Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
5. Juni 1994

Das falsche Verständnis des Bußsakramentes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Vor geraumer Zeit hatten wir uns vorgenommen, uns mit der Studie „Lehrverurteilungen – kirchentrennend?“ zu beschäftigen. In diesem sogenannten Konsenspapier haben katholische und protestantische Theologen sich zusammengetan in der Absicht, die bestehenden Unterschiede, Gegensätze und Klüfte zwischen katholischer Lehre und protestantischer Meinung auszuräumen. Wir haben an den vergangenen Sonntagen erkannt, daß die mit dieser Aufgabe Befaßten ihr nicht gerecht geworden sind. Sie haben weder die katholische Lehre allseitig, umfassend und korrekt dargestellt, noch die protestantische Auffassung genau und treffend zur Aussage gebracht.

Bei wenigen Gegenständen dieses Papiers ist das verzweifelte Bemühen, eine Harmonie herzustellen, so deutlich zu erkennen wie bei der Lehre vom Bußsakrament. Denn der Protestantismus kennt kein Bußsakrament. Aber die katholische Kirche lehrt ein Bußsakrament. Wir wollen uns heute mit diesem Gegensatz in der Lehre befassen.

Das Bußsakrament ist jenes Sakrament, in welchem dem reuigen Sünder, der seine Sünden bekennt und Genugtuung leisten will, von der Kirche die Sünden nachgelassen werden. Mit dem Sakrament der Buße eng verknüpft ist die Tugend der Buße. Die Tugend der Buße ist jene sittliche Tugend, die den Willen geneigt macht, sich von der Sünde abzuwenden und Genugtuung für die Sünde zu leisten. Das Bußsakrament verlangt vom Pönitenten Reue, Vorsatz, Bekenntnis und Genugtuung. Diese Handlungen des Büßers entspringen der Tugend der Buße. Deswegen sind Tugend der Buße und Bußsakrament eng miteinander verbunden.

Wer nun die soeben genannten Haltungen und Handlungen erbringt, dem werden von der Kirche die Sünden nachgelassen. Der Priester besitzt die Absolutionsvollmacht. Wenn er die entsprechenden Worte über den Pönitenten spricht, dann werden in diesem Augenblick die Sünden vergeben. Das aktive Nachlassen ist die causa, die Ursache für das passive Nachgelassenwerden.

Die Kirche begründet die Existenz des Bußsakramentes und das Vorhandensein der priesterlichen Lossprechungsgewalt im Rückgriff auf die Heilige Schrift. Dem Apostel Petrus, dem Ersten der Apostel, hat der Herr bei Cäsarea Philippi die Schlüsselgewalt übertragen. „Dir will ich die Schlüssel des Himmelreiches geben.“ Schlüsselgewalt besitzt der Hausverwalter; nicht der Pförtner, sondern der Hausverwalter ist damit gemeint. Wer die Schlüssel zu einem Hause besitzt, der kann einlassen oder nicht einlassen. Nun ist aber für den Eintritt in das Himmelreich nichts hinderlicher als die Sünden. Wer also einlassen können soll, der muß die Gewalt haben, von der Sünde zu befreien. Mithin ist in der Schlüsselgewalt die Vollmacht, Sünden nachzulassen, enthalten.

Der Herr hat seine Rede bei Cäsarea Philippi fortgesetzt. Er hat zu Petrus gesagt: „Alles, was du auf Erden binden wirst, das wird auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein.“ Hier ist von der Gewalt, zu binden und zu lösen, die Rede. Und diese Redeweise hat eine doppelte Bedeutung: Binden und Lösen besagt einmal authentisch – also mit Vollmacht – lehren, erklären, was erlaubt und was unerlaubt ist. Und zum zweiten bedeutet diese Redeweise in die Gemeinde aufnehmen und aus der Gemeinde ausschließen, also in den Bann tun und vom Banne lösen. Es ist das Wesen der Sünde, daß sie im Gnadenbereich von der Gemeinde der Heiligen ausschließt und daß deswegen, wer in die Gnadengemeinschaft der Gemeinde wieder aufgenommen werden will, die Lossprechung erlangen muß.

Aber damit nicht genug. Ganz deutlich hat der Herr am Tage der Auferstehung den Aposteln, allen Aposteln, die Sündenvergebungsgewalt übertragen. Er sprach: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.“ Und er hauchte sie an. „Welchen ihr die Sünden nachlassen werdet, denen sind sie nachgelassen; welchen ihr sie behalten werdet, denen sind sie behalten.“ Der Herr hat ihnen seine Sendung vermacht. Was war seine Sendung? Zu heilen, was verwundet war, zu suchen, was verloren war. Er hat Sünden vergeben dem Gichtbrüchigen, der Frau, die ihn salbte. Diese Sendung übergibt er seinen Jüngern. Sie haben die doppelte Gewalt, Sünden zu vergeben, aber auch Sünden zu behalten. Es ist das eine richterliche Gewalt. Wieso eine richterliche? Zur richterlichen Gewalt gehören drei Elemente, nämlich einmal die richterliche Vollmacht, dann die Kenntnis des Tatbestandes und schließlich das richterliche Urteil. Eben das ist in den Worten des Herrn enthalten. Die Apostel sollen als Richter walten. Sie haben die Vollmacht, Sünden zu vergeben oder auch zu behalten. Sie sollen sich dabei an die objektiven Normen, an das göttliche Gesetz halten; danach haben sie zu beurteilen, ob sie nachlassen können oder ob sie behalten müssen, und natürlich nach dem Gewissenszustand des Sünders, der sich ja anklagt, anklagen muß. Und schließlich geht das Urteil aus dem Munde des Priesters hervor: „Deine Sünden sind dir vergeben“; oder: „Die Lossprechung kann dir nicht gegeben werden, weil du nicht disponiert bist, weil dir die Voraussetzungen fehlen, um die Lossprechung zu empfangen.“ Auch das ist ein Urteil des Richters. Das ist kurz zusammengefaßt die Lehre der Kirche vom Bußsakrament.

Was lehrt dagegen Luther und sein Anhang? Wie fast immer hat er sich auch hier gewandelt. Es gibt kaum eine Äußerung von Luther, der Sie nicht eine Gegenäußerung entgegensetzen können. Diese Verwirrung in seinen Schriften wird von seinen Anhängern freilich selten zugegeben. Zunächst also hat er ein drittes Sakrament – neben Taufe und Abendmahl – eingeräumt. Im Augsburger Bekenntnis ist tatsächlich die Buße als Sakrament bezeichnet. Aber diese Ansicht hat er später fallenlassen. Er mußte sie fallenlassen. Warum? Weil das Zentrum seiner theologischen Aufstellungen der Rechtfertigungsbegriff ist, die Frage, wie der Mensch aus einem Sünder ein Begnadeter wird. Das nennt man Rechtfertigung. Und sein Rechtfertigungsbegriff besagt: Die Sünden werden nicht wahrhaft nachgelassen, sie werden zugedeckt. Sie werden nicht angerechnet, aber eine echte Verwandlung eines Sünders in einen Geheiligten findet nach Luthers Ansicht nicht statt. Die sogenannte Sündenvergebung ist eine Anrechnung der Verdienste Jesu, eine Nichtanrechnung der eigenen Schuld und ein Zudecken der Sünden.

Infolgedessen kann es auch keine sakramentale Sündenvergebung geben. Wenn einer über den anderen spricht: „Deine Sünden sind dir vergeben,“ dann ist das nach protestantischer Auffassung eine bloße Erklärung, daß dem Betreffenden von Gott, also nicht durch die kausale Tätigkeit der Kirche, die Sünden nachgelassen sind. Sündenvergebung geschieht nach protestantischer Ansicht durch Erinnerung an die Taufe und eine Erneuerung des bei der Taufe erbrachten Fiduzialglaubens. Wer erschrickt angesichts seiner Sünden und sich an die Verheißung der Sündenvergebung in der Taufe erinnert und wer gleichzeitig auf die Vergebung Gottes baut mit seinem Fiduzialglauben, dem geschehen Nichtanrechnung der Sünde, Zudeckung der Sünde, Anrechnung der Verdienste Jesu.

Das ist natürlich ein wesentlicher Unterscheid zur katholischen Lehre. Denn damit wird das Bußsakrament fundamental geleugnet, wird die Sündenvergebungsvollmacht der Kirche geleugnet, wird die Bedeutung des priesterlichen Tuns geleugnet. Was nach protestantischer Auffassung der protestantische Religionsdiener in der etwa vorgenommenen Einzelbeicht tut, das ist eine nuda declaratio,  also eine bloße, eine nackte Erklärung, keine wirksame Sündenvergebung, kein kausales Geschehnis in der Seele des Pönitenten.

Aus dieser Gegenüberstellung, meine lieben Freunde, mögen Sie erkennen, daß von der katholischen Lehre zur protestantischen Auffassung eine Brücke nicht führt. Wer behauptet, hier bestünden keine kirchentrennenden Gegensätze, der hat entweder die katholische Lehre nie verstanden, oder er hat sie abgeworfen. Das letztere ist heute häufig zu beobachten. Sie alle wissen, daß das Bußsakrament ein verlorenes Sakrament ist, daß es in der katholischen Kirche eine verbreitete Unbußfertigkeit gibt, daß die Menschen vermessen sind und meinen, sie würden nicht mehr sündigen, oder sie bedürften der Lossprechung nicht mehr. Das Bußwesen in unserer Kirche ist zusammengebrochen. Das müssen die Herren Bischöfe endlich einmal anerkennen und zugeben. Sie müssen endlich einmal die Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen! Aber nein, das tun sie nicht. Sie machen sich etwas vor und sprechen „business as usual“. Es geht so weiter wie bisher, als ob alles in Ordnung wäre, alles okay. So ist es aber nicht. Es ist nichts mehr in Ordnung! Und die tiefste Unordnung sehe ich im Bußwesen. Das Bußsakrament ist das verlorene Sakrament. Daraus mögen Sie das ganze Ausmaß der Zerrüttung unserer Kirche erkennen.

Wenn man freilich von dem heutigen Zustand ausgeht, kann man sich mit den Protestanten leicht einigen; denn faktisch ist ja das Bußsakrament in unserer Kirche weithin abgeschafft. Wir sind uns also in dieser Hinsicht mit den Protestanten einig; aber eben nur dadurch, daß wir den katholischen Glauben nicht mehr praktizieren und daß viele ihn aufgegeben haben.

Nicht so, meine lieben Freunde, nicht so die hier vor mir Sitzenden. Ich weiß, daß ich hier eine Elite vor mir habe, daß vor mir liebe Menschen sitzen, die ihre Sünden erkennen und bekennen. Ich bin stolz auf Sie, meine lieben Freunde, und ich bin dankbar für Sie, weil ich weiß, daß Sie noch echte katholische Christen sind, die am heiligen Glauben festhalten und ihn auch betätigen in ihrer Bußfertigkeit und im Empfang des Bußsakramentes. Dafür sei Ihnen gedankt.

Amen.

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