Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
19. Oktober 2003

Der Anspruch der Religion an die Glaubensfrömmigkeit

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

In einem seiner Romane schildert Bruce Marshall ein Zwiegespräch zwischen einem Arzt und einem Priester. Der Arzt – wie häufig in Frankreich – ist ein Ungläubiger, und er sagt zu dem Priester: „Die Religion scheint den Leuten nicht zu helfen.“ Da gibt der Priester zur Antwort: „Vielleicht deswegen nicht, weil die Leute der Religion nicht helfen.“

Dieses Zwiegespräch ist von einer großen Tiefe. Es zeigt, daß die Religion eine große Macht ist, wenn sich der Mensch ihr erschließt. Nach dem letzten Kriege hörte man häufig die Rede: Das Christentum hat versagt. Es hat den Krieg nicht verhindern können; das Christentum hat versagt. Darauf hat ein bayerischer General eine Antwort gegeben, die verblüffend ist: „Nicht das Christentum hat versagt“, so hat dieser General Gareis geschrieben, „sondern die Menschen haben sich als unfähig erwiesen, es zu leben.“ Ich meine, das ist eine schlagende Antwort. Nicht das Christentum hat versagt, sondern die Menschen haben sich als unfähig erwiesen, es zu leben. Und darauf kommt beim Christentum alles an, daß man den Glauben hat und daß man den Glauben lebt.

Vor einiger Zeit erklärte mir eine Dame in Budenheim: „Wir sind gläubig, aber nicht fromm.“ Daß sie und ihr Mann nicht fromm sind, kann man daraus ersehen, daß sie niemals einen Gottesdienst besuchen. Ich weiß nicht, ob sie beten. Und Frömmigkeit ist nun einmal das persönliche Verhältnis zu Gott, schließt den Gottesdienst und das Gebet ein. Wie kann man gläubig sein, wenn man nicht fromm ist? Wie kann man den Glauben bewahren ohne Frömmigkeit? Ein Herr erklärte mir: „Ich kann nicht fromm sein.“ Kann er es wirklich nicht, oder will er es nicht? Ist es tatsächlich so, wie der Abbé Gaston sagt: „Vielleicht hilft die Religion deswegen nicht, weil die Leute der Religion nicht helfen.“

Jeder Mensch hat eine religiöse Anlage; es gibt keinen Menschen ohne religiöse Anlage. Die religiöse Anlage ist dem Menschen mit seiner Natur als Geschaffener gegeben. Weil er von Gott kommt und zu Gott geht, trägt er eine religiöse Anlage, ein Sich-Hinwenden zu Gott in sich. Diese religiöse Anlage ist so tief im Menschen verankert, daß sie niemals ausgelöscht werden kann. Der Mensch kann sie überdecken, er kann sie mißachten, er kann die religiöse Anlage unausgebildet lassen, aber zerstören kann er sie nicht. Und das,  meine lieben Freunde, ist die Chance der Religion, ist die Chance auch der Kirche. Der Mensch hat von Natur aus eine Verwiesenheit auf Gott, und es gilt, diese Verwiesenheit ihm bewußt zu machen. Es gilt, ihm die Anlage zur Tätigkeit überzuführen. Das ist die Aufgabe, die wir haben gegenüber unseren Mitmenschen, gegenüber unseren Zöglingen, gegenüber unseren Kindern. Wir müssen ihnen bewußt machen, daß sie eine religiöse Anlage in sich tragen, die sie ausbilden müssen.

Nun gibt es seelische Kräfte, Stimmungen, Neigungen, die der religiösen Anlage auf die Beine helfen, die unter günstigen Umständen ein Aufblühen der religiösen Anlage ermöglichen. Religion, Frömmigkeit ist ein Gemeinschaftsverhältnis, nämlich eine Gemeinschaftsbeziehung zu Gott. Daraus ergibt sich, daß Religion nur der Mensch haben kann, der gemeinschaftsfähig ist. Die Gemeinschaftsfähigkeit unter Menschen gestattet, ermöglicht, erleichtert auch die Gemeinschaft mit Gott. Wer nur das Ich kennt, kann Religion schwerlich ausbilden, kann Frömmigkeit kaum in sich tragen. Hemmungslose Genußmenschen, rücksichtslose Nützlichkeitsmenschen, blinde Egoisten sind wesentlich unreligiöse Menschen. Sie tragen, weil sie keine Liebe in sich haben, auch keinen Keim zur Religion in sich. Umgekehrt: Wer zur Liebe fähig ist, das hat schon einen religiösen Keim in sich. Jede Spur von Güte und Hingebungsbereitschaft, von Hilfsbereitschaft ist keimhaft eine Möglichkeit zu Gott. Das sittlich bestimmte Wesen ist ein Talent zu Gott, und sittlich bestimmt ist nur ein Wesen, das sich dem anderen, das sich dem Mitmenschen zuwendet.

Im Menschen liegt eine Anlage zu Gott, eine religiöse Anlage. Aber die Anlage bedarf der Ausbildung. Sie muß durch einen umfassenden Gottesbegriff unterstützt werden. Dieser Gottesbegriff muß immer zwei Seiten einschließen: das Herrentum Gottes und seine Vatergüte, seine unbegreifliche Ferne und seine beglückende Nähe, das unnahbare Geheimnis, das Gott ist, und seine traute Verständlichkeit. Dieser umfassende Gottesbegriff ist geeignet, die Frömmigkeit zu unterstützen, auszubauen und zum Blühen zu bringen. Der Gott, der das All in seinen Händen trägt und der sich um den armen Sperling kümmert, dieser Gott ist geeignet, die fruchtbaren Spannungen in den seelischen Anlagen des Menschen zu erfüllen und zu bewahren.

Da sehen wir,  meine lieben Freunde, welche Verantwortung wir in uns tragen, daß wir den Menschen das rechte Bild von Gott vermitteln, wir Priester und Prediger, aber auch alle Gläubigen, die irgendwie auf andere Menschen einwirken können und einwirken müssen. Wir müssen ihnen die rechte Weise, Gott zu sehen, beibringen und auf diese Weise ihnen den Weg zur Frömmigkeit behnen.

Religion geht immer auf ein Geheimnis, denn Gott ist ein Geheimnis. Das heißt, Religion überschreitet die Erfahrung der Sinne, ja sie überschreitet sogar die Erfahrung des Denkens. Religion verlangt Glauben. Glauben ist ein vielschichtiger Begriff. Er schließt sicher und ohne Ausnahme das Fürwahrhalten in sich. Glauben ist Fürwahrhalten dessen, was Gott uns geoffenbart hat, aber er ist noch mehr. Glauben ist ein Überschreiten seiner selbst, ist ein Hineingehen und ein Zugehen auf Gott. Glauben ist ein Umfassen des göttlichen Wertes. Glauben ist eine Geräumigkeit der Seele, ein leidenschaftliches Aufgebot aller Seelenkräfte hin zu Gott. Wer Glauben hat, der sprengt des Kreis der Gewöhnlichkeit, der Banalität, der Ideallosigkeit, der dringt ins Unendliche vor, denn Religion geht ja auf den Unendlichen, und Glaube umfaßt den Unendlichen. Wer keine solche Ausdrucksgewalt in sich trägt, der hat auch keine bedeutende religiöse Anlage. Die Kaninchenseelen – die Kaninchenseelen finden schwer zu Gott.

Der religiöse Glaube,  meine lieben Freunde, ist ein wahrhaft schöpferisches Ereignis. Er ist ein Nachschaffen der Wirklichkeit. Religion ist keine Illusion, kein Traum, kein Phantasie. Religion ist ein Hingehen auf die Wirklichkeit Gottes, und deswegen setzt sie ein Feingefühl für die verborgene Wirklichkeit Gottes voraus, ein feines Hören auf den verborgenen Gott, ein feines Sehen des verborgenen Gottes. Gott ist ja das Stillste, was es gibt, und deswegen muß man die Ohren anstrengen, um ihn zu hören. Er muß erlauscht werden. Nur der Mensch, der ein feines Lauschen besitzt, kann Gott hören. Aber wer dieses Lauschen besitzt, der spürt ihn aus den Sternen und aus dem Sturme, der spürt ihn im Gewissen und in den Schicksalen, zu dem spricht er aus dem Meer und aus den Menschen.

Religion ist immer eine Angelegenheit zwischen der Seele und Gott. Erst, wenn man die Religion so begründet hat, wirkt sie in die Welt hinaus. Der Weg zur Welt führt immer erst über das Verhältnis zu Gott. Aber dann muß auch von Gott der Weg in die Welt beschritten werden, d.h. die Religion muß kulturschöpferisch sein. Die Religion muß sich in der Welt auszeugen. Die kulturschöpferische Kraft der Religion zeigt sich aber nicht in den zivilisatorischen und organisatorischen Leistungen, die Anhänger einer bestimmten Religion vollbringen. Man hat auf protestantischer Seite immer versucht, die Berechtigung dieser Religion damit zu beweisen, daß man auf die kulturschöpferischen Leistungen hinwies, auf Johann Sebastian Bach meinetwegen oder auf andere Protestanten, die in der Welt der Kultur etwas geschaffen haben. Das ist nicht die kulturschöpferische Kraft der Religion. Das ist etwas ganz Sekundäres. Die kulturschöpferische Kraft der Religion zeigt sich darin, daß sie den Menschen zu einem gottgemäßen Wandel anleitet, daß sie den Menschen schafft, der von Gott geformt und von Gott geprägt ist. Die kulturschöpferische Kraft zeigt sich in der Läuterung des Gewissens, in der Veredelung der Gesinnung und in der Verfeinerung des Zusammenlebens. Jawohl, das ist die kulturschöpferische Kraft der Religion.

Religion ist ein Gemeinschaftsverhältnis zwischen Seele und Gott. Deswegen ist sie auch ein Nährboden für wirkliche Gemeinschaft, ein Keim, aus dem Gemeinschaftsleben sprießen kann. Das heißt, Religion drängt zur Kirchenbindung. Religion und Kirchlichkeit sind verschwistert, sollen miteinander wachsen und sollen miteinander blühen. Die religiöse Anlage soll sich in der Kirche ausleben und ausschwingen können. Unsere Kirche hat ja tatsächlich eine solche Weite, daß die verschiedensten religiösen Anlagen, vom Einsiedler auf einem stillen Berg bis zum blühenden Kloster in der Stadt, sich entfalten können. Die religiöse Anlage muß sich kirchlich entwickeln können. Unkirchlicher Sinn ist auch gewöhnlich mit Mangel an Religiosität verbunden. Die Kirche, das ist ja natürlich auch Apparat, das ist auch Organisation, das sind Menschen, Menschen mit ihren Allzu-Menschlichkeiten. Und daran nehmen viele Anstoß, ungerechten Anstoß, denn die Kirche ist notwendig. Ohne die Kirche wäre das Evangelium längst vergessen. Ohne Papst und ohne Kardinäle und ohne Bischöfe wäre der Glaube längst verunstaltet. Ohne das Wächteramt eines Kardinal Ratzinger wäre die Glaubenssubstanz längst verschleudert worden. Die Religion bedarf der Kirche. Das hat wiederum der schottische Dichter Bruce Marshall wunderbar ausgedrückt. Er läßt in einem seiner Romane einen Bischof sprechen: „Das kirchliche Christentum ist für die Religion ebenso notwendig wie eine Flasche für den Wein. Die Leute leben irrtümlich in der Einbildung, sie müßten auch die Flasche mittrinken. Sie begreifen nicht, daß man die Form haben muß, um den Geist zu fassen, und den Geist, um die Form auszufüllen. Eins ohne das andere taugt nicht viel.“ Genau so ist es, wie Bruce Marshall es hier sagt. Die Religion, die Frömmigkeit bedarf der Kirche, auch ihrer Organisation, auch ihrer regelmäßigen Gottesdienste, auch ihrer Sakramente und auch ihres Rechtes. Denn ohne diese Form würde der Geist, würde der Inhalt längst verflüchtigt sein.

Meine lieben Freunde, fromm sein kann nur der Mensch, der eine Anlage für das Grenzenlose und für das ganz andere in sich trägt, ein Mensch, der zu einer Welt tendiert, die der Ewigkeit angehört. Fromm sein kann aber auch jeder Mensch, der irgendwie eine augustinische Unruhe in sich trägt, ein Mensch, der eine nicht zu stillende Sehnsucht in sich hat nach dem ganz anderen und Göttlichen. Fromm sein kann jeder Mensch, der nicht an sich selbst sein Genüge findet.

Amen.

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