Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
2. Januar 2005

Die Vergangenheit – Reue und Vergebung

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir hatten gestern begonnen, über die Zeit nachzusinnen und die beiden großen Rätsel der Zeit vorgestellt, nämlich die Zukunft und die Vergangenheit. Gestern sprachen wir über die Zukunft und über ihre Unerforschlichkeit und ihre Schicksalhaftigkeit. Heute wollen wir uns der Vergangenheit zuwenden. Und auch sie ist ein Rätsel, ein großes Rätsel. Ich fand einmal meine eigene leibliche Mutter in Tränen aufgelöst. Ich fragte: „Mutter, warum weinst du?“ „Weil ich schon so alt bin“, sagte sie. Das Alter war für sie ein Anlaß zu weinen: „Weil ich schon so alt bin.“ Das Leben ist vorübergegangen, und das kann einen traurig stimmen, wie schnell es vorübergegangen ist, wie die Jahre geeilt sind, wie flüchtig die Zeit ist.

Wenn wir einen Rückblick halten auf das, was im Leben war, dann können uns auch die Tränen kommen. Meine Großmutter sagte einmal zu mir: „Ich möchte das Leben noch einmal beginnen, aber mit dem Verstand, den ich jetzt habe.“ Denn der Unverstand hat eben manches im Leben angerichtet. „Mit dem Verstand, den ich jetzt habe.“

Wir schauen zurück in die Vergangenheit. Alles, was uns einmal bewegt hat an Freude und Leid, an Arbeit und Erfolg, an Kampf und an Tat, alles ist dahingerauscht. Eine kleine Weile können wir uns noch am Vergangenen erquicken in der Erinnerung, so wie man am Abend zurückschaut auf das Leben des vergangenen Tages. Aber dann wird alles gleichgültig, unwirklich und gespenstisch, als wäre es nie gewesen. Und wenn wir gar weiter zurückdenken in der Vergangenheit, an unsere Jugend, an den Idealismus und den Enthusiasmus der Jugend, aber auch an die Verfehlungen und Schwächen der Jugend, dann können wir wahrhaftig mit Besinnlichkeit und mit Traurigkeit erfüllt werden, dass alles vorüber ist, vorüber, vorüber.

Ist tatsächlich alles vorüber, meine lieben Freunde? Ist es nicht in Wirklichkeit so, dass nichts ganz vorübergeht, was irgendeinmal wirklich und real war, dass nichts ins Nichts zurückfällt? Vor allem unser geistiges Sein und unser geistiges Wesen, das verschwindet niemals ganz aus unserem Dasein. Unser Sein baut sich auf in der Zeit, allmählich, wie eine Pflanze sich aufbaut. So ist die Zeit, in der wir leben, nichts anderes als die allmähliche Entfaltung unseres Daseins. Die ganze Wirklichkeit, die wir einmal durchlebt haben, die sich durch die Zeitspanne unseres bisherigen Lebens aufgesammelt hat, ist noch in irgendeinem Sinne da. Alles, was bisher real war, geht niemals ganz verloren; es bleibt für alle Ewigkeit.

Das ist nun eine erschreckende und freilich auch beglückende Tatsache. Alles, was zum Aufbau unseres Wesens beitrug, was wir geschafft und gestrebt, was wir getan und gelitten haben, was wir erforscht und geliebt haben, das bleibt. Es besteht noch in der Zeit. Vor allem die Substanz unserer Seele bleibt erhalten, die innersten und persönlichsten Äußerungen und Entscheidungen dieser Seele, die ganz echten Regungen unseres Willens, ob sie nun edel oder erbärmlich waren, jenes innerste Ja- und Nein-Sagen, in dem wir die sittliche Tat vollbringen – nichts ist verschwunden aus dem Dasein. Was wir je Gutes gewollt, was wir je selbstlos geliebt und tapfer ertragen haben, das bleibt in alle Ewigkeit. Aber auch das Böse, alle Selbstsucht, alle Untreue, aller Eigennutz, alle Lüge, alle Feigheit, das je in uns war, auch das Böse bleibt in gewissem Sinn, denn es hängt ja an etwas Wirklichem, und deswegen, mag auch die Schuld vergeben werden, die Taten können niemals ausgelöscht werden. Die Wirklichkeit, an der das Böse hängt, bleibt. Was je in uns böse war, hat auch irgendeine Spur in uns hinterlassen, hat uns gezeichnet, hat uns gebrandmarkt. Wir wären andere Menschen, wenn wir das Böse nicht getan hätten. Wäre so manche dunkle Stunde in uns nicht gewesen, so manche schwarze Tat, so manches erbärmliche Wollen, wäre das nicht gewesen, dann wären wir ein anderer, als wir wirklich sind. Es wäre in uns ein Reichtum, den wir jetzt nicht haben, weil wir ihn in der Sünde verspielt haben. Viele Menschen leiden entsetzlich unter dem, was in der Vergangenheit war, was sie in der Kindheit, in der Jugend, in der Ehe erlebt haben. Es bedrückt sie, es wandert mit ihnen, es bedrängt sie, und sie werden damit nicht fertig. Immer wieder stößt es auf, das Böse, was in ihrem Leben war, was sie in sich selbst erlebt haben oder an ihren Eltern oder an ihren Vorfahren. Manche werden ein Leben lang nicht damit fertig.

Doch gibt es zwei Mittel, um das Böse der Vergangenheit in etwa zu bewältigen. Das Böse, das wir selbst getan haben, bewältigen wir in der Reue. Es ist eine der tröstlichsten Wahrheiten des Christentums, dass es eben eine Erlösungsreligion ist, dass wir in der Reue zwar nicht die Taten ungeschehen machen können, aber dass wir durch die Reue die Schuld von uns abwerfen können. Es ist tatsächlich so, was Gott durch seine Propheten gesprochen hat: „Wären deine Sünden rot wie Scharlach, sie sollen weiß werden wie der Schnee.“ Die Taten der Vergangenheit in unserem eigenen Leben können wir nicht ungeschehen machen, aber ihre Schuld können wir durch die Reue tilgen. Und was die anderen uns angetan haben, unsere Vorfahren, unsere Eltern vielleicht, unsere Nachbarn und Freunde und Arbeitskollegen – Bismarck sagte einmal: „Ein Kollege ist ein Wesen, vor dem man sich vorsehen muss!“ – alles, was sie uns angetan haben, das können wir zwar auch nicht ungeschehen machen, aber wir können den Stachel aus diesem Geschehen ziehen, indem wir verzeihen. Indem wir verzeihen! Wir können es nicht vergessen, aber wir können es vergeben.

Das sind die beiden Weisen, meine lieben Freunde, wie wir mit den Schatten der Vergangenheit in etwa zurechtkommen können. Aber noch einmal: Was je in unser Leben eingetreten ist, das bleibt in irgendeinem Sinne; es bleibt und wirkt. Das ist auch der Grund dafür, warum wir vorsichtig wandeln müssen, warum wir immer denken müssen: Was wir heute tun, was wir heute denken, was wir heute wollen, das wirkt sich auch in die Zukunft für mich aus. Vergangenheit und Zukunft sind miteinander verflochten. Es gibt einen Einfluß der Vergangenheit auf die Zukunft. Wir bauen in jedem Augenblick, den wir leben, die Zukunft. Was wir tun in Liebe und Treue, das bleibt in uns als wirkender Keim, das wandert in uns durch das neue Jahr. Das ist ein Samenkorn, das wir heute legen, das im kommenden Jahr wachsen soll, und je, was in unserer Seele ist an Gewinn oder Verlust, an Licht oder Finsternis, das wandert mit uns und wird ein Keim, der im kommenden Jahr wachsen wird.

Da sehen wir, wie kostbar die Zeit ist, wie kostbar jede Handlung ist, wie unauslöschlich alles ist, was wir getan und was wir gelitten haben. Dass wir also vorsichtig wandeln müssen und die Zeit auskaufen müssen. Der heilige Pfarrer von Ars hat einmal gesagt: „Hätten die Verdammten die Zeit, die wir manchmal so unnütz vertun, welch heilsamen Gebrauch würden sie davon machen! Hätten sie nur eine halbe Stunde Zeit, diese halbe Stunde entvölkerte die Hölle!“ So ist es tatsächlich. Es ist die Zeit kostbar, eigentlich der kostbarste Besitz, den wir überhaupt haben. „Der Augenblick wird kommen,“ schreibt einmal die „Nachfolge Christi“, „wo du nur einen einzigen Tag oder eine Stunde dir wünschen wirst, um dich zu bessern. Aber ich weiß nicht, ob du sie erlangen wirst.“ Jetzt noch haben wir die Zeit, jetzt noch wollen wir sie benutzen. Jetzt wollen wir daran denken, daß alles, was wir denken und tun, dass das unsere Persönlichkeit formt und mit uns in die Zukunft geht. Wir bauen tatsächlich buchstäblich unsere Zukunft, unser Leben und unser Wesen. Der Bau unseres eigenen Selbst, der Bau unserer Seele, das ist das Entscheidende, was wir zu leisten haben. Und wie weit wir damit fertig sind, das wird sich am letzten Tage unseres Lebens zeigen.

In einem Psalm heißt es einmal, als Bitte an Gott gerichtet: „Rufe mich nicht ab in der Mitte meiner Tage!“ Es kommt aber nicht auf die Zahl der Tage an. Auch die Frühvollendeten können Werke vieler Jahre schaffen. Denke wir an Wolfgang Amadeus Mozart, der mit 35 Jahren in die Ewigkeit ging und der doch Unsterbliches geschaffen hat! Nein, der Sinn dieses Betens: „Rufe mich nicht ab in der Mitte meiner Jahre“ ist ein anderer. Er bedeutet: Rufe mich nicht ab in der Mitte meiner Werke! Rufe mich nicht ab, wenn ich mein Wesen und mein Werk erst halb getan habe! Rufe mich nicht ab, wenn noch alles wüst und leer in mir ist! Rufe mich nicht ab, solange meine Jahre noch vergeudet sind! Aber wenn einmal meine Zeit erfüllt ist, wenn einmal die Reife da ist, dann, o Herr, dann laß mich heimkommen und meine Garben tragen in die Scheuern des ewigen Lebens!

Amen.

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