Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
23. November 1986

Verfehlungen gegen die Ehre des Nächsten

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Das 8. Gebot schützt die Ehre und verbietet die Falschheit. Wir wollen am heutigen Sonntag darüber nachdenken, was es um den Schutz der Ehre ist, der vom 8. Gebot gewährleistet werden soll.

Die Ehre – oder der gute Name – besteht darin, daß die Menschen von uns gut denken und reden. Gott hat dem Menschen das Ehrgefühl in die Seele gegeben. Das ist ein Zeichen, daß die Ehre etwas Gutes ist. Wer Ehre besitzt, ist zufrieden, ist glücklich. Mit Schande, mit Unehre kann man nicht dauernd leben. Wer ehrenhaft ist, ist bemüht, ein Leben zu führen, das seinem Ruf entspricht. Er möchte der Ehre, die ihm zuteil wird, gerecht werden. Die Ehre ist also ein Vehikel der Tugend. Die Ehre verschafft auch Einfluß. Von einem ehrenhaften Menschen läßt man sich etwas sagen. Dem Unehrenhaften hält man entgegen: „Arzt, heile dich selbst!“

So ist es also berechtigt, daß wir nach Ehre streben. Der Heiland selbst hat uns dazu aufgemuntert: „Laßt euer Licht leuchten vor den Menschen, damit sie euere guten Werke sehen und eueren Vater preisen, der im Himmel ist.“ Dieses Wort darf nicht mißverstanden werden. Natürlich dürfen wir die guten Werke nicht um der Menschen willen tun, sondern müssen sie vollbringen um der Sache willen und um Gottes willen, aber wir dürfen durchaus besorgt sein um unseren guten Ruf. Und wenn er gefährdet ist, dürfen wir ihn zu schützen versuchen, wir dürfen ihn verteidigen. Das hat uns der Heiland selbst vorgemacht, als er mit dem Vorwurf konfrontiert wurde: „Durch den obersten der Teufel treibt er die Teufel aus!“ Da hat er sich verteidigt. Und als er zu Unrecht geschlagen wurde vor Pilatus, hat er sich gewehrt. Auch der Apostel Paulus hat seinen guten Namen vor Statthaltern und Königen verteidigt.

Freilich sollen wir nicht empfindlich sein. Wer unermüdlich jedem Gerücht nachgeht, das ihm etwas von seinem guten Namen rauben könnte, der verliert seinen Frieden und die Ruhe – und macht die anderen erst auf sich aufmerksam! Er zeigt, daß er kein gesundes Selbstgefühl hat. Er will dauernd von außen bestätigt werden, und das ist Zeichen eines schwachen Charakters. Wir müssen die Kraft haben, die Menschen reden zu lassen. Nur wenn es um schwere Ehrverletzungen und schimpfliche Vorwürfe geht, wenn uns Verbrechen und Vergehen angedichtet werden, dann sollen, dann müssen wir uns vielleicht wehren. Aber häufig ist es angebracht, zu schweigen. Die guten Taten, die wir vollbringen, zeugen für unsere Ehre, stellen die Ehre wieder her.

Die große Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach hat einmal den schönen Satz geschrieben: „Man hat nie den Ruf, den man verdient, sondern entweder einen zu guten oder einen zu schlechten.“ Wer vor den Menschen um Ehre ängstlich besorgt ist, der verliert leicht die Freundschaft Gottes, denn er stellt seine Ehre über Gott. Außerdem kann derjenige, der Gottes Willen tut, auf dieser Erde nicht bei allen Menschen angesehen sein, denn böse Menschen überfallen den, der nach Gottes Gesetz lebt, mit Spott und Hohn. Sie suchen seine Ehre in den Staub zu ziehen. „Alle, die gottselig leben wollen,“ heißt es in der Heiligen Schrift, „müssen Verfolgung leiden.“ So ist es also durchaus berechtigt, um den guten Namen besorgt zu sein. Aber jedes Übermaß ist schädlich. Wir sollen Gutes tun, fröhlich sein und die Spatzen pfeifen lassen, wie der heilige Johannes Bosco es einmal ausgedrückt hat. Die Spatzen – das sind die Menschen, die uns Übles nachreden.

Umgekehrt sollen wir niemanden an der Ehre kränken; und das kann auf fünffache Weise geschehen. Einmal durch Argwohn. Das Wort Argwohn im Deutschen kommt von „Arges wähnen“, und das bedeutet soviel wie Böses vermuten. Wer argwöhnisch ist, der legt die Handlungen des anderen immer schlecht aus, denkt vom Nächsten ohne vernünftigen Grund Böses. Das ist ein großes Unrecht, denn wir können in den Menschen nicht hineinschauen. Wir wissen nicht, was in ihm ist. Durch Argwohn hat man schon oft Menschen Unrecht getan. Der Pharisäer im Tempel hielt den Zöllner für einen großen Sünder. Aber in Wirklichkeit ging dieser gerechtfertigt von dannen. Simon, der Pharisäer, der Jesus zum Gastmahl geladen hatte, meinte, die Frau, die ihm da die Füße wusch, sei eine große Sünderin. Tatsächlich war sie eine große Büßerin. Die Freunde des Hiob meinten, er sei von Gott geschlagen. In Wahrheit hatte Gott ihn lieb und erprobte nur seine Treue. Als Paulus nach einem Schiffbruch auf Malta landete, machte er ein Feuer an. Da kam eine Schlange aus dem Reisig und schlang sich um seinen Arm. Sogleich hatten die Malteser ihr Urteil fertig: Das muß ein Mörder sein, der überall verfolgt wird.

Diese Beispiele zeigen, wie Argwohn in die Irre führen kann. Lieber von einem Bösen Gutes annehmen als von einem Guten Böses reden. Der Volksmund sagt nicht zu Unrecht: „Wer arg denkt, der ist arg.“ Er überträgt nämlich seine eigene schäbige Gesinnung auf die anderen. Nein, besser als Mißtrauen und Argwohn ist Vertrauen und Arglosigkeit. Vertrauen weckt Vertrauen. So wollen wir also den Argwohn meiden.

Die zweite Verfehlung gegen die Ehre des Nächsten ist die üble Nachrede. Die üble Nachrede besteht darin, daß man die geheimen Fehler des Nächsten öffentlich bekanntmacht. Wir alle wissen, wie häufig diese Sünde ist. Die meisten Menschen sprechen gern über die Fehler des Nächsten. Sofern sie öffentlich sind, mag die darin liegende Verfehlung nicht sehr schlimm sein. Aber wenn sie geheim sind, wenn wir geheime Fehler des Nächsten aufdecken, dann nehmen wir ihm den guten Ruf, dann rauben wir ihm den guten Namen und stürzen ihn womöglich in das Laster, weil das Vehikel der Tugend, das nun einmal der gute Name ist, weggefallen ist. Dann beträgt er sich auch so, wie man von ihm spricht. Wir haben also dann Mitschuld an seinem seelischen Ruin. Nein, wir sollen grundsätzlich schweigen über die geheimen Fehler des Nächsten; wir sollen sie nicht ohne Notwendigkeit verbreiten. Wir sollen und wollen dem Mitmenschen nicht etwas rauben, was ihm zu Recht zukommt, nämlich der öffentliche gute Ruf. Mit seinen eigenen Fehlern mag er fertig werden, aber wir wollen nicht unsere Hand dazu bieten, daß ihm der gute Ruf in der Öffentlichkeit genommen wird.

Noch schlimmer als üble Nachrede ist die Verleumdung. Sie besteht darin, daß wir dem Nächsten Fehler zuschreiben, die er gar nicht hat. Verleumdung kommt von dem Worte Leumund, und Leumund bedeutet eben „guter Name“. Verleumdung heißt also, jemandem den guten Namen durch erdichtete, erfundene Fehler, die man ihm zuschreibt, rauben. Die Verleumdung ist außerordentlich häufig. Sie hängt sich gern an tugendhafte und hochgestellte Personen an. Vor allem der Priester ist ein beliebter Gegenstand der Verleumdung. Der Grund für diese Erscheinung ist klar. Der Priester muß das Evangelium und die Gebote verkündigen, und davon  fühlen sich die Menschen getroffen und betroffen; um sich der unbequemen Verkündigung zu erwhren, suchen sie den Verkündiger zu entwerten, indem sie ihm Fehler und Laster zuschreiben, indem sie seine Tugend bezweifeln und ihn mit erdichteten und erfundenen Sünden behängen.

Verleumdung ist uns aus dem Alten Testament schon bekannt. Die Frau des Putiphar, des ägyptischen Großen, verdächtigte den Josef, daß er sie habe verführen wollen. Die Juden verleumdeten den Heiland vor Pilatus: „Er wiegelt das Volk auf. Er verbietet, dem Kaiser Steuern zu zahlen.“ Das Gegenteil war der Fall – eine glatte Verleumdung. Solche Verleumdungen sind auch heute überaus häufig. Die Älteren von uns haben es erlebt, wie in den Jahren 1936/37 ein systematischer Verleumdungsfeldzug von einem Herrn namens Goebbels inszeniert wurde gegen Ordensleute und Priester. Vorgekommene Fälle von Schwächen wurden ausgenützt, um den ganzen Klerus und die Ordensbrüder und Ordensschwestern zu verunglimpfen. Verleumdung ist eine fast tödliche Waffe. Sie entfremdet dem Verleumdeten die Menschen, sie bringt ihn in Schande und in Verruf, sie nimmt ihm die Möglichkeit zu wirken. Etwas bleibt immer hängen. Auch wenn dann ein gerichtlicher Freispruch erfolgt, wie es damals in gar nicht wenigen Fällen geschehen ist, etwas bleibt immer hängen. Nicht umsonst ist das Jahr 1937 das Jahr mit der höchsten Zahl der Kirchenaustritte in der ganzen Zeit des Nationalsozialismus gewesen.

Eine vierte Verfehlung gegen die Ehre ist die Beschimpfung. Die Beschimpfung besteht darin, daß man die Geringschätzung, die man gegen den Nächsten hegt, öffentlich kundtut. Beschimpfung kommt gewöhnlich aus Haß oder Rachsucht. Beschimpfung raubt dem anderen, der physisch oder moralisch zugegen ist, die Ehre. Was sich Menschen durch Beschimpfung antun, ist gar nicht auszumachen. Auf welche Ausdrücke verfallen sie bei dieser Gelegenheit, welche Untiefen werden da zutage gefördert! Es ist entsetzlich, einen schimpfenden, einen keifenden Menschen anzusehen. Das ist ein großes Unrecht, meine lieben Freunde, und gewöhnlich kommt die Beschimpfung aus dem uneingestandenen Gefühl, daß man selber Unrecht hat. Wer im Unrecht ist, der wird grob, so ist die alltägliche Beobachtung. Beschimpfungen werden uns auch aus dem Alten Testament berichtet. Der Semmai beschimpfte den König David als einen Bluthund.

Wir wollen diese böse, diese schwere Sünde der Beschimpfung meiden, meine lieben Freunde, weil wir Achtung haben vor dem Ebenbild Gottes im Nächsten, weil wir uns selbst nicht entwürdigen wollen durch Ausdrücke, die unsere Seele beschädigen und verunstalten.

Die letzte Verfehlung gegen die Ehre des Nächsten besteht darin, daß man ehrverletzende Reden ohne Grund anhört. Ja, einer macht das Feuer, nämlich der, welcher ehrverletzend spricht. Aber der andere legt Reisig zu, das ist derjenige, der zuhört. Wenn es keine Zuhörer gäbe, dann würde es auch keine ehrverletzenden Reden geben. Deswegen ist es eine Sünde, ohne Grund solchen Reden sein Ohr zu leihen. Der heilige Bernhard sagte einmal: „Einer hat den Teufel auf der Zunge, der andere hat ihn im Ohr.“ Wahrhaftig, es ist etwas Schwerwiegendes, ehrverletzenden Reden grundlos das Ohr zu leihen. Der heilige Augustinus hatte in seinem Hause auf dem Tisch die Schrift stehen: Wer über andere ehrverletzend redet, der möge diesen Tisch meiden! Der heilige Thomas Morus sagte gewöhnlich, wenn er ehrverletzende Reden über einen anderen vernahm: „Ich bin der Meinung, das Haus ist gut gebaut und der Baumeister ist tüchtig.“ Auf diese Weise wehrte er ehrverletzende Reden ab.

Die Sünden gegen das 8. Gebot sind nicht leicht zu nehmen, meine lieben Freunde, weil die Ehre ein wichtiges Lebenselement für den Christen ist. Wer sich hierin verfehlt hat, muß die Verfehlung wieder gutmachen. Er muß zumindest den Willen zur Wiedergutmachung haben, wenn er im Bußsakrament losgesprochen werden will. Auch das gehört zur Reue, der Wille zur Wiedergutmachung. Die Wiedergutmachung geschieht in doppelter Weise, durch Abbitte und Widerruf. Abbitte liegt vor, wenn wir uns gegenüber einem anderen unter vier Augen beleidigend geäußert haben, Widerruf ist notwendig, wenn unsere Verfehlung nach außen gedrungen ist.

Wir wollen uns vornehmen, unsere Zunge zu hüten, denn die meisten Sünden geschehen mit der Zunge. „Neige mein Herz zu deinen Geboten, o Herr!“

Amen.

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