Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
23. August 1987

Die zwei Gewalten in Staat und Kirche

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Zwei Gewalten auf Erden hat Gott die Sorge um das Menschengeschlecht anvertraut, der staatlichen Gewalt und der kirchlichen Gewalt. Beide Gewalten haben ihren Ursprung in Gott. Christus hat die Kirche gestiftet, und Gott hat die Notwendigkeit einer Autorität in der Gesellschaft in die menschliche Natur hineingelegt und damit zumindest mittelbar die staatliche Gewalt begründet.

Vom Ursprung der staatlichen Gewalt ist die jeweilige Übertragung zu unterscheiden. Bei der Übertragung wirken die Menschen mit. Sie wählen einen Fürsten, einen Herzog, einen König, oder sie küren einen Präsidenten. Das bedeutet nicht, daß die Gewalt, die der staatlichen Autorität eigen ist, im Volke ihren Ursprung hat. Das bedeutet nur, daß die von Gott stammende Gewalt der Person übertragen wird, die das Volk wählt. Also: Ursprung der Gewalt und Übertragung derselben sind notwendig zu unterscheiden.

Die beiden Gewalten, die auf Erden bestehen, haben verschiedene Ziele. Der Staat ist die Anstalt, die das zeitliche Wohl des Menschen zu besorgen hat. Den Menschen das Leben erhalten, für Nahrung, Wohnung und Kleidung sorgen, das ist dem Staat aufgetragen. Die Kirche hat das ewige Wohl des Menschen zu besorgen. Sie hat die Aufgabe, den Menschen zum Himmel zu führen. Es ist nicht – darüber bestehen Mißverständnisse – die Aufgabe der Kirche, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Das ist Sache des Staates. Da verwechselt man die Funktionen, wenn man der Kirche die Aufgabe zuweist, die Menschen in Arbeit und Brot zu bringen.

Staat und Kirche sind nach dem Ursprung von Gott gegründet, aber sie haben verschiedene Ziele. Sie unterscheiden sich auch in anderer Weise, denn es gibt nur eine Kirche, nur eine wahre, von Christus gestiftete Kirche, aber es gibt viele Staaten. Es gibt viele Völker, aber sie alle haben ihre Heimat in der einen Kirche. Die Kirche legt sich bezüglich der Staatsform nicht fest. Für die Kirche ist jede Staatsform erträglich, wenn sie die Menschenrechte gewährleistet. Ob es eine Monarchie oder eine Republik, eine parlamentarische oder eine unmittelbare Demokratie ist, die Kirche erhebt so lange keinen Einspruch gegen eine Staatsform, als die Sorge für das Gemeinwohl von diesem Staate gewährleistet wird.

Auch die Diktatur kann eine erlaubte Form des Staates sein. Unter Umständen, die es nicht anders gestatten, kann es notwendig sein, einen Diktator einzusetzen. Die Kirche hat sich niemals grundsätzlich gegen die Alleinherrschaft ausgesprochen, solange sie von einem Manne ausgeübt ist, der ein Gewissen hat, der das Gemeinwohl besorgt und der auf die Menschenrechte bedacht ist. Es ist also falsch, die Kirche einseitig für die Demokratie in Anspruch nehmen zu wollen. Die Demokratie hat ihre Vorteile, sie hat auch ihre Nachteile, aber es ist in jedem Falle unzutreffend, zu sagen, die Demokratie sei die Staatsform, welche die Kirche als die vorzüglichste oder gar als die allein zuverlässige ausgibt. Das tut sie nicht. Die Kirche bleibt zurückhaltend gegenüber der Staatsform. Sie achtet darauf, daß der Staat das Gemeinwohl besorgt und daß er die Menschenrechte berücksichtigt.

Staat und Kirche sind in ihrem Bereich jeweils die höchste Gewalt. Sie sind societates perfectae, vollkommene Gesellschaften, d.h. sie haben ein eigenständiges Ziel, und sie haben die Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. Staat und Kirche sind auch voneinander unabhängig. Die staatliche Gewalt stammt nicht von der Kirche, und die kirchliche Gewalt stammt nicht vom Staate, sondern sie führen sich beide unmittelbar auf Gott zurück.

Freilich kommt wegen des höheren Zieles, das der Kirche eigen ist, der kirchlichen Gewalt ein gewisser Vorrang zu. Die Kirche hat ja die Menschen zum Himmel zu führen, und das ist die Aufgabe, die sie auf Erden ausführen muß. Infolgedessen, weil das himmlische Ziel über dem irdischen steht, kommt der Kirche in gewisser Hinsicht ein Vorrang vor dem Staat, vor der staatlichen Gewalt zu.

Beide sind unabhängig voneinander. Die Kirche hat ihre Priester-, Hirten- und Lehrgewalt von Christus bekommen. Nur den Aposteln hat der Herr gesagt: „Weidet meine Lämmer! Weidet meine Schafe! Welchen ihr die Sünden nachlassen werdet, denen sind sie nachgelassen, und welchen ihr sie behalten werdet, denen sind sie behalten.“ Der Staat kann also der Kirche nicht vorschreiben, was sie predigen soll. Er kann den Christen nicht vorschreiben, was sie glauben müssen. Er kann den Priestern nicht vorschreiben, was sie für Sakramente spenden dürfen und wann sie das heilige Meßopfer feiern dürfen. Die Kirche ist in ihrem Bereiche unabhängig.

Freilich hat es immer wieder Übergriffe gegeben. Schon der aus dem Konzil von Nicäa bekannte Bischof Hosius von Cordoba hat dem Kaiser entgegengehalten: „Hier – nämlich im geistlichen Bereich – hier hast du uns gar nichts zu sagen! Du nimm hier unsere Weisungen an!“ Im geistlichen Bereich ist die Kirche unabhängig. Sie hat auch über die Sittlichkeit zu wachen, denn sie ist ja die Verkünderin der Gebote, und sie hat deswegen auch dem Staate zu sagen: Es ist dir erlaubt! – Es ist dir nicht erlaubt! Immer da, wo die Sittlichkeit in Frage steht, wo es um Gut und Böse geht, da hat die Kirche ein Wort zu sagen.

Aber sonst ist auch der Staat unabhängig. Da, wo es nicht um Gut und Böse geht, sondern wo Fragen der Zweckmäßigkeit zur Entscheidung anstehen, da ist der Staat von der Kirche unabhängig. Auch der Staat besitzt in seinen Grenzen eine Autonomie, eine Selbstgesetzlichkeit. Hier hat die Kirche nicht hereinzureden. Und wie es Übergriffe des Staates gegenüber der Kirche gegeben hat, so hat es auch Übergriffe von Kirchenmännern gegenüber dem Staat gegeben. Ich halte es beispielsweise nicht für zulässig, wenn Kirchenmänner unter Berufung auf die Sendung der Kirche sich in die Asylfrage einmischen. Das ist eine Sache des Staates, zu entscheiden, wie Asylanten aufgenommen werden, wie viele aufgenommen werden. Hier hat die Kirche nichts zu sagen. Das ist eine Frage der Zweckmäßigkeit, die muß der Staat nach seinen Kriterien beurteilen, hier sollten die Kirchenmänner schweigen.

Sie sollten auch schweigen, wenn es um die Frage der Atomenergie geht. Es ist Sache des Staates, zu beurteilen, ob es notwendig ist, Atomenergie zu verwenden, ob ihre Verwendung genügend sicher ist. Kirchenmänner haben hier keine Stimme, sie besitzen keine Kompetenz im technischen Bereich. Die Kirche hat nur da zu sprechen, wo Gut und Böse, wo die Moral, wo die Sittlichkeit in Frage steht. Da muß sie allerdings unter Umständen sagen: Es ist dir nicht erlaubt!

So unabhängig Staat und Kirche voneinander sind, so wenig sind sie beziehungslos. Sie haben ja für dieselben Menschen zu sorgen. Die Bevölkerung ist ein und dieselbe, für die der Staat und für die die Kirche eingesetzt sind. Infolgedessen sind Staat und Kirche auf Zusammenarbeit angewiesen. Sie sollen einträchtig zum Wohle der Bürger zusammenarbeiten. Der Staat soll die Kirche unterstützen, die Kirche soll dem Staat auf ihre Weise einen Beitrag leisten zum Wohlergehen der Bevölkerung. Der Ausdruck dieser Zusammenarbeit sind die Konkordate, Verträge zwischen Staat und Kirche, in denen verabredet wird, wie sie sich gegeneinander verhalten wollen. Die Konkordatsgeschichte ist eine Geschichte des Bemühens der Kirche um Zusammenarbeit mit dem Staat.

Die Kirche vermag dem Staate große Dienste zu leisten, einmal, indem sie den Menschen die Sittlichkeit lehrt, das Gute nahelegt, indem sie ihnen die Gebote predigt. Der Staat kann nicht bestehen, meine lieben Freunde, wenn seine Bürger nicht moralisch, sittlich handelnde Personen sind. Er selbst kann aber die Sittlichkeit nicht erzeugen. Wo soll er sie denn hernehmen? Sie kann nur von Gott kommen, und von da hat sie die Kirche empfangen. Sie hat also die unersetzliche Aufgabe, den Staatsbürgern die Verhaltensweisen, die Ethik, das Moralgesetz zu predigen. Damit erweist sie dem Staate einen unschätzbaren Dienst. Weil dieser Dienst eng mit der Religion verknüpft ist, Moral und Religion gehören ja zusammen, deswegen ist auch die Religion eine Stütze des Staates. Die Religion, also die Glaubenslehre, das Glaubensdogma – auch das ist eine Stütze der staatlichen Gemeinschaft.

Vor wenigen Wochen ist ein ganz bedeutsames Buch herausgekommen von Frau Prof. Noelle-Neumann. Diese Frau lehrt an unserer Universität in Mainz Publizistik. Frau Noelle-Neumann hat also ein Buch herausgebracht mit dem Titel „Die verletzte Nation“. In diesem Buche wird in umfangreichen Erhebungen in mehreren Staaten Europas, natürlich auch in der Bundesrepublik, der Nachweis geführt, daß mit dem Zusammenbruch der Religion – und einen solchen haben wir ja in Deutschland – auch die Sittlichkeit dahinfällt. Es ist das Buch geradezu eine erregende Lektüre. Hier wird ganz nüchtern mit den Mitteln der Publizistik – der Meinungsforschung – nachgewiesen, wie der große Traditionsbruch, wie man euphemistisch den innerkirchlichen Zusammenbruch der sechziger Jahre nennt, wie der große Traditionsbruch die Fundamente des Staatswesens erschüttert hat, weil die Sittlichkeit mit der Religion und mit dem Gottesdienstbesuch dahingefallen ist.

Ja, die Kirche, welche die Religion und die Sittlichkeit verkündet, leistet einen unermeßlichen Beitrag für das Gemeinwohl des Staates. Die Gebote und die Lehre der Kirche sollen den Menschen vom Bösen abhalten. Moral und Dogma gehören untrennbar zusammen. Denn wenn man die Lehre von der Allwissenheit Gottes oder vom endlichen Gericht ernstnimmt, dann wird man eben das Böse meiden. Oder wenn wir erfahren, daß das Gericht nach den Werken erfolgt, werden wir eben gute Werke zu tun uns bemühen, werden wir den Notleidenden helfen, werden wir Werke der leiblichen und der geistlichen Barmherzigkeit tätigen. Da sieht man den unermeßlichen Beitrag der Kirche für das Gemeinwohl des Staates.

Kluge Staatsmänner haben deswegen die Religion und die Kirche immer gefördert. Das begann mit Konstantin dem Großen und ging über Karl den Großen, Stephan den Heiligen, Wenzeslaus den Heiligen – um nur einige zu nennen – bis an die Schwelle unserer Zeit. Wer dagegen die Kirche verfolgt, wer die Religion ausschaltet, der spürt bald die Wirkungen seines bösen Tuns.

Im 18. Jahrhundert saß auf dem preußischen Thron ein Freidenker, König Friedrich II. von Preußen, von manchen „der Große“ genannt. Dieser Mann, ein Anhänger Voltaires, erlebte, wie seine frivole Art des Umgangs mit den Heiligen sich vom Königsthron immer mehr im Volke ausbreitete, und er sah gleichzeitig, wie Untaten und Verbrechen und Sittenlosigkeit in seinen Staaten immer mehr zunahmen. Und so hat eines Tages dieser König, der ja auch ein kluger Mann war, zu seinem Minister gesagt: „Schaff' er mir wieder Religion ins Volk!“

Ja, schaff' er mir wieder Religion ins Volk! Denn die Religion lehrt die Menschen die sittlichen Verhaltensweisen, ohne die ein Staatswesen nicht bestehen kann. Napoleon hat einmal das Wort gesprochen: „Ohne Religion kann man kein Volk regieren.“ Heute wird es versucht. Heute wird der Versuch gemacht, die Religion als eine Nebensache, ja als etwas Überholtes darzustellen. Seit über 40 Jahren wird unser Volk den Mächten der Verführung ausgesetzt, durch Nachrichtenmagazine, durch Illustrierte, durch Fernsehsendungen vergiftet, buchstäblich vergiftet.

Die Quittung, meine lieben Freunde, steht noch aus. Wir wissen, wie diese Quittung lautet. Sie lautet so, wie es der Prophet Hoseas schon einmal angekündigt hat: „Es ist keine Gotteserkenntnis im Lande, Fluchen, Lügen, Morden und Ehebrechen haben überhand genommen.“ Ja, wahrhaftig, das sind die Folgen der Religionslosigkeit. Die Religionslosigkeit zieht die Sittenlosigkeit nach sich. Der griechische Schriftsteller Plutarch hat einmal den Satz geschrieben: „Eher kann man eine Stadt in die Luft bauen als einen Staat ohne Religion erhalten.“

Amen.

Schrift
Seitenanzeige für große Bildschirme
Anzeige: Vereinfacht / Klein
Schrift: Kleiner / Größer
Druckversion dieser Predigt