Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
9. März 1997

Die Lebendigkeit Gottes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Es gibt einen Bodensee, es gibt einen Himalaja, aber es gibt keinen Gott!“ So sagte vor einigen Jahren ein evangelischer Theologe an der Universität Mainz. Möglicherweise ist dieses Wort mißverstanden worden, aber es ist so gefallen, wie ich es eben vorgetragen habe: „Es gibt einen Bodensee, es gibt einen Himalaja, aber es gibt keinen Gott!“ Vielleicht wollte der Betreffende nur sagen: Man kann die geschöpflichen Wirklichkeiten nicht mit der Wirklichkeit Gottes vergleichen; und das ist ja richtig. Wir haben uns an den vergangenen Sonntagen bemüht, das Gefüge, die Struktur Gottes, soweit sie unserem Erkennen sich darbietet, uns vor Augen zu stellen. Wir haben Gott als den Ewigen, den Unwandelbaren, den Einfachen, den über Raum und Zeit Erhabenen erkannt. Wir müssen uns nun mit dem Inhalt des göttlichen Lebens beschäftigen. Welches ist die inhaltliche Vollkommenheit des so strukturierten göttlichen Lebens?

Dabei stoßen wir auf die erste und grundlegende Bemerkung: Gott ist ein Lebendiger. Er ist ein lebendiger Gott. Das ist ein Dogma des Glaubens, das vom Ersten Vatikanischen Konzil wiederum – nach dem Vorgang vieler anderer – eindeutig ausgesprochen worden ist. Was verstehen wir unter Leben? Unter Leben verstehen wir das Sein einer Substanz, eines Lebewesens und die Betätigung dieses Lebens, also die Selbstbetätigung, die sich in verschiedenen Akten kundtut. Wenn wir sagen: Gott ist lebendig, dann wollen wir sagen: Er ist das wirkliche, lebendige Leben des Geistes; er ist das dreipersonale Geistesleben in höchster Potenz und in höchster Wirklichkeit.

Die Lebendigkeit Gottes zeigt sich in der Erschaffung der Welt; sie gibt sich kund in der Begnadung der Menschen, in der Offenbarung, und sie hat sich vor allem gezeigt in der Menschwerdung. In der Menschwerdung hat Gott sich selbst gegenwärtiggesetzt auf Erden. Gott bezeugt sich als das ursprungslose Leben, als die Fülle des Lebens. Er spricht laut aus dem Feuer und aus der Wetterwolke im Alten Bunde. Er gibt sich kund als der Lebendige in der kriegerischen Kraft und in dem Siege, den er dem Volk verleiht. Der Philister und der Assyrer müssen sterben, weil sie es gewagt haben, den lebendigen Gott zu schmähen. Die Lebendigkeit Gottes zeigt sich darin, daß man ihm vertrauen kann und daß man ihn um Hilfe anrufen kann in jeglicher Not.

Christus hat bei Cäsarea Philippi das Bekenntnis seiner Jünger herausgefordert, und so hat ihn denn Petrus bekannt als den „Sohn des lebendigen Gottes“. Und auch der Hohepriester hat in dem Prozeß gegen Jesus ihn beschworen bei dem „lebendigen Gott“, zu sagen, ob er der Messias sei. Die Lebendigkeit Gottes wird vor allem in den Psalmen, diesen Lobliedern auf Gott, wieder und wieder ausgesprochen. So heißt es zum Beispiel im Psalm 42: „Meine Seele dürstet nach Gott, dem lebendigen Gott. Wann darf ich kommen, erscheinen vor Gott?“ Und im Psalm 83 betet der Fromme: „Meine Seele hat sich gesehnt, ja verzehrt nach den Höfen des Herrn. Mein Herz und mein Leib jubelten zu dem lebendigen Gott.“ Im Psalm 94 betet der Sänger: „Der das Auge geschaffen, der sollte nicht sehen? Der das Ohr gebildet, der sollte nicht hören? Der die Völker züchtigt, der sollte nicht strafen, er, der die Menschen Erkenntnis lehrt? Der Herr kennt der Menschen Gedanken; sie sind nur ein Dunst.“ Die Leben schaffende Kraft Gottes wird in dem Schöpfungspsalm 104 deutlich ausgesprochen. Da heißt es: „Deiner harren sie alle, daß du sie speisest zur rechten Zeit. Spendest du ihnen, so sammeln sie ein; tust du die Hand auf, so werden sie gesättigt. Doch kehrst du dein Antlitz ab, so faßt sie der Schrecken. Ziehst du zurück ihren Odem, so sterben sie.“

Im Unterschied zu Gott sind die Götter tot. Sie haben kein Leben, und der Fromme verspottet sie: „Unser Gott ist im Himmel. Alles vollbringt er, was ihm gefällt; doch ihre Götzen sind Silber und Gold, das Machwerk menschlicher Hände. Sie haben einen Mund und können nicht sprechen, zwei Augen und können nicht sehen, zwei Ohren und können nicht hören, eine Nase und können nicht riechen, Hände und können nicht greifen, Füße und können nicht gehen. Kein Laut kommt aus ihrer Kehle. Die sie machten, die sollen werden wie sie, ein jeder, der ihnen vertraute.“ Gott ist das ursprungslose und unverlierbare Leben. Er verdankt sein Leben nicht einem anderen, sondern er hat den Grund seines Lebens in sich selbst. Er hat das Leben unverlierbar, d.h. es kann ihm niemand entreißen. Es gibt ja böse Menschen, die Gott töten wollen. Aber der im Himmel thront, der lacht ihrer, denn er ist unangreifbar. Er ist der Unsterbliche, der von menschlichen Waffen nicht erreicht werden kann.

Weil Gott lebendig ist, ist auch der lebendig, den er in die Welt gesandt hat, sein Sohn Jesus Christus. Kein Evangelium hat die Lebendigkeit Christi, hat das göttliche Leben in Christus so oft und so ergreifend geschildert wie das des Apostels Johannes. Als ich Ende der vierziger Jahre in München studierte, hatte ich einen Mitbruder, der eine Doktorarbeit schrieb über das Leben bei Johannes, Zoe im Johannesevangelium. Das war wahrhaftig ein dankbares, ein lohnendes Thema, denn bei Johannes wird die Lebendigkeit Christi ausführlich und eindringlich geschildert. Schon im Prolog heißt es: „Alles ist durch das Wort geworden und ohne es ist nichts geworden. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen, und das Licht leuchtet in der Finsternis.“ In einem späteren Kapitel des Werkes heißt es: „Es kommt die Stunde, ja sie ist schon da, wo die Toten die Stimme des Sohnes Gottes hören werden, und die sie hören, werden leben. Denn wie der Vater Leben in sich selber hat, so hat er auch dem Sohn verliehen, Leben in sich selbst zu haben.“ Und wieder an einer anderen Stelle sagt Christus: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.“ Im 11. Kapitel erklärt er angesichts des verstorbenen Freundes Lazarus: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er gestorben ist, und jeder, der im Leben an mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben.“ Und schließlich noch eine letzte Stelle aus dem Johannesevangelium; in der Abschiedsrede Jesu heißt es: „Ich werde tun, um was ihr in meinem Namen mich bitten werdet. Wenn ihr mich liebt, so haltet meine Gebote! Noch eine kleine Weile, und die Welt sieht mich nicht mehr, ihr aber werdet mich sehen, denn ich lebe und ihr werdet leben.“ Damit deutet Jesus an, daß man ihm zwar das irdische Leben rauben kann, aber daß das göttliche Leben die Passion unversehrt überdauert. Er ist der von innen heraus Lebendige, und das Mordwerkzeug seiner Henker kann ihn nicht in seinem göttlichen Leben treffen.

Auch in anderen Schriften des Neuen Testamentes ist Christus als der Lebendige geschildert; etwa im 2. Timotheusbrief, wo es heißt: „Er hat den Tod vernichtet, dagegen unvergängliches Leben ans Licht gebracht.“ Er, nämlich Jesus Christus. Und als Johannes seine drei Briefe schrieb, da hat er im ersten von Christus, dem Lebendigen, gesprochen. „Was von Anfang an war, was wir gehört und mit eigenen Augen gesehen haben, was wir geschaut und was unsere Hände berührt haben, es betrifft das Wort des Lebens. Ja, das Leben ist sichtbar erschienen und wir sahen es. Wir bezeugen und verkünden euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns erschienen ist.“ Und schließlich noch eine letzte Stelle aus diesem ersten Brief des Apostels Johannes: „Darin besteht das Zeugnis, daß Gott uns ewiges Leben gab, und dieses Leben ist in seinem Sohne. Wer den Sohn hat, der hat das Leben. Wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht.“ Die Nähe zu Gott ist die Bürgschaft der Lebendigkeit, die Ferne von Gott ist die Gewißheit des Todes.

Gott ist nicht nur lebendig, er ist auch der Lebendigmacher. Er ist der Lebendigmacher, indem er der Schöpfer ist, „der allem Leben, Odem und alles gibt“, wie es in der Apostelgeschichte heißt. Als Paulus und Barnabas nach Lystra in Kleinasien kamen, da wollten die Menschen sie als Götter verehren. Paulus zerriß seine Kleider, fing an zu toben und zu schreien: „Ihr Menschen, was tut ihr da? Wir sind doch gekommen, um euch von den nichtigen Göttern zu dem lebendigen Gott zu führen!“ Dann schildert er den lebendigen Gott: „Er ist es, der den Himmel und die Erde und das Meer und alles, was darin ist, gemacht hat. Er hat sich auch in der Geschichte bezeugt, indem er Regen und fruchtbare Zeiten gibt, Nahrung und Frohsinn.“ Er ist der Spender des Lebens. Wenn er den Odem gibt, dann wird alles lebendig; wenn er den Odem zurückzieht, dann stirbt das Geschöpf. Er ist auch der Richter der Lebenden und der Toten.

Christus ist das auf Erden erschienene Leben. Das Leben Gottes ist geistiger Art. Es ist anders als das irdische, als das menschliche Leben. Das menschliche Leben ist ja nur ein aufgeschobener Tod. Es muß ständig erhalten werden durch Nahrung und Kleidung. Anders das Leben Gottes; es ist unentziehbar und unverlierbar, es ist ursprungslos und unsterblich. Es ist ein Leben, das ganz aus sich kommt, das keiner anderen Quelle entstammt, sondern das aus sich heraus lebendig ist, das nicht hervorgelockt oder hervorgerufen wird durch irgendetwas anderes. Es ist auch ein Leben höchster Wachheit, Bewußtheit und Seligkeit. Es ist ein Leben des Geistes, des Erkennens und des Wollens. Es sind seit dem vorigen Jahrhundert sogenannte Lebensphilosophen aufgestanden. Ich erwähne beispielsweise Friedrich Nietzsche oder Ludwig Klages. Diese Lebensphilosophen haben den Geist als Widersacher des Lebens ausgegeben. Das Leben, das sei das Kräftige, das Schöpferische, das Ursprüngliche, das Gesunde, der Geist dagegen sei das Morbide, das Lähmende, das Tötende. Diese Lebensphilosophie ist völlig falsch gewickelt. Wenn man den Geist herauslöst aus dem Gesamt des menschlichen Lebens, aus dem Gemüt, aus dem Willen und aus dem Leib, dann kann er zum Widersacher des Lebens werden. Dann ist er lähmend, wenn man ihn auf eine bloße naturwissenschaftliche Formel zurückführen will. Aber wenn man den Geist im Gesamt läßt, dann ist er das Lebensprinzip. Der Geist ist nicht der Widersacher des Lebens, sondern der Bürge des Lebens, der stärkste Ausdruck des Lebens. Das lehrt uns die Tatsache, daß Gott lebendig ist und daß er das personale Leben ist. Er hat nicht bloß Leben: Er ist das Leben. Er ist das personale, er ist das dreipersonale Leben. Gott ist der dreipersonale Lebensvollzug. Er ist auch das Ur-Leben, denn alles Leben kommt von ihm, und nichts, was lebendig ist, kann sich auf selbständige Lebendigmachung berufen. Er ist auch das All-Leben, denn er trägt alles, was Leben in sich hat; er trägt alles, was lebendig ist.

Achten Sie, meine lieben Freunde, in der heiligen Messe auf die Gebete, in denen von Gott, dem Lebendigen, die Rede ist! Wir schließen ja jedes Gebet mit den Worten: „Der du lebst und regierst von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ Das ist keine bloße Floskel. Die Formel soll uns daran erinnern, daß Gott ein lebendiger Gott ist. Zweimal wird Gott ausdrücklich als lebendig bezeichnet, nämlich wenn der Priester das Brot Gott darbietet zum Opfer, spricht er von dem lebendigen Gott. Und in dem zweiten Gebet nach dem Sanktus, wo der Priester für die Lebenden betet, ist davon die Rede, daß die Gaben Gott, dem Lebendigen, dargebracht werden. Für uns hängt also ungeheuer viel davon ab, daß wir Gott als den Lebendigen erfassen, als das Ur-Leben, als das All-Leben, als das personale Leben.

Im letzten Buche der Heiligen Schrift ist die Rede von Gott, dem Lebendigen. Da sagt der dem Seher erscheinende Christus: „Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, aber siehe, ich bin lebendig geworden. Ich lebe in alle Ewigkeit und halte die Schlüssel des Todes und der Unterwelt.“

Amen.

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