Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
11. Januar 1998

Die Pflichten gegen den Leib

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Hochstehende Christen haben die Angewohnheit, ihre Gewissenserforschung vor dem Empfang des Bußsakramentes in der Weise zu gestalten, daß sie sich erstens über die Sünden gegen sich selbst, zweitens über die Sünden gegen den Nächsten und drittens über die Sünden gegen Gott erforschen. Die Reihenfolge kann auch umgekehrt werden, zuerst die Sünden gegen Gott, dann gegen den Nächsten und gegen sich selbst. In jedem Falle ist eine von den drei Erforschungen auf die Sünden gegen sich selbst gerichtet. Denn der Mensch, so haben wir am vergangenen Sonntag erkannt, der Christ hat die Pflicht der Selbstliebe. Diese Pflicht bezieht sich auf Seele und Leib. Heute ist es unsere Aufgabe, von der Verpflichtung des Menschen gegenüber seinem Leib zu sprechen.

Der Leib ist von Gott geschaffen. Was von Gott geschaffen ist, kann nur gut sein; also müssen wir unseren Leib lieben als ein Geschöpf Gottes. Der Leib ist das Organ der Seele. Die Seele bedient sich seiner. Der Leib dient der Seele als Werkzeug und Ausdrucksmittel. Die Seele ist forma corporis, wie die Philosophie uns belehrt. Das heißt: Die Seele ist das belebende und leitende Prinzip des Körpers. Also muß der Körper ein möglichst geeignetes Werkzeug für die Seele sein. Also müssen wir ihn zu einem geeigneten Werkzeug der Seele machen durch Askese, durch Zügelung des sinnlichen Begehrens, durch Übung und Training. Der Leib ist aber auch ein Tempel des Heiligen Geistes. Er ist geweiht durch die Sakramente. Im Leibe empfangen wir unseren Herrn und Heiland im heiligsten Sakrament der Eucharistie. Also ist der Leib in das Heilsgeschehen hineingezogen. Der Leib ist wahrhaftig beteiligt an unserer übernatürlichen Berufung und bestimmt zur jenseitigen Seligkeit.

Wenn der Leib eine so hohe Stellung im Plane Gottes hat, muß er auch vom Menschen entsprechend geschätzt werden. Wir müssen den Leib als Gabe Gottes und als Werkzeug unseres seelischen Lebens und als berufen zur Seligkeit hochschätzen. Die Mißachtung des Leibes, wie sie beispielsweise bei den Manichäern üblich war, oder die Bezeichnung des Leibes als Kerker der Seele, wie sie im Platonismus üblich war, ist keine christliche Anschauung. Der Leib ist das Werkzeug und Organ der Seele und als solcher Gott wohlgefällig. Der Leib dient uns als Mittel zur Vorbereitung auf die Seligkeit. Wir wirken unser Heil – oder unser Unheil – im Leibe. Der Leib ist uns gegeben, damit wir die Aussaat auf dieser Erde betreiben, damit wir am Wettkampf teilnehmen, der uns zum Himmel führen soll, damit wir als tüchtige Arbeiter im Weinberg Gottes erfunden werden, damit wir ihn zur Verherrlichung Gottes benutzen. „Verherrlicht Gott in eurem Leibe!“

Auch das Leiden ist gottgewollt, das Leiden des Leibes ist gottgewollt. Die Leiden haben verschiedene Aufgaben. Sie können Strafe für die Sünden sein. Leiden können zur Bestrafung von Sünden dienen. Häufig können wir ziemlich genau angeben, welche Sünden es sind, die durch Leiden des Leibes bestraft werden. Nicht immer freilich sind Leiden des Leibes Bestrafung für begangene Sünden. Die Leiden des Leibes können auch zur Erprobung und Bewährung dienen. Gott sendet denen, die ihm etwas wert sind, Leiden, damit sie als ihm treu und ergeben befunden werden. Die Leiden, die uns Gott schickt, sollen unsere Geduld vermehren und unsere Ergebung in Gottes Willen. Wir sollen sie verstehen als Teilnahme an den Bedrängnissen Christi.

Die Leiden des Leibes verleiten manchen Menschen, sich den Tod zu wünschen. Das ungeordnete Verlangen nach dem Tode aus Überdruß an den Mühsalen des Lebens ist nicht recht. Aber es gibt eine Sehnsucht nach dem Tode, die Gottes Willen entsprechend ist, die Paulus im Philipperbrief mit den Worten ausdrückt: „Ich wünsche aufgelöst und bei Christus zu sein.“ Dieses Verlangen nach dem Tode als dem Anfang der Gemeinschaft mit Christus ist zulässig. Wenn es in Ergebung gegen den Willen Gottes geschieht, dürfen wir uns wünschen, aufgelöst zu werden und bei Christus zu sein.

Wegen der hohen Bedeutung des Leibes und des Leibeslebens dürfen wir alle Gebrauchsgüter, die Gott geschaffen hat, benutzen. Es ist von der Kirche wiederholt abgewiesen worden, bestimmte irdische Werte als Unwerte auszugeben. Im ersten Brief an Timotheus schreibt Paulus: „Der Geist sagt es deutlich, daß in den späteren Zeiten einige vom Glauben abfallen und Geistern der Verführung und Teufelslehre Gehör schenken werden. Diese reden in Lüge und Heuchelei und haben das Brandmal an ihrem eigenen Gewissen. Sie verbieten die Ehe, verlangen Enthaltung von Speisen, die Gott geschaffen hat, damit die Gläubigen und alle, welche die Wahrheit erkannt haben, mit Dank sie genießen sollen. Denn alles, was Gott geschaffen hat, ist gut und nichts verwerflich, was man mit Dank genießt. Es wird ja geheiligt durch Gottes Wort und Gebet.“ Also Abwehr der Ansicht der Enkratiten und anderer Sekten, welche die Ehe verbieten oder welche den Menschen bestimmte Speisen versagen. Das ist keine christliche Auffassung. Der Christ darf alle Gebrauchsgüter – freilich in geordneter Weise – besitzen und genießen. Deswegen ist auch die verpflichtend erhobene Forderung nach Vegetarismus, also Enthaltung von Fleischspeisen, keine christliche Forderung. Der einzelne kann so leben; es ist ihm unbenommen. Aber es als allgemeine Forderung aufzustellen, ist nicht berechtigt. Ja, es ist nicht einmal berechtigt, von einem jeden totale Abstinenz von alkoholischen Getränken zu verlangen. Für den einzelnen kann eine Pflicht bestehen, wenn er erkennt, daß er sich dadurch zugrunderichtet. Aber allgemein alkoholische Getränke verbieten zu wollen, ist nicht christlich. Denn auch der Wein ist von Gott geschaffen und kann des Menschen Herz erfreuen.

Die Pflichten gegenüber dem Leib verteilen sich auf verschiedene Gebiete, nämlich Nahrung, Kleidung und Wohnung. Der Mensch muß den Leib nähren, ja er muß ihn gesund und kräftig erhalten. Das Maß der Speisen und die Qualität der Speisen richten sich nach verschiedenen Gesichtspunkten. Man muß soziale und individuelle Gesichtspunkte beachten, wenn man Maß und Art der Speisen bestimmen will. Man muß also auch Rücksicht nehmen auf die Umwelt. Man darf nicht essen und trinken und zechen, als ob es keine anderen Menschen gäbe, die in Dürftigkeit und Armut und Not leben. Man muß Rücksicht nehmen auf die bedürftigen Menschen in unserem Kulturkreis, aber auch in anderen Kulturkreisen. Sodann ist zu beachten, daß das individuelle Maß und die individuelle Art der Speisen sich nach dem einzelnen richtet, je nach seiner Arbeit. Die Älteren von uns erinnern sich, daß es im Kriege Lebensmittelkarten für Normalverbraucher gab, aber auch für Schwerarbeiter und Schwerstarbeiter. In dieser Staffelung wurden den einzelnen Lebensmittel zugeteilt, durchaus berechtigt. Wir können daraus lernen, daß wir das Maß und die Art der Speisen, die wir uns zuführen, nach unserer Beschäftigung, nach unserer Betätigung, nach unserer Arbeit zu bemessen haben. Das Maß der Speisen ist vor allem deswegen wichtig, weil das sinnliche Begehren des Menschen leicht zum Übermaß neigt. Infolge unserer verkehrten Neigungen ist der Mensch in Gefahr, daß er beim Essen oder beim Trinken das gottgewollte Maß überschreitet. Der Apostel Paulus mahnt davor, sich Schwelgereien und Trinkgelagen zu übergeben. „Lasset uns ehrbar wandeln wie am Tage, nicht in Schwelgereien und Trinkgelagen!“ Um das Übermaß zu vermeiden, gibt es verschiedene Mittel. Ein Mittel ist, daß man beim Essen betet. Das Bittgebet vor dem Essen und das Dankgebet nach dem Essen sind wichtige Mittel, um eine geordnete Nahrungsaufnahme zu gewährleisten; denn wer Gott anruft beim Essen und Trinken, der wird auch nach Gottes Willen die Speisen zu sich nehmen. Ein weiteres Mittel, um Maß zu halten in Speise und Trank, ist die freiwillige Enthaltsamkeit. Meine lieben Freunde, man darf sich nicht alles Erlaubte gestatten, wenn man das Unerlaubte meiden will. Man muß sich im Erlaubten Abbruch tun, um dem Unerlaubten wirksam begegnen zu können. Also nicht immer, aber immer wieder auch sich Abbruch tun, auf etwas verzichten, etwas weniger nehmen als man nehmen könnte und nehmen möchte, um auf diese Weise die Herrschaft des Geistes über das Animalische in uns zu befestigen.

Als ich Student im Priesterseminar in München war, sagte uns einmal der Regens ein Wort, das ich nie vergessen habe: „Man ist nicht nur auf einem Gebiet unenthaltsam.“ O, ein wahres, ein kluges Wort! Wer sich auf einem Gebiet nicht beherrscht, bei dem besteht die Gefahr, daß er sich auch auf anderen Gebieten nicht zusammennehmen kann. Man muß sich auf allen Gebieten beherrschen, damit man auf allen Gebieten das rechte Maß einhält. Die Unmäßigkeit kann eine schwere Sünde sein, denn sie ist eine Wurzelsünde, und die Mäßigkeit ist eine Haupttugend, eine Kardinaltugend. Wir wissen, was aus Unmaß im Essen und Trinken für Schäden entstehen, gesundheitliche Schäden, Ärgernis bei anderen, Streit, Eifersucht, geschlechtliche Ausschweifung. Das sind die Folgen des Übermaßes beim Essen und Trinken. Deswegen also den Leib in das rechte Maß zwingen und ihm nicht mehr gestatten, als der Geist verantworten kann. Hierher gehört selbstverständlich auch das Vermeiden von Drogen. Heute suchen viele Menschen, vor allem junge Menschen Vergessen, Betäubung, Gehobenheit im Genuß von Drogen. Die Wurzel dieses Suchens ist der Verlust Gottes. Wer Gott verloren hat, dem ist auch die Freude entschwunden. Wer Gott nicht mehr besitzt, der muß sich in künstlicher Weise stimulieren, um zu einer Scheinfreude zu gelangen. Wer Gott nicht sucht, verfällt der Sucht.

Die zweite Aufgabe gegenüber dem Leib ist die Kleidung. Der Leib muß ja geschützt werden. Die Kleidung hat eine dreifache Funktion: eine Schutzfunktion, eine Ausdrucksfunktion und eine Sozialfunktion. Am offenkundigsten ist die Schutzfunktion. Wir schützen uns gegen Hitze und Kälte durch die Kleidung; das ist die biologische Schutzfunktion. Selbstverständlich umgreift die Schutzfunktion auch das sittliche Gebiet. Die Kleidung dient auch zum Schutze der Sittlichkeit; denn eine aufreizende Kleidung kann sündhaft sein. Wir machen uns schuldig an Sünden anderer, an fremden Sünden, wenn wir eine solche Kleidung tragen, und ich glaube nicht, daß, was man so oft hört, richtig ist: Die Menschen haben sich daran gewöhnt. Haben sie sich vielleicht auch daran gewöhnt, sinnliche und unkeusche Gedanken zu haben? Man kann sich an alles gewöhnen, auch an das Böse. Eine aufreizende Kleidung bleibt eine Gefahr. Man mag die Kirche kritisieren, wenn sie dagegen ihre Stimme erhebt. Die Kritik ist kein Maßstab für sittliches Verhalten, wenn Gottes Gebot dagegensteht.

Die zweite Funktion der Kleidung ist die ethisch-ästhetische Ausdrucksfunktion. Die Kleidung soll etwas ausdrücken. Sie soll eine bestimmte Haltung ausdrücken. Aus der Kleidung kann man ablesen, wie einer ist. Die Kleidung spricht über den Menschen, und wir alle wissen, daß wir lieber mit einem sauber und ordentlich gekleideten Menschen umgehen als mit einem zerlumpten und vernachlässigten Menschen. Die geordnete, auch schöne Kleidung erleichtert den Umgang zwischen den Menschen, vermehrt die Annehmlichkeiten des Lebens. Deswegen ist auch die Mode keineswegs zu beanstanden, solange sie nicht der Unsittlichkeit Vorschub leistet. Der Wechsel der Kleidung in einem bestimmten, angemessenen Rhythmus kann durchaus ein Dienst an der Ausdrucksfunktion der Kleidung sein.

Schließlich hat die Kleidung eine Sozialfunktion, d.h. sie soll etwas aussagen über die Stellung eines Menschen in der Gesellschaft. In der vergangenen Woche war in der Mainzer Zeitung ein Interview zu lesen mit dem Ausbildungsleiter für die Stewardessen in Frankfurt. Er hob auch die Bedeutung der Kleidung der Stewardessen hervor, die er als Uniform bezeichnete. Er sagte: Wenn die Stewardessen diese Kleidung anlegen, dann müssen sie ihre Person in den Hintergrund stellen. O, wie weise! Die Uniform oder die Amtskleidung hat ihre Bedeutung. Sie gibt dem Träger eine erhöhte Verantwortung, und sie macht die anderen Menschen auf diesen Verantwortungsträger aufmerksam. Deswegen ist die priesterliche Kleidung keine quantité negligeable. Die priesterliche Kleidung ist der Ausdruck des gottgeweihten Wesens dieses Mannes. Sie ist auch ein Hinweis auf die himmlische Herrlichkeit, die zu verkünden er gesandt ist. Sie macht die Menschen aufmerksam auf Gott. Sie erinnert an die Kirche, und man kann immer wieder erleben, daß man, wenn man geistliche Kleidung trägt, von Menschen angesprochen wird, die eine religiöse oder kirchliche Frage bewegt. Diese dreifache Funktion der Kleidung zeigt uns, daß wir eine Pflicht der Selbstliebe erfüllen, wenn wir uns sauber, ordentlich, womöglich auch vornehm und schön kleiden.

Schließlich eine dritte Pflicht der Selbstliebe, nämlich die Wohnung. Wir Heimatvertriebenen wissen, was es heißt, kein Heim zu haben. Wir wissen, was es bedeutet, wenn man seine Wohnung verlassen muß mit einem Bündel in der Hand, um in eine ungewisse Ferne abgeschoben zu werden. Heimatlos und heimlos zu sein, ist ein furchtbares Schicksal. Wir wissen auch, wie es Menschen trifft, wenn sie durch Naturkatastrophen ihr Heim verlieren, wie etwa die Bewohner Umbriens. Sie hausen jetzt in Containern, weil ihre Häuser zerstört sind. Wir denken auch an die Obdachlosen, die wahrhaftig kein Dach über ihrem Haupt haben und in Scheunen oder unter Brücken nächtigen und auf diese Weise ein kümmerliches Leben fristen. Diese Beispiele können uns zeigen, wie bedeutsam das Heim ist. Es ist nicht nur eine Stätte für Wohnen und Schlafen, es ist Heimat. Ein Heim ist eine Heimat, und es soll dieses Heim so schön wie möglich gestaltet werden, daß wir uns heimisch fühlen; denn wenn einer sich daheim nicht wohlfühlt, dann geht er ins Wirtshaus oder an andere Stätten der Vergnügung, um sich dort einen Scheingenuß zu verschaffen. Die Kirche hat nach dem Kriege, als die Wohnungsnot so groß war, das schöne Wort geprägt: „Wohnbau ist Dombau.“ O, wahrhaftig: Den Menschen ein Heim zu verschaffen, ein menschenwürdiges, ein familiengerechtes Heim, ist von äußerster Bedeutung für Kirche und Staat, für das soziale und für das sittliche Leben. Die Wohnungsnot, die ja in Deutschland zum größten Teil überwunden ist, hat viele, viele sittliche Schäden im Gefolge. Die Menschen, die eng gedrängt zusammen hausen, kommen unweigerlich miteinander fortwährend in Streit. Die sittlichen Bedingungen des Zusammenlebens sind gefährdet, wenn Erwachsene und Kinder in einem Raum zusammenleben müssen. Das Schlafgängerwesen, das die Älteren von uns vielleicht noch kennen, war eine wahre Volksseuche in den Großstädten Deutschlands. Deswegen ist es berechtigt, ja man ist verpflichtet, für ein menschenwürdiges und ein familiengerechtes Heim zu sorgen. Das ist eine Pflicht der Selbstliebe.

Meine lieben Freunde, die Kirche ist kein Feind der Zivilisation oder der Kultur. Sie begrüßt jeden echten Fortschritt auf diesen beiden Gebieten, und sie fördert ihn mit allen Kräften. Denn die Kirche weiß, daß, um mit dem Apostel Paulus zu sprechen, „alles euer ist, ihr aber Christi seid, Christus aber Gottes ist“.

Amen.

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