Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
16. Juni 1991

Die historischen Zeugen der Ereignisse

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Vor wenigen Tagen besuchte mich ein Priesterkandidat aus dem Mainzer Priesterseminar, und er erklärte mir: „Ich weiß nicht, ob ich Priester werden kann. In meinem heutigen Zustande könnte ich es nicht. Ich habe keine Orientierung mehr.“ Das Wort habe ich mir vor allen anderen gemerkt: „Ich habe keine Orientierung mehr.“ Das heißt, der junge Mann weiß nicht mehr, wo ein und wo aus. Er hört dauernd Meinungen, widersprechende Meinungen von verschiedenen Theologen. An welche soll er sich halten? Er hat keine Orientierung mehr, d.h. er ist unsicher, was zu glauben ist, und wenn man keine Orientierung hat, kann man nicht Priester werden. Worauf soll man sich denn gründen? Auf Meinungen kann man ein priesterliches Leben nicht aufbauen.

Wir sind dabei,  meine lieben Freunde, diese Orientierung zu suchen. Wir wollen uns nicht von den verwirrenden Meinungen der halb- und viertelsgläubigen Theologen ins Bockshorn jagen lassen, sondern wir wollen Christus erkennen, wie er wirklich war und wie er in den Evangelien uns bezeugt wird. Das ist eben jetzt gerade die Frage: Sind die Evangelien ein Gemisch von geschichtlichen Tatsachen und von Erfindungen, sind in ihnen Ideen aus geschichtlichen Erfahrungen, aus religiösen Erwägungen, aus alttestamentlichen Weissagungen zusammengefaßt, oder stehen wir hier auf dem Felsengrund der Wirklichkeit, der geschichtlichen Realität? Und diese Theologen, die den jungen Mann verwirren, die meinen eben: So ist es. Es handelt sich bei den Evangelien um eine Synthese von geschichtlichen Fakten und legendären Erzeugnissen der wuchernden Phantasie der Jünger.

Die Tatsache, daß viele, sehr viele sich widersprechende Theorien über Jesus, sein Leben, seine Worte, seine Taten vorgebracht wurden, sollte uns schon warnen. Die Wahrheit ist eindeutig. Nur subjektive Konstruktionen sind mannigfaltig. Der Widerspruch, das Einander-Entgegentreten dieser den Glauben gefährdenden Theologen zeigt, daß man mit Vorsicht diese Meinungen, diese Theorien ansehen muß. Die Vielfalt und Gegensätzlichkeit ihrer Ansichten ist ein Kontra-Indiz gegen die Wahrheit ihrer Aufstellungen. Sie widerlegen sich gegenseitig.

Der erste Einwand, den sie erheben, lautet: Die Evangelien stammen von gläubigen Verfassern, und die gläubigen Verfasser haben ihre gläubige Ansicht von Jesus in sie eingetragen. Sie haben aus dem geschichtlichen Jesus den literarischen Jesus des Evangeliums geschaffen.

Was ist dazu zu bemerken? Es ist keine Frage, daß die Verfasser der Evangelien gläubige Männer waren. Diese Tatsache hat zur Folge, daß sie sich bei Jesus von Nazareth nicht um seine biographischen Daten kümmern, daß sie zum Beispiel nicht sagen, wie er aussah, wie groß er war, welche Farbe seine Augen hatten und seine Haare, sondern daß sie sich bei der Darstellung des Lebens Jesu auf das beschränken, was für die Heilsbotschaft wichtig und für die Erlösung wirksam war. Sie wählen aus, und zwar wählen sie das aus, was für unser Heil bedeutsam ist. Daß sie gläubig waren, kann man ihnen nicht zum Vorwurf machen; andere gibt's eben nicht, andere Anhänger Jesu, als gläubige. Und der Ort, wo man Jesus begegnet, ist immer entweder der Glaube oder der Unglaube, der Unglaube, der sich mit vorgefaßten Meinungen an Jesus herantastet, nämlich daß alles in diesem Leben natürlich zugegangen sei und nichts Übernatürliches passiert sein könne, oder der Glaube, der sich auf den Boden überlieferter Tatsachen stellt. Denn die Evangelisten sind an den Tatsachen, sind an der Wirklichkeit der Geschehnisse, die sie von Jesus berichten, interessiert. Wie sagt der Evangelist Lukas im Anfang seines Buches: „Ich habe mich entschlossen, allem von den ersten Anfängen an sorgfältig nachzugehen und es für dich, edler Theophilus, der Reihe nach niederzuschreiben, damit du dich von der Zuverlässigkeit der Lehren, über die du unterwiesen worden bist, überzeugen kannst.“ Er hat also Forschungen betrieben; er ist allem, was er gehört und gelesen hat, sorgfältig nachgegangen, und er will die Zuverlässigkeit der Verkündigung erweisen. Das kann man natürlich nur, wenn man keine Märchen erzählt und wenn man keine Legenden erfindet und wenn man nicht Lügen nachläuft. Ähnlich heißt es im 2. Petrusbrief: „Wir haben uns nicht an ausgeklügelte Fabeln gehalten, als wir euch die machtvolle Ankunft unseres Herrn Jesus kundtaten, sondern wir sind Augenzeugen seiner Erhabenheit gewesen.“ Oder im 1. Johannesbrief: „Was von Anfang an war, was wir gehört und mit eigenen Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände betastet haben, es betrifft das Wort des Lebens. Ja, das Leben ist sichtbar erschienen, und wir sahen es. Wir bezeugen und verkündigen euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns erschienen ist. Was wir gesehen und gehört haben, das also tun wir euch kund.“

Die Evangelisten sind also an der geschichtlichen Wirklichkeit dessen, was sie berichten vor allem und über allem interessiert. Sie haben ja ihr Lebensgebäude auf diese Tatsachen gegründet. Sie haben ihre Traditionen, ihr Vaterland, ihr Volk, ihren Glauben preisgegeben. Sie haben sich in Drangsale und Verfolgungen hineinbegeben. Auch ihre Hoffnungen auf die jenseitige Vergeltung ruhten ja doch nur dann auf einem festen Boden, wenn sie Tatsachen verkündigten. Wie wollten sie denn in den Verfolgungen bestehen, wenn sie Illusionen nachgelaufen wären und Phantasien aufgenommen hätten? Durch Phantasien wird man doch nicht mutig. Aber die Apostel sind mutig geworden nach dem Zusammenbruch am Karfreitag. Der Glaube der Apostel, ihr Mut, ihre Überwindung aller Furcht läßt sich nur erklären, wenn Tatsachen geschehen sind, umwälzende, gewaltige Tatsachen, die ihnen diesen Mut und diese Überwindung der Feigheit verschafft haben. Auch hat diese Umwandlung keine lange Zeit gedauert. Legenden entstehen in langen Zeiträumen. Die Apostel waren aber am Ostermorgen schon überzeugt davon, daß ihr Herr und Heiland lebendig auferstanden ist. Wenige Stunden nach dem Zusammenbruch haben sie die Überzeugung gewonnen: Unser Herr ist der Erlöser und der Heiland; er ist von Gott angenommen, er ist von Gott erhöht worden.

Die Evangelien machen auch in ihrer ganzen Darstellung den Eindruck der Einfalt und der Redlichkeit. Die Evangelisten haben Ehrfurcht vor den Tatsachen. Wenn sie geflunkert hätten, wenn sie sich etwas eingebildet hätten, wie wären sie dazu gekommen, sich selbst so schlecht darzustellen, wie sie im Evangelium wegkommen? Da wird ihre Eifersucht geschildert, ihr Ehrgeiz, ihre Schwäche, ihre Feigheit, ihre mangelnde Glaubenskraft. Das sind alles negative Züge, so etwas erfindet man doch nicht, wenn es nicht Tatsachen gewesen sind. Und gar, wenn man ihren Meister ansieht: Wer hätte die Szene am Ölberg erfunden, wo selbst ihr Herr und Heiland Angst hatte, Angst vor dem Tode, Angst vor dem furchtbaren Schicksal, dem er entgegenging? Das zeigt die Redlichkeit ihrer Darstellung. Das zeigt die Wahrhaftigkeit, mit der sie berichten.

Die Schriftsteller der alten Zeit besaßen nicht die Gabe, lebendige Charaktere dichterisch zu erfinden. Wenn die Dichter Charaktere schilderten, dann waren es immer typische Formen. Und gerade das spricht für die Echtheit der Evangelien; denn hier werden keine Typen geschildert, sondern es werden lebendige Persönlichkeiten aus Fleisch und Blut vorgestellt. Denken Sie an den Petrus: stürmisch, leicht begeistert, unüberlegt, und doch in der Gefahr ängstlich schwankend, verleugnet er seinen Meister in der Nacht des Verrates. Diese Charakterschilderung ist nicht erfunden, sondern dem Leben abgeschaut.

Überall, wo wir die Evangelisten kontrollieren können, und das können wir an vielen Stellen, müssen wir sagen: Sie haben die Wirklichkeit ihrer Umwelt gekannt und nachgezeichnet. Sie wissen von den genealogischen Verhältnissen im Königshaus des Herodes; sie kennen die Funktion des Pilatus; sie erzählen von den jüdischen Parteien, die es damals gab, den Sadduzäern und den Pharisäern. Es ist ihnen bekannt, daß ein Gegensatz bestand zwischen Juden und Samaritern. Sie kennen das Geldwesen; sie wissen, welche Münzen damals in Gebrauch waren. Das sind alles Dinge, die nach wenigen Jahren, und vor allem nach dem Untergang Jerusalems, in Vergessenheit geraten sind und die man nicht aus der Phantasie erzeugen kann. Die Evangelien machen uns den Eindruck der redlichen Schilderung der Wahrheit. Wir stehen hier tatsächlich auf dem Felsengrund der Geschichte.

Das ist deswegen so wichtig,  meine lieben Freunde, weil heute immer wieder gesagt wird: Es kommt nur auf die Bedeutsamkeit an, auf die Bedeutsamkeit dessen, was da berichtet wird. Auf die Bedeutsamkeit der Reden Jesu. Dummes Zeug. Diese Reden sind für mich überhaupt nicht bedeutsam, wenn sie nicht von Jesus von Nazareth, dem erschienenen Gottessohn, stammen. Bedeutsam könnte auch sein, was Günther Grass schreibt oder irgendein anderer Schriftsteller. Das kann ja auch für mich bedeutsam werden. Aber mein Leben darauf bauen, mich einlassen, ein Priesterleben darauf bauen, das kann nur derjenige, der von der Wirklichkeit dieser Berichte überzeugt ist, der weiß, hier steht er auf geschichtlichem Boden. Die Reden und die Taten Jesu sind deswegen bedeutsam, weil sie wirklich geschehen sind. Die Evangelien sind deswegen bedeutsam, weil sie Geschichte berichten. Daran wollen wir uns halten,  meine lieben Freunde, und uns nicht irremachen lassen. Eure unglücklichen Kinder und Enkelkinder, die diese verkehrten Aufstellungen über sich ergehen lassen müssen, diese eure Kinder und Kindeskinder sollt ihr belehren, sollt sie stärken, sollt sie festigen im heiligen katholischen Glauben, der nicht eine legendäre Mythe ist, sondern der auf dem Felsengrund geschichtlicher Wirklichkeit ruht. Einen anderen Grund kann niemand legen, als der gelegt ist, nämlich in Jesus Christus, dem wahrhaft erschienenen Gottessohn, dem Jesus von Nazareth, dem Christus Gottes, dem gestorbenen, ins Grab gelegten, auferweckten und erhöhten Herrn, unserem Heiland Jesus Christus.

Amen.

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