Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
4. August 1991

Die Einwände des Unglaubens

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Vor vielen Sonntagen nahmen wir uns vor, die Frage zu beantworten: „Was dünkt euch von Jesus? Wessen Sohn ist er?“ Wir haben die Antwort vernommen, die das gläubige Bewußtsein der Christenheit auf diese Frage zu geben weiß: Jesus ist der Messias, der verheißene Erlöser, der Sohn Davids; er ist der Menschensohn, den Daniel in seiner Vision geschaut hat. Er ist der Gottessohn, in ihm hat die Gottheit sich auf diese Erde begeben, eine menschliche Natur angenommen und in dieser Natur gelebt und gewirkt.

Gegen diese genuine Lehre erhebt sich seit etwa zweihundertfünfzig Jahren der Unglaube. Sogenannte Gelehrte, auf eigene Forschung gestützt, im Banne weltanschaulicher Vorurteile, aufgrund von aprioristischen Voraussetzungen bieten einen anderen Jesus, als die Kirche ihn immer gelehrt hat. Es hat in Deutschland begonnen mit dem Hamburger Professor Hermann Samuel Reimarus. Dieser Mann schilderte Jesus etwa folgendermaßen: Er war ein Jude wie andere Juden, hat die partikularistische, also auf das Judentum beschränkte Erlösungshoffnung geteilt, hat sich als den Erlöser ausgegeben, aber er ist gescheitert. Seine Jünger wollten nicht mehr zu ihrem Beruf zurückkehren, so haben sie seinem Tode eine gesteigerte Bedeutung gegeben, den Leichnam gestohlen und die Kunde ausgegeben, er sei auferstanden. So sei das Christentum entstanden. Dieser selbe Reimarus hat sich zeitlebens als frommer evangelischer Christ ausgegeben. Er besuchte den Gottesdienst und nahm das Abendmahl. Ein wenig später trat in Tübingen der evangelische Theologe David Friedrich Strauß auf. Er erklärte die Entstehung des Christentums aus Mythen und Sagen. Mythen sind Geschichten, erfundene Geschichten selbstverständlich, von Göttern, die auf die Erde kommen und hier auf der Erde ihre Werke verrichten. Diese Geschichten, diese Sagen habe man auf Jesus übertragen und so aus dem harmlosen Nazaräer einen göttlichen Christus gemacht. Das Buch von David Friedrich Strauß, „Das Leben Jesu“, in dem er diese Thesen vortrug, hatte eine ungeheure Wirkung. Seine Wirkung ist, wie wir gleich sehen werden, heute noch nicht beendet.

Nicht wenig davon ab liegt die Hypothese des Thüringer evangelischen Theologen Ferdinand Christian Baur. Er erklärte die Entstehung des Christentums folgendermaßen: Es gab in der Urchristenheit zwei Parteien, die Petrus-Partei und die Paulus-Partei. Die Petrus-Partei war echt jüdisch, hing dem jüdischen Partikularismus an, die Paulus-Partei lehnte das Gesetz ab und wandte sich an die Heiden und vertrat den Universalismus, also die allgemeine Geltung des Christentums. Aus der These (Petrus-Partei) und der Antithese (Paulus-Partei) sei die katholische Synthese entstanden – man merkt, hier steckt der Herr Hegel dahinter! –, die man im Markus- und vor allem im Johannesevangelium vorfindet. Das Evangelium der Petrus-Partei sei das des Matthäus, das Evangelium der Paulus-Partei das des Lukas. So erklärt David Ferdinand Christian Baur die Entstehung des Christentums.

Die letzte Folgerung zog dann Bruno Bauer, ebenfalls ein evangelischer Theologe. Er begann mit der Leugnung der Geschichtlichkeit des Johannes-Evangeliums, dehnte sie dann aus auf die drei anderen Evangelien und kam am Schluß dazu, die Existenz Jesu überhaupt zu leugnen: Jesus hat niemals gelebt. Es habe Vorstellungen von einem Kult-Gott gegeben, und diese Idee von einem Kult-Gott habe man personifiziert in der Gestalt des erfundenen Jesus von Nazareth.

Damit war die Entwicklung nicht abgeschlossen. Im vorigen Jahrhundert war maßgebend der sogenannte „liberale“ Jesus. Eine große Anzahl evangelischer Theologen vertrat den liberalen Jesus. Wie sieht der aus? Nun, das ist ein hochstehender Mensch, ein Muster der Humanität, der Tapferkeit, ein edler, ein feiner, ein erhabener Mensch, aber eben ein Mensch, den man psychologisch zu analysieren versucht, ein Mensch wie andere, aber eben mit einem einzigartigen Gottesverhältnis. Bei diesem Menschen geht es ganz natürlich zu. Alles, was übernatürlich von Jesus ausgesagt wird, ist erfunden. Das ist der liberale Jesus der protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts.

Dieses Jesusbild wurde wieder abgelöst vom „eschatologischen“ Jesus. Der Vater dieses eschatologischen Jesus ist der evangelische Theologe Johannes Weiß. Er stellt sich Jesus etwa folgendermaßen vor: Jesus ist aufgetreten, er ist selbstverständlich eine historische Persönlichkeit, er hat das Reich Gottes verkündet, aber er hat sich getäuscht. Das Reich Gottes ist nicht gekommen. Um es herbeizuzwingen, hat er sterben wollen, hat er seinen Tod gewissermaßen als ein Sühneopfer für das Kommen des Reiches Gottes dargebracht und erwartet, daß er dann nachher, nach seinem Tode, in der Parusie wiederkommen werde. Auch dies ist nicht eingetreten. Das Christentum beruht also auf eine Täuschung, auf einer getäuschten Erwartung. Dieses Jesusbild wurde auch von dem bekannten evangelischen Theologen und Arzt Albert Schweitzer vertreten. Wir haben in Mainz eine Albert-Schweitzer-Straße.

Ein weiteres Jesusbild ist das der Religionsgeschichte. Ich nenne Namen wie Bousset, Greßmann und Gunkel. Man sagt, der Jesus, wie er in den Evangelien geschildert wird, ist entstanden aus verschiedenen Einflüssen. Da sind alttestamentliche Vorstellungen, da sind Gedanken aus den hellenistischen Mysterien und aus der Gnosis, da sind orientalische Mythen von den sterbenden und auferstehenden Göttern zusammengefaßt. In jedem Falle sind die Berichte der Evangelien ganz und gar unzuverlässig, übermalt. Der historische Jesus ist ganz anders gewesen als der Christus des Glaubens.

In unserem Jahrhundert ist der evangelische Theologe Rudolf Bultmann in Marburg aufgestanden. Dieser Mann hat einen ungeheuren Einfluß im Bereich der protestantischen Theologie erreicht. Was tut Rudolf Bultmann, der vor wenigen Jahren erst gestorben ist? Er entfaltet ein Programm der Entmythologisierung. Er knüpft also an David Friedrich Strauß an. Er sagt, in den Evangelien haben wir Mythen vor uns. Mythen sind erfundene Geschichten von Göttern, die auf Erden erscheinen, von Wundern und außergewöhnlichen Ereignissen. Das alles sind Mythen. Wenn man zu Jesus vordringen will, muß man sich von diesen Mythen befreien. Wir wissen von Jesus – nach Bultmann – nur zwei Dinge: daß er gelebt hat und daß er gestorben ist; alles andere sei unsicher, ungeschichtlich. Er zählt dann immer auf, was alles nach seiner Meinung erledigt ist: Erledigt ist die Jungfrauengeburt, erledigt ist die Auferstehung, erledigt ist die Himmelfahrt. Das vertritt der evangelische Theologe Rudolf Bultmann, und in seinem Gefolge vertreten es viele andere evangelische Theologen.

Wir, meine lieben Freunde, werden uns fragen: Warum bleiben diese Menschen Christen? Warum bezeichnen sie sich weiter als Christen? Warum bleiben sie in der Kirche? Warum stiften sie nicht eine neue Religion? Die Erklärung auf diese Fragen lautet folgendermaßen: Viele dieser eben genannten Männer, und auch zahlreiche ungenannte, die ich übergangen habe, haben eine Anhänglichkeit an das Christentum, das ist überhaupt nicht zu bestreiten. Sie glauben, daß das Christentum einen hohen Wert hat, und sie möchten diesen Wert erhalten. Aber da sie ihn nicht in dem kirchlichen Sinne erhalten können, da sie die Dogmen, die Glaubenssätze der Kirche verwerfen, deuten sie den Glauben um, interpretieren sie die Berichte der Evangelien nach ihren Ansichten. Nach Rudolf Bultmann sind die Berichte der Evangelien völlig ungeschichtlich. Es handelt sich hier nur um Bedeutsamkeiten, und diese Bedeutsamkeiten sollen uns dazu helfen, zur Eigentlichkeit der Existenz zu kommen, sollen unser Selbstverständnis ändern, vor allem die eschatologischen, also auf die Endzeit bezogenen. Die Texte des Neuen Testaments wollen eine Forderung sein, unser Selbstverständnis zu ändern. Der Mythos soll also interpretiert, nicht eliminiert werden. Alle diese Berichte der Evangelien, die geschichtlich wertlos sind, haben einen Appellcharakter, sie wollen uns zur Eigentlichkeit der Existenz führen. Es besteht gar kein Zweifel, daß hier die Botschaft des Evangeliums radikal verfälscht wird. Hier ist das Ende des genuinen Christentums gekommen.

Meine lieben Freunde, ich würde von diesen Erscheinungen nicht sprechen, wenn sie auf den protestantischen Bereich beschränkt blieben. Aber seit etwa 1965, seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, haben diese Thesen immer mehr von katholischen Theologen Besitz ergriffen. Wenn Sie einmal die Bücher vergleichen, die dieselben Theologen vor 1965 geschrieben haben und die sie 1985 schreiben, erkennen Sie den fundamentalen Abfall von der damaligen Lehre. Das geht so weit, daß es heute in Amt und Würden befindliche katholische Theologen gibt, die das Christentum radikal aushöhlen. Um einen Namen zu nennen: In Saarbrücken, an der Universität Saarbrücken lehrt der innerlich längst vom katholischen Glauben abgefallene Gotthold Hasenhüttl. Was er vertritt, ist mehr oder weniger ein Atheismus. Er lehrt unbeanstandet, er bildet katholische Religionslehrer aus, und das unter den Augen des zuständigen Bischofs, des Bischofs von Trier. Das muß man wissen,  meine lieben Freunde, wenn man die Lage in der Kirche in der Gegenwart verstehen will. Wenn wir von Abfall hören, von der Aufgabe des Priesteramtes, von dem Leerwerden der Priesterseminare, dann braucht uns das überhaupt nicht zu wundern. Solange solche Persönlichkeiten auf Lehrstühlen katholischer Theologie sitzen und die heranwachsenden Priester und Religionslehrer vergiften, solange ist ein Wiederaufstieg unserer Kirche ausgeschlossen. Wenn die Wende einmal kommt, sie muß kommen, so wie auf die Nacht der Tag folgt, wenn die Wende einmal kommt, wird es nur unter größten Verlusten abgehen. Aber das darf die Führung der Kirche, das darf den Heiligen Vater nicht abhalten, die Wende herbeizuführen, wenn die Kirche das bleiben will, was sie sein soll, nämlich die Säule und die Grundfeste der Wahrheit, wenn sie an dem Christus des Glaubens festhalten will, dem Sohne Gottes. Denn alles andere, was diese eben genannten theologischen Lehrer vortragen, ist Gerede. Wer von Christus redet, ohne seine Gottheit und Gleichwesentlichkeit mit dem Vater zu bekennen, der hat um ihn herumgeredet. Wir wollen keinen anderen Christus als den Christus der Dogmen, als den Christus des Glaubens, als den Christus der kirchlichen Lehre. Wer sich aber von dieser Lehre trennt, wer auf eigene Faust es unternimmt, Jesus zu bestimmen, der kommt dann eben zu dem Ergebnis, Jesus sei ein Jude wie alle anderen gewesen oder ein Sozialrevolutionär oder ein politischer Führer oder ein Psychopath. Alle diese Ansichten sind vertreten worden und werden vertreten.

Nein, meine lieben Freunde, es gibt nur die eine Möglichkeit: entweder am Christus der kirchlichen Lehre festzuhalten oder in tausend Irrtümer zu verfallen. Diese eben genannten Ansichten heben sich zum größten Teil selber auf. Die einen sagen – um ein Beispiel zu erwähnen –, ein Mensch, Jesus von Nazareth, ist künstlich hochstilisiert worden, man hat ihn vergöttlicht, indem man ihm eben Dinge und Taten zugeschrieben hat, die er gar nicht begangen hat. Andere sagen genau das Gegenteil: Nein, ein Gott ist vermenschlicht worden. Man hat eine Vorstellung von einem Kultgott gehabt, und diese Vorstellung hat man in eine Person gefaßt, in eine menschliche Person, nämlich in Jesus von Nazareth. Es ist klar, daß diese beiden Konzeptionen sich fundamental widersprechen. Aber so ist es eben, wenn man den Boden der kirchlichen Lehre verläßt.

In Kopenhagen, in der Frauenkirche, steht die wunderbare Christusstatue von Thorwaldsen. Thorwaldsen war ein großer Bildhauer des vorigen Jahrhunderts. Und es kam einmal vor einiger Zeit ein Kunstgeschichtler nach Kopenhagen, um diese Statue zu betrachten. Als er davor stand, sagte er zu einem Begleiter, sie mache auf ihn gar keinen Eindruck. „Ja“, sagte sein Begleiter, „Sie müssen sich niederknien und die Statue von unten betrachten.“ So ist es,  meine lieben Freunde. Wenn ich den eigenen Verstand zum Richter über das mache, was Christus gewesen sein kann, was er getan haben mag und was er geredet haben darf, dann wird in ihm auch ein Christusbild entstehen, wie es meinem Sinne entspricht. Wenn ich aber ohne Voraussetzung bereit bin, auf das zu hören, was Gott uns mitteilen will, wenn ich nicht dem Dogma, dem aprioristischen Dogma, dem falschen Dogma der Immanenz huldige, daß nämlich diese Welt geschlossen ist und ein Einbruch des Göttlichen in diese Welt unmöglich ist, wenn ich diesem Dogma nicht huldige, dann kann ich niederknien und sagen zu unserem Herrn und Heiland: „Mein Herr und mein Gott.“

Amen.

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