Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
30. November 1986

Verfehlungen gegen das achte Gebot

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Das achte Gebot verbietet, daß wir dem Nächsten an der Ehre schaden. Es ist ein Gebot zum Schutz der eigenen und der fremden Ehre. Gleichzeitig aber verbietet das achte Gebot die Falschheit. Gott ist die Wahrheit, Gott ist wahrhaftig, und Christus sagt von sich: „Ich bin die Wahrheit.“ Deswegen verabscheut Gott die Falschheit.

Es sind vor allem drei Verfehlungen, die er uns im achten Gebote verbietet.

Erstens: Die Lüge. Lügen heißt etwas anderes äußern, als man denkt. Die Lüge besteht darin, daß wir die Unwahrheit sagen, um einen anderen zu täuschen. „Leget ab die Lüge! Ein jeder spreche mit seinem Nächsten die Wahrheit!“ So fordert der Apostel Paulus die Christen auf. Und wahrhaftig, es ist etwas daran, wenn der Königsberger Philosoph Kant einmal sagt: „Die Lüge ist der eigentlich faule Fleck an der menschlichen Natur.“ So verbreitet nämlich ist sie und so geläufig ist sie. Wir unterscheiden drei Arten von Lügen. Die erste – und wohl häufigste – ist die sogenannte Notlüge. Der Mensch sagt die Unwahrheit, um sich aus einer unangenehmen Situation zu ziehen. Wir haben ein Beispiel dafür in der Leidensgeschichte des Heilandes. Als Petrus im Vorhof des Hohenpriesters gefragt wurde, ob er auch zu dem Galiläer gehöre, da antwortete er: „Ich kenne diesen Menschen nicht.“ Durch diese Lüge, die ja gleichzeitig ein Verrat an seinem Herrn war, wollte sich Petrus aus der Not des Gefragtwerdens und – möglicherweise – des Gefangenwerdens befreien.

Die zweite Art ist die Scherzlüge. Im Gespräch, zur Erheiterung gebrauchen die Menschen häufig eine Unwahrheit. Etwa wenn man bei großer Kälte sagt: „Heute ist es aber warm!“ Wir sehen, daß diese Art der Lüge leicht erkennbar ist und, wenn sie das ist, nicht als Sünde angesehen werden kann. Es ist eine Unvollkommenheit, aber keine Sünde.

Dagegen ist erheblich gewichtiger die Schadenslüge. Das ist jene Lüge, die dem anderen Nachteil, Schaden zufügt. Solchen Schaden hat Jakob dem Esau zugefügt, als er sich für den Esau ausgab und so den Segen seines Vaters Isaak erschlich. So hat Esau den Segen verloren durch die Täuschung, durch die Lüge seines Bruders.

Die zweite Sünde, die uns im 8. Gebot verboten wird, ist die Heuchelei. Heuchelei ist Lüge im Werk. Wer anders spricht oder handelt, als er denkt, ist ein Heuchler. Auch dafür bietet die Heilige Schrift manche Beispiele. Judas im Ölgarten küßte den Herrn. Der Kuß ist das Zeichen der Freundschaft, aber er verriet mit einem Kuß seinen Heiland. Das war Heuchelei.

Ein Heuchler war auch der König Herodes. Als die Magier zu ihm kamen, da sagte er: „Wenn ihr das Kindlein gefunden habt, dann saget es mir, damit auch ich hingehe und es anbete!“ Er wollte es aber nicht anbeten – er wollte es töten! Er heuchelte. Und so hat sich die Heuchelei in der Geschichte fortgepflanzt bis in die Gegenwart. Auch im Raume des Heiligtums gibt es den Heuchler, den Scheinheiligen, der etwas anderes darstellen will, als er in Wirklichkeit ist. Diese Verfehlung ist deswegen so schlimm, weil sie die ganze heilige Religion in Mißkredit, in Verruf bringt. Der Heiland vergleicht die Heuchler mit übertünchten Gräbern, die außen schön gekalkt sind, innen aber voll Moder und Totengebein. Der Heuchler ist dem äußeren Schein nach ein Lamm, seiner Gesinnung nach ein Fuchs und seinen Taten nach ein Wolf.

Die dritte Verfehlung, welche das 8. Gebot verbietet, ist die Schmeichelei. Schmeichelei besteht darin, daß jemand um seines eigenen Vorteils willen gegen seine Überzeugung einem anderen Vorzüge zuspricht, die er nicht besitzt, oder daß er die vorhandenen unmäßig und über Gebühr steigert. Mit Schmeichelei werden häufig hochgestellte Personen umgarnt. Man feiert ihre wirklichen oder angeblichen Vorzüge oder Taten, um sie damit geneigt zu stimmen, den Ansichten und Absichten der Schmeichler zuzustimmen. Solches Verhalten läßt sich auch  im Raume der Kirche beobachten. Die Menschen sind empfänglich für Lob, das weiß der Schmeichler. So schreibt er denen, von denen er etwas erwartet, die er für sich gewinnen, die er für sich ausnutzen will zum eigenen Vorteil, Eigenschaften, Kenntnisse und Fähigkeiten zu, die sie gar nicht oder jedenfalls nicht in dem hohen Maße besitzen, wie er es behauptet.

Die Schmeichelei ist deswegen so gefährlich, weil sie sich gewöhnlich an leitende Personen richtet und weil diese dadurch bestimmt werden, Schädliches, Nachteiliges für ihr Volk, für ihre Herde zu tun. Der Schmeichler gleicht einem Arzt, der einem Menschen die Speisen ohne Rücksicht auf Gedeih oder Verderb empfiehlt; Hauptsache ist, daß es ihm schmeckt. Das ist ein schlechter Arzt, der die Speisen, die einem Menschen nützen oder schaden, nicht unterscheidet.

Das sind die drei Verfehlungen gegen das Gebot, wahrhaftig zu sein. Wir wollen jetzt fragen: Warum sollen wir dieses Gebot beachten?

Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens: Der Lügner wird dem Teufel ähnlich; denn so steht es in der Heiligen Schrift: „Der Teufel ist ein Lügner und der Vater der Lüge.“ Wir wissen aus dem ersten Buch des Alten Testamentes, daß die Schlange, in deren Gestalt sich der Teufel den Stammeltern genähert hat, sie belog: „Keineswegs werdet ihr sterben. Die Augen werden euch aufgehen, und ihr werdet sein wie Gott!“ Wer lügt, wird dem Teufel ähnlich, nicht nach der Natur, sondern wegen der Nachahmung.

Zweitens: Wer lügt, der mißfällt Gott. Der Heiland hat aus fast allen Sündern Menschen zur Seligkeit oder in seine Nachfolge berufen, den Verfolger Saulus, ausgelassene Weiber wie die Frau am Jakobsbrunnen und die Magdalena, Wucherer wie den Zachäus. Aber er hat keinen Heuchler berufen, er hat keinen Lügner berufen. Er hat den Schächer, einen Räuber in sein himmlisches Reich aufgenommen, aber die Lügner, die Heuchler, die verabscheut er. Gegen niemand ist er so scharf losgezogen wie gegen die Pharisäer, weil sie Heuchler waren.

Der dritte Grund, warum wir die Lüge meiden sollen, ist, daß wir das Vertrauen der Menschen dadurch verlieren. Es wird berichtet, daß einmal Menschen einem Hirten zuriefen: „Der Wolf kommt! Der Wolf kommt!“ In Wirklichkeit kam aber kein Wolf. Als aber wirklich einmal einer erschien, da nahm der Hirt diese Alarmrufe nicht mehr ernst, und der Wolf kam und riß seine Herde. Die Lügner richten nämlich häufig Unheil an. Es ist schon viel Schaden verbreitet worden durch die Scherzlügen am 1. April. Es wird erzählt, daß einmal ein Mann einem Bauern, der auf der Weide war, sagte: „Hören Sie mal,“ – am 1. April – „hören Sie mal, das halbe Dorf ist ja bei Ihnen abgebrannt und Ihr Hof auch.“ Der Bauer fiel auf der Stelle tot um. Solchen Schaden kann eine unbedachte, in diesem Falle als Scherzlüge gemeinte Aussage hervorrufen.

Außerdem gelangt der Lügner leicht zu anderen Verfehlungen, denn er denkt: Ich kann ja alles ableugnen. Und so kommen zur Lüge Betrug und Unterschlagung und viele andere Verfehlungen, die er meint im Schutze der Lüge begehen zu können. Die Lüge ist tatsächlich der faule Fleck an der menschlichen Natur.

Die Lüge ist in keinem Falle erlaubt. Sie ist auch dann nicht zulässig, wenn man damit Gutes erreichen könnte. Diese Meinung hat ein Mann namens Martin Luther vertreten, aber sie ist falsch. Der Zweck wird nicht dadurch erhaben, daß man schlechte Mittel dafür verwendet; der Zweck heiligt nicht die Mittel. Diese Maxime wird zwar fälschlicherweise dem Jesuitenorden zugeschrieben, aber die Zuweisung ist unzutreffend. Im vorigen Jahrhundert hat ein Jesuit eine hohe Summe Geldes bei der Universität Heidelberg hinterlegt, die demjenigen ausgezahlt werden soll, der aus einer Schrift von Jesuiten nachweisen könnte, daß Jesuiten den Satz aufgestellt hätten: „Der Zweck heiligt die Mittel.“ Das Geld ist niemals abgeholt worden; denn es gibt keine solche Schrift.

Freilich besteht die Möglichkeit, in bestimmten Fällen ausweichend zu antworten. Wer kein Recht hat, mich zu fragen, gegenüber dem habe ich auch keine Pflicht, zu antworten. Ausweichende Rede ist etwas anderes als Lüge. Ausweichende Rede ist eine mehrfach deutbare, eine zweideutige Redewendung, und daß diese erlaubt ist, wissen wir aus der kirchlichen Lehrverkündigung und aus der Kirchengeschichte. Der heilige Athanasius, der Bischof von Alexandrien, wurde von den Häschern des Kaisers Julian Apostata verfolgt. Er fuhr auf einem Schiff im Nil. Die Soldaten kamen auf das Schiff und fragten: „Wo ist Athanasius?“ Die Begleiter des Athanasius antworteten: „Er ist nicht weit. Wenn ihr schnell fahrt, erreicht ihr ihn.“ Das war offenkundig eine Täuschung, aber eine Täuschung, die sich im richtigen Sinne deuten ließ und die deswegen nicht als Lüge bezeichnet werden kann. Ähnliches wird vom heiligen Thomas von Canterbury berichtet. Auch er wurde ja vom König verjagt, verfolgt; er war mit einem Reittier unterwegs. Da fanden ihn eines Tages die Soldaten und fragten ihn, ob er der Erzbischof von Canterbury sei. Er antwortete: „Seht selbst, ob ein Erzbischof mit einem solchen Lasttier unterwegs ist!“ Und sie ließen von ihm ab.

So ist es also auch uns in schwierigen Situationen erlaubt, zweideutige Redewendungen zu gebrauchen. Wenn uns ein Verschwender um Geld anhält, dürfen wir sagen: „Ich habe keines“ – nämlich für ihn. Wenn uns jemand um ein Geheimnis fragt, das zu erfahren der andere kein Recht hat, dürfen wir sagen: „Ich weiß es nicht.“ Aber diese Redewendungen sind gefährlich und nur in Not zu verwenden. Sie dürfen keine Stelle haben, wo es um Verträge geht, um Kauf, Verkauf, Ehe, wo der andere einen Anspruch hat, zu erfahren, wie es um eine Sache oder um eine Person bestellt ist.

„Lügnerische Lippen sind dem Herrn ein Greuel.“ So heißt es im Alten Testament. Dagegen ist der Wahrhaftige Gottes Liebling, er wird von Gott geschätzt. Über Nathanael sagte der Heiland einmal: „Wahrhaft ein Israelit, an dem kein Falsch ist.“ Die Heiligen haben uns mit ihrer Lebensgeschichte gezeigt, wie wahrhaftig man sein muß. Der Bischof Anthimus wurde eines Tages in der Christenverfolgung von Soldaten aufgefunden. Er bewirtete sie, und die Soldaten erboten sich, ihn mit einer Notlüge zu retten. Er lehnte es ab, ließ sich abführen und zum Richtblock bringen. Er hätte mit einer Notlüge sein Leben erhalten können – er hat es abgelehnt. Vom heiligen Johannes von Kenty wird berichtet, daß er auf einer Wallfahrt nach Rom von Räubern überfallen wurde. Sie nahmen ihm sein ganzes Besitztum ab, und auf die Frage, ob er noch etwas bei sich trage, antwortete er: „Nein.“ Als die Räuber von ihm abgelassen hatten, fiel ihm ein, daß er noch einige Goldstücke in seinem Mantel eingenäht trug. Da lief er den Räubern nach und sagte ihnen, er habe etwas vergessen. Die Räuber waren von dieser Wahrhaftigkeit so erschüttert, daß sie ihm das Geraubte zurückgaben.

Lügen haben kurze Beine! Sie beschämen oft den Menschen, der sich in ihnen verfängt. Sie geben Anlaß, ein unruhiges Gewissen zu haben, sie rauben uns den Frieden. Sie verscherzen uns die Achtung und das Vertrauen der Mitmenschen.

Deswegen, meine lieben Freunde, wollen wir uns vornehmen, die Wahrheit zu reden; lieber zu schweigen, als etwas zu sagen, was nicht wahr ist. Das viele Reden führt auch zu vielen Unwahrhaftigkeiten. Wahrhaftig zu sein: Unsere Rede soll ein Ja für ein Ja, ein Nein für ein Nein sein. Was darüber ist, das ist vom Bösen.

Amen.

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