Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
23. November 2003

Einfluß der Wissenschaft auf die Lebensverhältnisse

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Im Jahre 1952, als ich Dienst in der Deutschen Demokratischen Republik tat, kam eines Tages ein Angehöriger der Volkspolizei ins Pfarramt und erklärte seinen Kirchenaustritt. Er habe jetzt, sagte er, eine wissenschaftliche Weltanschauung. Damit meinte er den Marxismus-Leninismus. Mit dem Wort Wissenschaft wird Großes auf Erden geschaffen, aber mit dem Wort Wissenschaft wird auch viel Unheil angerichtet und Unfug getrieben. Wissenschaft ist die methodische Erforschung der Wirklichkeit. Wissenschaft hat es mit Wahrheit zu tun; sie will die Wahrheit aufdecken, die Wahrheit in der Natur, die Wahrheit in der Geschichte, die Wahrheit im Menschen.

Nun wird die Forderung erhoben, die Wissenschaft solle dem Leben dienen, sie solle lebensnah und lebenskräftig sein. Diese Forderung ist ja nicht falsch. Wie läßt es sich vereinen, daß die Wissenschaft der Wahrheit dient und gleichzeitig dem Leben? Wir fragen zunächst: Was ist denn unter Leben gemeint, wenn wir sagen, die Wissenschaft soll dem Leben dienen? Nun, zunächst einmal kann man unter Leben nichts anderes verstehen als die Wirklichkeit, zu der die Wissenschaft eben eine Beziehung sucht und findet. In einem zweiten Sinne ist Leben die Aufgabe, die uns gestellt ist, und diese Aufgabe soll ja durch die Wissenschaft erleichtert werden. In einem dritten Sinne kann man unter Leben den geistigen Besitz verstehen, den wir unser eigen nennen, also einen seelischen Besitz, dem die Wissenschaft Inhalt und Dasein verleiht.

Der erste Sinn von Leben ist die Wirklichkeit. Die Wissenschaft ist die systematische und methodische Erforschung der Wirklichkeit; sie ist Wahrheitserkenntnis. Wahrheit ist die aufgedeckte, von uns aufgedeckte und erkannte Wirklichkeit. Die Wissenschaft, die am nächsten an der Wirklichkeit ist, die hat auch die größte Lebensnähe. Allerdings muß man sich hier vor Fehlschlüssen hüten. Jede Wissenschaft,  meine lieben Freunde, besteht aus gesicherten Ergebnissen, aus Theorien, aus Hypothesen, aus Vermutungen und aus Irrtümern. Es ist niemals so, daß eine Wissenschaft nur aus gesicherten Ergebnissen bestände, sondern es kommen diese genannten anderen Weisen von vorläufiger Erkenntnis hinzu, Theorien, Hypothesen, Vermutungen und – Gott sei es geklagt – auch Irrtümern. Von allen Wissenschaften kommt wohl die Naturwissenschaft der Wirklichkeit am nächsten, so scheint es. Sie scheint den größten Wahrheitsgehalt zu haben, also auch die größte Lebensnähe. Die Naturwissenschaft in ihren verschiedenen Zweigen, der Biologie, der Physik, der Chemie, diese Naturwissenschaft führt uns tatsächlich in das Leben hinein. Die Geisteswissenschaften haben nicht diese so nahe Beziehung zum Leben. Ich denke vor allem an die Philosophie. Die Vielfalt der Systeme, die sich gegenseitig widersprechen und aufheben, die zahllosen Schulen und Richtungen zeigen schon, daß der gesicherte Wahrheitsertrag der Philosophie denkbar gering ist. Man kann ihn auf wenige Sätze beschränken, und zu deren Gewinnung reicht häufig schon der gesunde Menschenverstand.

Unabhängig von dem Gebrauch, den wir von der Wirklichkeit machen, gibt es eine hierarchische Gliederung der Wirklichkeit, eine Spitze und einen Sockel. Auf der Spitze der Wirklichkeit steht Gott, Gott in einsamer Größe und einzigartiger Fülle des Seins, unter ihm die geistigen Wesen bis hinab zu dem dumpfen Stoff der Materie. So erwächst eben auch der Wissenschaft eine verschiedene Wirklichkeitsnähe, eine verschiedene Lebensnähe. Die verschiedenen Zweige der Wissenschaft nähern sich in verschiedener Weise der Wirklichkeit. Die Theologie beispielsweise hat nur wenige und schwache Beziehungen zu der Wirklichkeit, aber dieser schwache und spärliche Widerhall, den Gott in ihren Gedanken und Formeln gefunden hat, ist doch von ungleich höherem Daseinsgehalt als die Erkenntnisse der Naturwissenschaft oder der Geschichtswissenschaft. Das, was sie uns vermittelt, ist von erheblich größerer, ja unvergleichlicher Bedeutung gegenüber dem, was uns Natur- und Geisteswissenschaften zu vermitteln haben.

Die zweite Bedeutung des Lebens ist die Aufgabe, die uns gestellt ist, das Leben als etwas zu Formendes, als etwas zu Gestaltendes, also eine Wirklichkeit, die erst werden soll und deren Werden eben von der Wissenschaft abhängt. Lebensnahe Wissenschaft ist in diesem Sinne eine Hilfe zur Lebensgestaltung. Diese Hilfe kann in doppelter Weise geschehen, zunächst einmal unmittelbar. Ohne absichtliche Lenkung bestimmt die Wissenschaft unsere Lebensverhältnisse. Denken wir an die gewaltigen Umwälzungen, welche die Naturwissenschaften seit 300 Jahren uns bereitet haben. Angefangen von der Entdeckung der Gesetze des freien Falls bis zu unserer Atomphysik und zu unseren Reisen zu fernen Planeten hat sich eine ungeheure Wirklichkeit aufgetan und hat damit auch unser Leben geprägt. Wir sind durch das, was die Wissenschaft uns eröffnet hat, in irgendeiner Form geprägt worden. Man kann diese Prägung zusammenfassen: Wir sind abhängig geworden von der Maschine. Die Maschine ist es, die der Segen und der Fluch unseres Lebens ist. Daß die Maschine ein Segen ist, leuchtet allen ein, denn sie hilft uns, schwere Arbeiten abzunehmen. Als in der dreißiger Jahren die Autobahnen gebaut wurden, da traten Zehntausende von Arbeitern mit Hacke und Schaufel an. Heute besorgen riesige Straßenbaumaschinen dieses schwere Werk. Und daß Maschine auch ein Fluch sein kann, sehen wir daran, daß durch die Maschine Arbeitsplätze wegrationalisiert werden, wie man heute sagt. Wo früher zehn Mann arbeiteten, bedient heute einer eine Maschine. Der schlesische Dichter Gerhard Hauptmann hat in seinem Drama „Die Weber“ geschildert, wie in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Handweber im schlesischen Gebirge einen Aufstand machten, weil die meschanische Weberei aufkam. Die mechanische Weberei entzog ihnen die Aufträge, und so sind sie in die Fabriken gezogen und haben die mechanischen Webstühle zerstört. Die Technik auch als ein Fluch, die Maschine auch als ein Fluch für den Menschen.

Die zweite Art, wie Wissenschaft dem Leben hilfreich sein kann, lebensgestaltend sein kann, ist der bewußte und gewollte Gebrauch, den die Menschen von wissenschaftlichen Erkenntnissen machen. In diesem Sinne sind wir ja alle aufgerufen, unser Leben nach wissenschaftlichen Erkenntnissen zu formen. Ich denke etwa an die Nahrungsaufnahme; die soll nicht blindlings und nach Geschmack erfolgen, sondern nach wissenschaftlichen Regeln. Die Speisen sollen uns dienlich sein, und wir wissen, was uns dienlich ist. Wir wissen auch, was uns nicht dienlich ist. Wir sollen in unserem Leben die Hygiene beobachten. Schon Kinder werden angeleitet, nicht mit ungewaschenen Händen das Brot anzufassen. Das ist richtig. Die Wissenschaft lehrt uns, wie wir das Leben gestalten können. Und schließlich gibt es Menschen, die meinen, eine wissenschaftliche Weltanschauung gefunden zu haben wie der Volkspolizist in der Ostzone. Freilich war diese Meinung mit Sicherheit falsch, denn der Marxismus-Leninismus ist keine wissenschaftliche Weltanschauung, er ist eine Ideologie. Das heißt, er ist ein Gemächte von Menschen, das geschaffen worden ist, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Seine Beziehung zur Wirklichkeit ist außerordentlich schwach. Es ist gewiß nicht alles falsch, was der dialektische und der historische Materialismus zutage gefördert haben, aber es ist einseitig, und dadurch wird das ganze irrig.

Viele Wissenschaften dienen unserer Lebensbewältigung. Ich denke etwa an die Medizin, die eine rein praktische Wissenschaft ist; ich denke an die Pädagogik, die uns lehrt, wie man Menschen erzieht, Menschen führt; ich denke an die Soziologie, die uns verstehen lehrt, wie Gruppen aufgebaut sind, wie es in ihnen auch Gesetze gibt, zum Beispiel das eherne Gesetz, das Robert Michel entdeckt hat, das eherne Gesetz der Oligarchie: In allen Gruppen, in allen Gemeinschaften gibt es immer (nur) wenige, die führen. Das setzt sich immer durch und wird immer so bleiben. Diese Gesetze sind für die Lebensgestaltung von außerordentlichem Wert. Wir können uns ihrer bedienen, und wir können uns nach ihnen richten.

Freilich kann die zweckhafte In-Dienst-Stellung der Wissenschaft auch zur Gefahr werden. Es kann ein Mißbrauch getrieben werden mit dem reinen Wahrheitsdienst, etwa wenn einer sich der Wissenschaft nur um des Broterwerbs, nur um des Reichtums willen bedient. Das ist ein schändlicherMißbrauch der Wahrheitserkenntnis. Es ist auch ein Mißbrauch, wenn jemand allzu rasch zu Ergebnissen kommen will. Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen reifen, und wenn man sie voreilig verwerten will, dann schlägt das zum Schaden um. Wie oft,  meine lieben Freunde, haben Arzneimittelfirmen Medikamente zurückziehen müssen, weil sie nicht genügend erprobt waren, weil es sich zeigte, daß die Nebenwirkungen stärker waren als die Hauptwirkung; man hat zu rasch mit diesen Medikamenten Geld verdienen wollen. Diese Ungeduld ist ein Feind der wissenschaftlichen Erkenntnis. Jede wahre Wissenschaft muß in Geduld ihre Ergebnisse hervorbringen.

Schließlich gibt es auch die Fälschung, die sich als Wissenschaft ausgibt. Im Jahre 1912 wollte ein Engländer namens Dawson einen Urmenschen entdeckt haben in Piltdown in Südengland. Er wies dem Naturkundemuseum in London einen Schädel wie den eines modernen Menschen mit einem Unterkiefer wie dem eines Orang-Utans vor. „Beides“, sagte er, „habe ich gefunden in der Kiesgrube zu Piltdown.“ Die Entdeckung galt als Sensation. Jetzt glaubte man das missing link, das bisher fehlende Glied zwischen den Vorahnen des Menschen und dem heutigen Menschen gefunden zu haben. Aber die Wissenschaft gab keine Ruhe; sie untersuchte den Fund genau, und nach 50 Jahren kam man dahinter: Dieser sogenannte Fund war eine geschickt angelegte Fälschung. Der Entdecker hatte den Schädel eines modernen Menschen genommen und sich von irgendwo den Unterkiefer eines Affen beschafft und sie zusammengefügt und in der Kiesgrube vergraben. So wurde die Wissenschaft jahrzehntelang in die Irre geführt. Auch das muß man wissen, wenn man gegen allzu naive Wissenschaftsgläubigkeit sich wenden will. Mit dem Schlagwort Wissenschaft ist schon viel Unfug getrieben worden.

Die dritte Weise, wie wir Leben verstehen, besteht darin, daß es ein Erfülltsein, ein Ergriffensein, eine Bewegtheit der Vorstellungen und Empfindungen ist. Die Ergebnisse der Wissenschaft bringen die Seele des Forschers, des Gelehrten in Schwingung. Sie ergreifen ihn, sie entzücken ihn, sie führen ihn zum Staunen, zur Ehrfurcht und zur Dankbarkeit, ja, sie vermitteln ihm einen geistigen Genuß. Und so hat die echte Wissenschaft etwas Prophetisches an sich. Daß es eine solche lebendige Wissenschaft gibt, ist jedem klar, der sich einmal bemüht hat, Erkenntnisse zu gewinnen. Ich erinnere mich, wie mir in der Schule ein Entzücken aufging, als ich den Beweis für den Satz des Pythagoras vorgeführt bekam. Das ist das sogenannte Aha-Erlebnis: Also so ist es? Ja, so muß es sein! Denn der Beweis zeigt es uns. Und so kann also jedes wissenschaftliche Ergebnis einen Menschen mit Freude und Dankbarkeit erfüllen über die Wunder der Natur und über die Kräfte, die in ihr verborgen sind. Eine kühn konstruierte Brücke über einen Fluß, ein Satellit, der in das All geschossen wird, eine Entdeckung von neuen Isotopen in der Chemie, das alles sind Herrlichkeiten, die den Menschen zur Demut und zur Dankbarkeit aneifern sollten. Die Wirklichkeit hat tatsächlich die Macht, in unserer Seele Freude, Staunen, Ehrfurcht und Demut zu erwecken. Und diesen Charakter darf die Wissenschaft nie verlieren. Sie muß immer zu einer Haltung führen, die aus Ehrfurcht, Staunen, Demut und Dankbarkeit zusammengesetzt ist. Die Wissenschaft kämpft nicht mit tönenden Worten und mit klirrenden Waffen, sondern sie wirkt in der stillen Studierstube, im Arbeitszimmer, im Laboratorium oder auf dem Versuchsfeld, und der wirkliche Gelehrte muß immer eine lebendige Persönlichkeit sein, eine Einzelpersönlichkeit. Der Wissenschaftler, der wirklich ein Gelehrter ist, ist eine unersetzbare Einzelpersönlichkeit, und er muß die Wahrheit über alles lieben. Vorläufige Ergebnisse muß er umwerfen, wenn er sich geirrt hat oder von anderer Seite auf den Irrtum hingewiesen wird. Er muß bedingungslos und radikal im Dienste der Wahrheit stehen. Er muß sich neigen und beugen vor der Wahrheit. Denn auch hier,  meine lieben Freunde, auch hier in der Wissenschaft gilt das Wort: „Die Wahrheit wird euch freimachen.“

Amen.

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