Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
15. November 1998

Das Recht und die Pflicht zur Notwehr

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

An den vergangenen Sonntagen hatten wir betrachtet, welche Pflichten der Einzelne gegenüber den geistigen Werten des anderen hat. Heute wollen wir beginnen zu überlegen, welche Pflichten wir gegenüber den leiblichen Gütern des anderen haben. Die leiblichen Güter sind Gesundheit, das Leben als solches, Freiheit, Schutz vor Verstümmelung, vor Mißhandlung. Alle Rechte des Menschen gehen ja zurück auf Pflichten vor Gott. Weil wir die Pflicht haben, unser Leben nach Gottes Geboten zu vollziehen und dadurch den Himmel zu gewinnen, erstreckt sich diese Pflicht auch auf den Leib. Denn die Seele bedarf, um ihre Aufgabe auf Erden zu erfüllen, des Leibes, und so sind wir verpflichtet, das Leibesleben zu schützen und zu bewahren. Ja, wir haben ein Recht, daß unser Leibesleben geschützt und erhalten wird. Wir haben die Pflicht der Gerechtigkeit und manchmal auch der Liebe, das Leibesleben des anderen zu schützen und zu bewahren. Er hat ein Recht, sein Leben zu erhalten, er hat ein Recht, sein Leben gegen Beeinträchtigung zu schützen. Wir sind verpflichtet, diese Rechte zu achten.

Freilich ist das Recht auf Leben und auf Schutz vor Beeinträchtigung des Lebens nicht unbegrenzt. Es gibt Fälle, in denen Eingriffe in das Leben zulässig sind, ja manchmal geboten sind. Der Staat hat das Recht, aus schwerwiegenden Gründen des Gemeinwohls Übeltäter zu bestrafen, auch am Leibe, ja auch – und das ist die Verkündigung der Kirche von Anbeginn bis heute – mit der Todesstrafe. Es gibt weiter das Recht, sich gegen ungerechte Angriffe zu wehren durch Notwehr. Und schließlich wird man, auch wenn es dem Zeitgeist widerspricht, den Eltern ein maßvolles Recht auf Züchtigung der Kinder zubilligen müssen.

Eingriffe in das Leben des anderen sind auch möglich, zulässig, unter Umständen pflichtmäßig bei Krankheiten. Ein Arzt kann es verantworten, daß er ein Glied vom Leibe abtrennt, um den ganzen Leib zu retten. Auch die Verwendung narkotischer Mittel ist nicht verboten, wenn sie zur Erhaltung der Gesundheit oder zur Bewahrung vor großen Schmerzen notwendig ist.

Wir wollen heute, an diesem Sonntag, von einem Eingriff in das Leben des anderen sprechen, den wir Notwehr nennen. Notwehr ist die notgedrungene Selbsthilfe zur Abwehr eines ungerechten gegenwärtigen Angriffs von sich selbst oder von einem anderen. Dieser Begriff der Notwehr ist sogar in unser Bürgerliches Gesetzbuch eingeflossen. Im § 227 heißt es: „Die Notwehr ist nicht widerrechtlich. Notwehr ist diejenige Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen widerrechtlichen Angriff von sich oder anderen abzuwenden.“ Das Bürgerliche Gesetzbuch spricht hier gleichsam die Sprache der katholischen Theologie. Genauso ist es gemeint, und genauso muß es verstanden werden.

Wir müssen die einzelnen Momente der Notwehr bedenken. Es muß sich um eine notgedrungene Selbsthilfe handeln; denn nur, wenn wirkliche Not vorhanden ist, darf man zur Notwehr greifen. Wenn andere Mittel genügen, muß man andere Mittel anwenden. Es muß die Notwehr das einzige zur Verfügung stehende Mittel sein, um einer Gefahr zu begegnen, um das Leben oder die Gesundheit oder das Eigentum zu erhalten. Die Notwehr kann sich auf die genannten Güter richten: Leben, Gesundheit, Eigentum, aber auch auf die sittliche Unversehrtheit des Leibes; man darf sich zur Bewahrung der Keuschheit der Notwehr bedienen. Es muß sich sodann um einen gegenwärtigen Angriff handeln. Der Angriff darf also normalerweise nicht in der Zukunft liegen, er darf auch nicht der Vergangenheit angehören. Wenn ein Dieb mit seiner Beute verschwunden ist und ich treffe ihn später, dann habe ich kein Recht der Notwehr, denn bei Notwehr muß es sich um einen gegenwärtigen Angriff handeln. Es muß schließlich ein widerrechtlicher Angriff sein. Wenn ein Polizeibeamter jemanden verhaftet, dann ist das nicht widerrechtlich. Das ist in seinen Befugnissen als Organ der staatlichen Macht begriffen, daß er auch verhaften darf. Also nur, wenn die genannten Momente zusammenkommen, dürfen wir von Notwehr sprechen.

Ist denn die Notwehr berechtigt? Gibt es nicht Stellen der Heiligen Schrift (die wir noch nennen werden), die dem Recht der Notwehr zu widersprechen scheinen? Worauf gründet sich das Recht der Notwehr? Es sind vor allem drei Begründungen vorzutragen. Erstens: Es gibt Handlungen mit doppelter Wirkung. Die eine Wirkung ist beabsichtigt, die andere wird zugelassen. Sie wissen alle, meine lieben Freunde, daß es solche Handlungen gibt, etwa, wenn wir Medikamente einnehmen. Medikamente haben eine Hauptwirkung, die wir beabsichtigen, und sie haben Nebenwirkungen, die wir nicht hindern können. Aber beabsichtigt, intendiert, ist nur die Hauptwirkung. Und so gibt es auch viele andere Handlungen, die doppelte Wirkungen haben. Bei der Notwehr ist die Rettung des eigenen Lebens, des Eigentums oder der Keuschheit intendiert; die Verletzung oder die Tötung des Angreifers wird nur in Kauf genommen. Der zweite Grund liegt in dem Trieb zur Selbsterhaltung. Jeder Mensch spürt einen solchen Trieb in sich, das Leben, die Gesundheit, die Kraft zu erhalten. Dieser Trieb ist von Gott in den Menschen hineingelegt. Es ist die Sprache der Natur, nein, es ist die Sprache des Schöpfers der Natur, die wir in diesem Trieb zur Selbsterhaltung vernehmen. Der Mensch hat ein Recht, sein Leben zu verteidigen; der Trieb zur Selbsterhaltung spricht dieses Recht aus. Drittens: Das Gemeinwohl verlangt, daß ein ungerechter Angreifer nicht ohne Gegenwehr davonkommt. Die Sicherheit und die Wohlfahrt der Gesellschaft fordern, daß einem ungerechten Angreifer widerstanden wird, man würde sonst das Unrecht ermutigen. Man würde dem rohen Gewalttäter Tür und Tor öffnen, wenn man nicht dem Einzelnen das Recht gäbe, sich gegen einen ungerechten Angreifer zur Wehr zu setzen.

Freilich muß man bei der Notwehr das rechte Maß beobachten. Man darf dem anderen nicht stärkere Verletzungen zufügen, wenn es mit geringeren Verletzungen getan ist. Man darf nicht jemanden töten, wenn man ihn mit der Verwundung abwehren kann. Man muß also den Zweck bedenken, und man muß die Mittel bedenken und das rechte Maß bei der Selbstverteidigung einhalten. Die Rechtsgelehrten sprechen von Notwehrexzeß, von Übertreibung in der Notwehr. Wenn die Übertreibung beabsichtigt war, dann ist sie schuldhaft. Aber es gibt auch eine unbeabsichtigte; denn wer kann schon in der Erregung, in der Angst in wenigen Augenblicken überlegen, welches jetzt das rechte Maß ist, um einen ungerechten Angreifer abzuwehren! Deswegen wird man bei Notwehrexzeß häufig auf Schuldlosigkeit plädieren müssen.

Die Notwehr kann angewendet werden, um einen ungerechten Angriff von sich selbst, aber auch von anderen abzuwehren. Wir dürfen einem Bedrohten zu Hilfe eilen; manchmal müssen wir es. Es gibt sogar eine Pflicht, dem anderen zu Hilfe zu kommen, etwa, wenn es nahe Anverwandte sind, wenn es Angehörige sind, denen ein ungerechter Angreifer sich naht. Eine Pflicht besteht auch, wenn das Gemeinwohl es fordert, daß wir dem anderen Hilfe leisten. Und schließlich kann das Amt einen verpflichten, Notwehr zu üben zugunsten eines anderen. Polizeibeamte, die hochgestellten Persönlichkeiten als Leibwächter an die Seite gestellt sind, haben die Pflicht, ihr eigenen Leben einzusetzen, um Gefahren, um Verletzungen, um Schäden von den ihnen anvertrauten Personen abzuwenden. Es ist das keine leichte Pflicht, und es ist nicht bequem, Notwehr für andere zu leisten. Wir lesen manchmal in der Tagespresse, wie Menschen, junge Menschen, Mädchen in der S-Bahn nach Frankfurt bedroht werden, wie sie sexuell belästigt werden, wie ihnen Handtaschen entrissen werden, und – Gott sei es geklagt! – häufig steht dabei: „Keiner der Fahrgäste eilte den bedrängten Personen zu Hilfe.“ Die Angst hat sie gelähmt. Sie mochten sich nicht in die Gefahr begeben, die eben entsteht, wenn man einem anderen gegen ungerechte Angreifer zu Hilfe eilt. Anders haben sich verhalten viele katholische Priester in Schlesien. Als die Rote Armee 1945 einbrach, haben sie sich vor die Frauen und Mädchen gestellt, um sie vor der Vergewaltigung durch die roten Horden zu bewahren. 60 Priester der Erzdiözese Breslau haben dabei den Tod gefunden. Heute macht man der Generation, die vor 60 Jahren gelebt hat, den Vorwurf, sie sei den Juden nicht zu Hilfe geeilt, als am 9. November 1938 Synagogen angezündet wurden, Juden verprügelt und verhaftet wurden. Meine lieben Freunde, diese Ereignisse kamen völlig überraschend; ich habe sie ja miterlebt. Niemand wußte, daß so etwas geschehen würde. Wir waren alle davon betroffen. Was hätte der Einzelne tun können gegenüber den bewaffneten Männern, die Juden ein Leid antaten? Sie wären wahrscheinlich in dieselbe Lage versetzt worden, d.h. verprügelt zu werden oder eingesperrt zu werden. Man darf bei der Notwehr bedenken, ob der Einsatz einen Erfolg haben wird. Bei der damaligen Situation hätte der Einsatz mit Sicherheit keinen Erfolg gehabt. Infolgedessen kann man auch niemandem einen Vorwurf machen, daß er bei dieser aussichtslosen Lage nicht eingegriffen hat. Es ist leicht, über vergangene Ereignisse herzufallen und frühere Generationen der Schuld zu bezichtigen, wenn man selbst niemals in diese Situation gekommen ist.

Nun gibt es freilich auch Einwände gegen das Recht der Notwehr. Man verweist auf die Heilige Schrift, auf die Bergpredigt, wo es heißt: „Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist: ,Aug’ um Aug’, Zahn um Zahn.’ Ich aber sage euch: Ihr sollt dem Bösen nicht widerstehen, sondern wenn dich jemand auf deine rechte Wange schlägt, so halte ihm auch die andere hin! Und will jemand mit dir vor Gericht streiten und dir deinen Rock nehmen, so lasse ihm auch den Mantel! Und wer dich nötigt, eine Meile mitzugehen, mit dem mache einen Weg von zwei!“ Ist hier nicht die Notwehr ausgeschlossen, oder wie ist diese Stelle zu verstehen? Es gibt zwei Erklärungen dieses Textes. Erstens: Man sagt, das ist Gesinnungsethik. Jawohl, man soll die Gesinnung haben, daß man sich an niemandem rächt, daß man niemandem Böses mit Bösem vergilt. Aber dadurch wird die Notwehr nicht zur Sünde gestempelt. Man muß sich nicht wehren, aber man darf sich wehren. Also der Herr gibt zwar keinen Befehl, Notwehr zu üben, aber er verbietet sie auch nicht. Eine zweite Erklärung geht davon aus, daß in diesem Text immer schon von ungerechten Maßnahmen die Rede ist, die in der Vergangenheit liegen, während bei der Notwehr der Angriff in der Gegenwart liegt. Wenn der Angriff in der Vergangenheit erfolgt ist, darf ich mich nicht rächen. Rache heißt eben, etwas vergelten, was der andere mir bereits angetan hat. Bei der Notwehr geht es aber darum, etwas zu verhindern, was mir angetan werden soll. Die Notwehr richtet sich auf etwas Gegenwärtiges. Das Verbot der Wiedervergeltung schaut in die Vergangenheit. Ich glaube, so kann man diese Stelle erklären, und diese Erklärungen passen auch zu dem ganzen Verhalten Jesu und des Apostels Paulus. Der Herr hat ja bekanntlich in seinem Prozeß Mißhandlungen erlitten. Er erhielt einen Backenstreich und bekam gesagt: „Antwortest du so dem Hohenpriester?“ Jesus entgegnete dem, der ihn geschlagen hatte: „Habe ich Unrecht geredet, so beweise es, daß es Unrecht war! Habe ich aber recht geredet, warum schlägst du mich?“ Er hat also nicht die linke Wange hingehalten, er hat sich verteidigt. Ähnlich der Apostel Paulus. Paulus war vor Gericht, vor dem Hohen Rate. Der Hohepriester Ananias befahl den neben ihm Stehenden, ihn auf den Mund zu schlagen. Paulus sprach zu ihm: „Dich wird Gott schlagen, du übertünchte Wand! Du sitzest da, um mich zu richten nach dem Gesetz, und wider das Gesetz läßt du mich schlagen.“ Also auch Paulus hat sich gegen Unrecht gewehrt. Er hat den Schlag nicht einfach hingenommen und geschwiegen, sondern er hat auf das Gesetz und die Gerechtigkeit verwiesen.

So, meine ich, ist unsere katholische Kirche im Recht, wenn sie beides verkündet, die hohe Forderung, auf Rache und Wiedervergeltung zu verzichten, nicht Böses mit Bösem zu vergelten, sondern dem Zorngerichte Gottes Raum zu lassen. Und auf der anderen Seite, wenn sie sagt: Es ist gestattet, Gewalt mit Gewalt zurückzuweisen. Vim vi repellere licitum est – Es ist erlaubt, die Gewalt mit Gewalt zurückzuschlagen.

Amen.

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