen ist die Kirche wirksam. Deswegen hat die Kirche – gegen irrige Lehren – immer daran festgehalten: Auch der einsame Priester, der mit einem einzigen Gläubigen oder vielleicht ganz allein das Meßopfer feiert, vollzieht ein öffentliches Opfer, auch er bringt das Meßopfer im Namen der Kirche und für die Kirche dar. Deswegen hat es immer einen Sinn, das Meßopfer zu feiern, auch wenn keine Gläubigen oder nur wenige sich einfinden. Da kann man nicht sagen, wie es heute von manchem Priester zu hören ist: Ich habe keine Gemeinde, und deswegen zelebriere ich nicht. O ja, nachkonziliarer Priester, du hast eine große, eine Riesengemeinde. Alle, die durch das Blut Christi erlöst sind, sind deine Gemeinde.

Die Rollen beim Meßopfer sind verschieden. Der Priester ist der eigentliche Vollzieher, aber die Gläubigen tragen das Meßopfer mit. Wenn Sie die Meßtexte sorgfältig betrachten, meine lieben Freunde, dann stellen Sie fest, daß immer wieder vom Wir die Rede ist. Der Priester betet immer im „Wir“, weil er eben mit den Gläubigen, und die Gläubigen mit ihm, das Meßopfer darbringt. Die Gläubigen sind also am Meßopfer beteiligt. Sie sind Mitvollzieher des Meßopfers, freilich in einer abhängigen Weise von dem Vollzug, den der Priester leistet.

Die Teilnahme am Meßopfer gipfelt normalerweise im heiligen Mahl, der Kommunion. Wer immer es ermöglichen kann, sollte an diesem Mahl teilnehmen. Man sollte sich nicht grundlos von diesem erhabenen Mahl ausschließen, denn auch hier stellt sich ja die Gemeinschaft der Kirche dar. Kommunion ist natürlich zuerst Gemeinschaft mit Christus, aber auch Gemeinschaft derer, die vom selben Tische das wunderbare, geheimnisvolle Brot empfangen. Die Mahlgemeinschaft krönt die Opfergemeinschaft, und durch diese beiden Formen der Gemeinschaft, das Opfer und das Mahl, wird die Gemeinschaft unter den Teilnehmern gestärkt. Weil sie alle von dem einen Tische sich nähren, deswegen sind sie auch untereinander verbunden.

Drittens: Die Kirche stellt sich dar als Leidensgemeinschaft. Wenn ihr Haupt, Christus, durch Leiden zur Vollendung kam, dann kann es der Kirche nicht anders geschehen, als daß auch sie durch Leiden zur Vollendung kommen muß. Durch Leiden ist Christus zur Herrlichkeit der Auferstehung gelangt; durch Leiden muß die Kirche zur glorreichen Auferstehung finden. Und weil in dieser Zeitlichkeit die Kräfte des Leidens stärker sind als die Kräfte der Herrlichkeit, wird sich auch in der pilgernden Kirche das Leiden stärker zeigen als die Herrlichkeit.

Die Leiden der Kirche sind mannigfacher Art. Sie kommen von innen und von außen. Von innen kommen die Leiden durch die versagenden Christen, durch die Sünden der Gemeinden, durch das Sich-Verfehlen der Amtsträger. Von außen kommen die Leiden durch Nachstellungen, Schmähungen, Verfolgungen. Alle diese Leiden sind, wenn sie richtig getragen werden, Kräfte, welche die Herrlichkeit vorbereiten. Durch sein Leiden am Kreuz hat unser Heiland den Fluch der Sünde überwunden. Durch Leiden, die wir auf uns nehmen, durch unser Leiden an der Kirche und mit der Kirche und in der Kirche, bereiten wir auch in uns die Überwindung des Fluches vor. Das Leiden Christi kommt erst zur Vollendung in den Leiden der Christen. Und deswegen sind die Leiden, die uns treffen als Kirchenglieder, die Malzeichen Christi; wir tragen die Malzeichen Christi an uns. Die Leiden der Christen sind Zeichen der Verbundenheit mit dem leidenden Christus. Es sagt diese Wahrheit niemand besser als der Apostel Paulus, wenn er im 2. Korintherbrief schreibt: „Immerdar werden wir, die wir leben, dem Tode preisgegeben um Jesu willen, damit auch das Leben Jesu an unserem sterblichen Fleische offenbar werde. So ist in uns der Tod mächtig, das Leben aber in euch.“ Und ähnlich im Kolosserbrief: „Nun freue ich mich derweilen für euch. Ich will das an meinem Fleische ergänzen, was an den Leiden Christi noch fehlt, für seinen Leib, die Kirche.“ Aus diesen beiden Stellen erkennen wir, daß das Leiden Christi noch nicht zu Ende ist. An seinem physischen Leibe gewiß, da ist es zu Ende. Als er ausgelitten hatte am Kreuz, da war sein körperliches Leiden zu Ende. Aber sein mystisches Leiden, sein Leiden in seinem mystischen Leibe, das ist noch nicht zu Ende, da steht noch viel aus. Und das muß jeder auf sich nehmen. Und noch etwas: Wenn ich die Leiden, die mir bestimmt sind, geduldig trage, wenn ich sie mit dem Leiden Christi verbinde, wenn ich sie in der Gesinnung Christi auf mich nehme, dann bin ich nützlich mit meinem Leiden für andere. Um meines Leidens willen gibt Gott einem anderen Kraft, seine Leiden zu bewältigen, gibt er ihm Zuversicht und Großmut, seine Leiden zu tragen, gibt er ihm Geduld, um seinen Leiden nicht zu erliegen. Welch ergreifende Wahrheit über die Leidensgemeinschaft, über die Leidenssolidarität in unserer Kirche! Leiden schafft Werte. Ein Satz, der von denen, die vom Christentum nichts verstehen, verlacht wird. Aber im Christentum gilt der Satz: Leiden schafft Werte. Werte für einen selbst und Werte für andere.

Die Einheit der Kirche drückt sich viertens aus in der Gehorsamsgemeinschaft. Keine Gemeinschaft kann bestehen ohne das Funktionieren von Befehl und Gehorsam. Eine Familie, eine Schulklasse, eine Gesellschaft, unweigerlich sind in jedem menschlichen Gefüge ein Befehl und ein Gehorsam notwendig, um zu dem gemeinsamen Ziele hinzugelangen. Auch in der Kirche müssen Befehl und Gehorsam funktionieren. Die Befehlenden in der Kirche haben ja die Vollmacht Christi. Sie sind von Christus gesandt, um die ihnen Anvertrauten zu seiner Herrlichkeit zu führen; und die Anvertrauten haben die heilige Pflicht, den Befehlenden in allem, was sie recht gebieten, zu gehorchen. Das Gefüge von Befehl und Gehorsam kann freilich durcheinandergeraten. Zwei Gefahren machen sich bemerkbar. Einmal die Gefahr von oben. Es kann sein, daß Befehlende ihre Vollmacht mißbrauchen. Es kann sein, daß sie sie mißverstehen. Es kann sein, daß sie, ungenügend geschult und charakterlich schwach, ihre Vollmacht nicht in der rechten Weise gebrauchen. Die zweite Fehlerquelle ist von unten. Es kann geschehen, daß Selbstsucht und Hochmut sich aufmachen, den Befehlenden den Gehorsam zu versagen, daß sie, auch dann, wenn sie recht gebieten, sich nichts sagen lassen wollen, daß sie, wie man heute sagt, nach ihrem eigenen Gewissen handeln. Ja, meine lieben Freunde, natürlich muß man nach seinem Gewissen handeln. Aber das ist ja nun gerade die Eigenschaft des katholischen Gewissens, daß ihm aufgetragen ist, sich unter die Befehle der Hierarchie zu beugen. Unser Gewissen gebietet uns, in der Kirche zu sein und zu bleiben, die ein solches Gefüge hat, daß es Hierarchen gibt, welche den Gläubigen Gesetze und Weisungen geben. Also der Grundsatz ist unumstößlich. In der Kirche muß das Gefüge von Befehl und Gehorsam intakt bleiben, sonst gibt sich die Kirche selber auf, sonst ist sie keine Gehorsamsgemeinschaft mehr.

Eine Grenze für den Gehorsam kann es nur da geben, wo die Oberen unrecht gebieten, wo sie nicht aufbauen, sondern niederreißen. In den Vollmachtserteilungen, welche die Päpste ihren Legaten, ihren Gesandten gegeben haben, heißt es immer, die Gesandten sollen an der Stelle des Papstes handeln, sie sollen aufbauen und niederreißen. Aufbauen, was aufzubauen ist, das Gute, niederreißen, was niederzureißen ist, nämlich das Schlechte und Böse. Solange das geschieht, kann es kein katholisches Gewissen geben, das gegen die Hierarchen aufsteht. Die Grenze des Gehorsams wird nur da erreicht, wo Vollmachtsträger ihre Gewalt mißbrauchen, wo sie der Kirche Schaden statt Nutzen zufügen. Jeder wird einmal beim Gericht verantworten müssen, warum er gehorsam gewesen ist, aber auch und erst recht, warum er glaubte, nicht gehorsam sein zu müssen. Im Gericht wird Gott Herz und Nieren prüfen, unsere Argumente anhören und unser Gewissen sprechen lassen. Dann wird es sich zeigen, ob wir im Einklang mit Gottes Willen waren oder im Widerspruch.

Zweimal in der heiligen Messe, in jeder heiligen Messe, meine lieben Freunde, betet die Kirche, beten wir um Einheit und Frieden. Nach dem Sanktus im ersten Gebet, das mit „Te igitur“ beginnt, flehen wir um Einheit und Frieden, und vor der heiligen Kommunion ruft jeder einzelne, jetzt auf einmal mit „ich“ beginnend, darum, daß Gott seiner Kirche Einheit und Frieden schenken möge. Das muß unser aller Streben sein, Einheit und Frieden zu bewirken, Einheit und Frieden zu erhalten, soweit immer es möglich ist. Der Friede und die Einheit müssen allerdings in der Wahrheit und in der Redlichkeit der Lebensführung bestehen. Wer heterodoxe Vorstellungen in die Kirche eintragen will, wer heterodoxe Lebensweisen in der Kirche beheimaten will, dem muß ein entschiedenes Nein entgegengesetzt werden. Frieden und Einheit ja, aber nicht um jeden Preis! Wenn immer die Wahrheit auf dem Spiele steht, dann muß um der Wahrheit willen demjenigen widersprochen werden, der die Einheit stört.

Am Fronleichnamsfeste betet die Kirche in ergreifender Weise: „Herr, schenke deiner Kirche Einheit und Frieden, die unter diesen geheimnisvollen Gaben bezeichnet sind.“ Ja, die eucharistischen Gaben bezeichnen Einheit und Frieden. Einheit, weil das Brot aus vielen Körnern zusammengesetzt ist und der Wein aus vielen Trauben, und Frieden, weil eben das Mahl ein Friedensmahl ist, weil das göttliche Mahl eingesetzt ist, um den Frieden zwischen den Gläubigen auszudrücken und zu bewirken.

Möchten wir, meine lieben Freunde, im Glauben, in der Gebets- und Opfergemeinschaft, im Leiden und im Gehorsam Einheit und Frieden in der Kirche bewirken und ihnen dienen.

Amen.

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