Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
14. August 1994

Die Offenbarung Gottes in Jesus Christus

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die französischen Könige hatten jahrhundertelang das Recht, die Bischöfe in ihrem Reiche vorzuschlagen, damit sie der Papst in ihr Amt einsetze. Sie ließen sich von ihren Ministern beraten, welche Personen dafür in Frage kämen. Dem letzten König der Kapetinger, nämlich Ludwig XVI., wurde einmal ein Geistlicher vorgeschlagen, gegen den er sich heftig wehrte. Er sagte nämlich: „Der Erzbischof von Paris“ – das sollte der Geistliche werden – „muß wenigstens an Gott glauben.“ Er hatte offenbar nicht die Gewähr dafür, daß diese Bedingung bei dem Vorgeschlagenen erfüllt sei.

Der Glaube ist die Wurzel des menschlichen Heiles. Wenn wir heute von einer Krise der Kirche sprechen – und das müssen doch alle, die offene Augen haben, einräumen –, dann ist diese Krise zutiefst eine Krise des Glaubens. Der Glaube ist in vielen Menschen erschüttert, teilweise völlig zerstört, und die Folgen dieser Zerstörung zeigen sich dann im sittlichen Verhalten und im kirchlichen Denken.

Wir sind dabei, uns den Grundgegenstand des Glaubens ins Gedächtnis zu rufen, nämlich Gott. Gott ist die oberste, die entscheidende Wirklichkeit unseres Glaubens. Sie steht an erster Stelle im Glaubensbekenntnis. Wir wissen, daß das Glaubensbekenntnis nicht lediglich eine Aneinanderreihung von Wahrheiten ist, sondern ein Bekenntnis, eine Auslieferung an Gott, eine Überantwortung an Gott. Es genügt nicht, das bloße Dasein Gottes zu bekennen; die Formeln des Glaubensbekenntnisses sind vielmehr ein Appell an den Menschen, sich Gott auszuliefern, seinen Willen zu seinem eigenen Willen zu machen.

Der Weg zu Gott führt auf zwei Bahnen, nämlich durch das natürliche Erkennen und durch den Glauben. Es gibt eine doppelte Quelle und einen doppelten Gegenstand, wenn wir von Gott und den göttlichen Dingen sprechen. Eine doppelte Quelle, nämlich einmal das auf sich selbst gestellte Denken, die natürliche Vernunft, und der Glaube, der eine von Gott vermittelte Erkenntnis, eine Offenbarung, eine Selbsterschließung Gottes ist. Also nach der Quelle unterscheiden wir zwei verschiedene Arten der Gotteserkenntnis: durch die natürliche Erkenntniskraft und durch das Geschenk Gottes in der Selbsterschließung seiner Offenbarung.

Auch der Gegenstand ist verschieden; denn mit unserem natürlichen Denken kommen wir zwar zu gewissen Einsichten über Gott, aber die letzten, tiefsten Geheimnisse Gottes, vor allem seine Dreipersonalität, sind uns nur durch die Offenbarung zugänglich. Deswegen gibt es einen doppelten Gegenstand des Wissens über Gott, nämlich die natürlich erkennbaren Wahrheiten und die übernatürlich geoffenbarten Wahrheiten.

Wir haben uns am letzten Sonntag die Offenbarung im Alten Testament vor Augen geführt. Dort hat sich Gott als der Lebendige in der Geschichte eines Volkes geoffenbart. Diese Offenbarung erreicht ihren Gipfelpunkt in Jesus Christus. Jesus, unser Herr und Heiland, ist in seinem Wesen, in seiner Erscheinung, in seinem Werk und in seinem Wort die Offenbarung Gottes. Er überschreitet alles, was Menschenmaß ausmacht. Er überschreitet alles, was die Erfahrung uns zu vermitteln vermag. Er überschreitet auch alles, was das menschliche Denken ersinnen und entdecken kann. Christus ist eine Wirklichkeit, die in die Kategorien dieser Zeitlichkeit, der Empirie, nicht eingeht. Die Zeitgenossen Jesu haben dies gespürt.

Als der Herr den Seesturm stillte, da sagten die Jünger zueinander: „Was ist denn das für einer, daß ihm sogar der Wind und das Meer gehorchen?“ Was ist denn das für einer? In dieser Äußerung liegt das fassungslose Staunen über die Macht, die diesem Jesus von Nazareth gegeben ist.

Jesus selbst interpretiert sein Wesen. Er gibt eine Erklärung für seine Wesensart, indem er den Jüngern sagt, er sei von oben, während sie von unten sind. Er ist von Gott gesandt und redet das, was er Gott sagen hört. Er tut die Werke, die er beim Vater sieht. Jesus ist ganz und gar in die Erfüllung des väterlichen Willens eingespannt. Es ist seine Speise, den Willen des Vaters zu tun; darüber vergißt er Hunger und Durst, über dieser Aufgabe, den Willen des Vaters auf Erden zu vollbringen, in dieser Welt der Auflehnung, den Willen Gottes durchzuführen, und dadurch die Herrschaft Gottes, das Reich Gottes, das Königtum Gottes aufzurichten. Ihm ist die Macht gegeben über Sünde, Krankheit und Tod. Er vermag Sünden zu vergeben, er kann Krankheiten heilen, die kein Arzt zu heilen vermag, und er versteht aus dem Tode zurückzurufen, jene Mauer zu überschreiten, die keine Menschenmacht je überschritten hat.

Er ist der Kämpfer gegen den Teufel. Der Teufel hat an ihm keinen Anteil, deswegen kann er mit dem Teufel ringen und ihn besiegen. Der Teufel versucht ihn zwar, aber Jesus überwindet die Versuchung. Er ist gekommen, die Bollwerke des Teufels zu zerstören.

Jesus vermag die Kunde von Gott zu bringen, im Namen Gottes aufzutreten, die Menschen zur Beobachtung des Willens Gottes anzuleiten, weil er von Gott kommt, ja weil er Gott ist. Er ist deswegen der Weg zum Vater, weil er selbst Gott ist. Wenn Jesus Gott verkündet, dann wiederum – wie im Alten Bunde – nicht nur in der Absicht, eine Mitteilung zu machen, sondern er verkündet Gott, weil darin der Aufruf liegt, sich Gott zu überantworten. Die Dämonen wissen auch, daß es einen Gott gibt. In diesem Sinne glauben auch sie, mit einem toten Glauben. „Sie glauben und zittern“, sagt der Brief des Apostels Jakobus. Aber dieser Glaube ist nicht zureichend, sondern der Glaube, den Jesus fordert, ist der durch die Liebe wirksame Glaube, ist jener Glaube, der sich Gott zuwendet in Gehorsam, Dankbarkeit und Ehrfurcht, ist jener Glaube, in dem der Mensch sich mit seiner Person und mit seinem ganzen Wesen Gott überantwortet. Das ist der Glaube, den Jesus fordert, der lebendige Glaube, der über das bloße Wissen um Gottes Existenz zur Übereignung, zur Auslieferung an Gott führt.

Nun ist freilich auch die neutestamentliche Offenbarung von dem Gesetz beherrscht, das über der alttestamentlichen steht, nämlich es ist eine Offenbarung in Verhüllungen und Verschleierungen. Es ist eine Offenbarung, die den Menschen nicht überwältigt, sondern ihm die Freiheit läßt. Wer wäre je auf den Gedanken gekommen, daß sich der allmächtige Gott offenbart in der Alltäglichkeit eines dürftigen Lebens in Galiläa? Wessen menschliches Gehirn hätte sich je ausdenken können, daß der allmächtige Gott sich von Menschen vor ein Gericht zitieren lassen und die Schande und Qual des Kreuzes auf sich nehmen würde? Das ist eine von Menschen nicht ausdenkbare Wirklichkeit, das ist eine Wirklichkeit, die nur Gott selbst setzen konnte. Und an dieser Wirklichkeit nimmt wegen ihres Verborgenheitscharakters der Mensch Ärgernis. Die geistesstolzen Griechen und die frömmigkeitsbesessenen Juden nahmen an diesem Jesus von Nazareth Ärgernis, d.h. er wurde ihnen zum Anstoß, zum Anlaß zur Sünde; denn sie lehnten ihn ab, sie verwarfen ihn, und sie behandelten ihn wie einen, der nicht im Auftrag des Vaters gekommen wäre. Wegen dieses Verborgenheitscharakters geht auch der Einwand in die Leere, den etwa der Philosoph Carl Jaspers macht. Er ist einer der hervorragendsten Vertreter der Existentialphilosophie. Er sagt: Wenn Gott sich in Jesus offenbart hätte, wenn Gott in Jesus erschienen wäre, dann würde die Freiheit des Menschen zerstört und damit die Eigentlichkeit seiner Existenz aufgehoben. Denn dann würde der Mensch von der Übermacht der Wirklichkeit Gottes gleichsam betäubt und erschlagen. Dieser Einwand von Carl Jaspers ist unzutreffend, meine lieben Freunde, denn er übersieht, daß die Offenbarung Gottes in Christus in Verhüllungen und Verschleierungen geschieht. Die Verhüllung und Verschleierung ist so groß, daß der Mensch Gott in Christus übersehen, ja daß er sich gegen ihn auflehnen kann. Es ist gewissermaßen so, um in der Sprache der Existentialphilosophie zu reden, daß Gott in gewisser Hinsicht am Menschen scheitern kann, nämlich wenn der Mensch sich gegen ihn wehrt, sich gegen ihn verschließt. Dann kann selbst der offenbare Gott den Menschen nicht mit seiner Liebe und mit seinem Leben beglücken.

Man kann fragen, ob dann nicht die Offenbarung Gottes sinnlos und nutzlos wird, wenn sie in Menschen, in manchen Menschen, vielleicht in vielen Menschen, möglicherweise in sehr vielen Menschen nicht zu ihrem Ziele kommt. Gott denkt anders über den Menschen als der Mensch selbst. Er hat den Menschen nicht als einen Mechanismus, als eine Maschine geschaffen, die er auf ein Ziel hin in Bewegung setzt, sondern als ein freies und verantwortliches Wesen. Und um der Freiheit und der Verantwortlichkeit des Menschen willen läßt Gott zu, daß er mit seiner Offenbarung bei manchen Menschen, vielleicht bei vielen Menschen – Gott weiß es -  nicht zum Ziele kommt.

Der Gott, den Jesus verkündet, ist der Vater. Immer, wenn Jesus von Gott spricht, dann meint er den himmlischen Vater, die erste Person in Gott; also nicht das göttliche Wesen, insofern es uns väterlich gesinnt ist, sondern er meint den Vater, die erste Person im dreifaltigen Gott. Das ergibt sich aus vielen Stellen der Heiligen Schrift, etwa im Johannesevangelium: „An jenem Tage werdet ihr in meinem Namen bitten, und ich sage euch nicht, daß ich den Vater für euch bitten werde, denn der Vater selbst liebt euch, weil ihr mich geliebt und geglaubt habt, daß ich von Gott ausgegangen bin. Ich bin vom Vater ausgegangen und in die Welt gekommen. Ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater.“ An diesem Text können Sie deutlich erkennen, daß die Worte „Gott“ und „Vater“ bei Christus identisch sind. „Ich bin von Gott ausgegangen. Ich bin vom Vater ausgegangen.“ Diese beiden Begriffe werden völlig gleichsinnig gebraucht. Der Gott, den Jesus verkündet, ist der himmlische Vater. Er ist natürlich auch der Vater der Menschen, aber es besteht ein Unterschied in der Intensität der Vaterschaft. Nach der Auferstehung sagt Jesus: „Ich fahre auf zu meinem Gott und eurem Gott, zu meinem Vater und eurem Vater.“ Die Vaterschaft, die er gegenüber Christus besitzt, ist die einer natürlichen Zeugung. Die Vaterschaft, die Gott uns gegenüber besitzt, ist Adoptivvaterschaft. In diesem Sinne sprechen dann die Apostel, vor allem der heilige Paulus, immer wieder von Gott als dem Vater. „Alle, die sich vom Geiste Gottes leiten lassen, sind Kinder Gottes. Ihr habt ja nicht wieder empfangen den Geist der Knechtschaft, damit ihr euch wieder fürchten müßtet, sondern ihr habt den Geist der Kindschaft empfangen, in dem wir rufen: Abba, unser Vater!“ Oder an einer anderen Stelle: „Als aber die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn, der aus dem Weibe geboren und dem Gesetz unterworfen war. Er sollte die unter dem Gesetz Stehenden erlösen, damit wir die Annahme an Kindes Statt empfangen. Weil ihr nun Söhne seid, hat Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, in dem wir rufen: Abba, Vater!“

Diese Stellen bezeugen, daß Gott, wie er uns im Neuen Testament geoffenbart ist, sich als der Vater kundgibt, was natürlich in keiner Weise eine Herabminderung des göttlichen Wesens Jesu ist. Selbstverständlich ist der Sohn göttlichen Wesens. Aber weil er als Offenbarer den Auftrag des Vaters vollzieht, weil er in der Heilsökonomie den Willen des Vaters auf Erden verkündet, deswegen muß in seiner Verkündigung und in seinen Werken der Vater die erste Stelle besitzen.

Man kann sich die Frage stellen, ob in einem Menschen die natürliche Erkenntnis Gottes durch die Vernuft und die übernatürliche Erkenntnis Gottes durch den Glauben zusammen bestehen können. Diese Frage ist unbedingt zu bejahen. Man kann und soll sich durch natürliches Bemühen um die Erkenntnis Gottes, seines Wesens und seines Wirkens kümmern. Man muß freilich, weil dieses natürliche Bemühen unvermeidlich an eine enge Grenze stößt, auf die Offenbarung Gottes hören und sich die Horizonte weiten lassen, damit wir in die Wirklichkeit Gottes, wie sie uns im dreipersönlichen Leben kund wird, erfassen können. Man kann also gleichzeitig von Gott wissen und an Gott glauben. Das Wissen muß logisch, nicht zeitlich, sogar dem Glauben vorausgehen. Erst, wenn ich etwas weiß, kann ich mich auch verantworten. Ich kann mich nur Gott übergeben in gläubiger Auslieferung, wenn ich weiß, daß Gott existiert. Deswegen wird im Johannesevangelium immer wieder nebeneinander gestellt: „Wir haben geglaubt und erkannt.“ Glauben und Erkennen sind zwei Sichten, sind zwei Weisen, wie wir Gott in den Blick bekommen, sind zwei Erkenntniswege, die zueinander gehören und über die wir uns an den kommenden Sonntagen in ausführlicher Weise noch Gedanken machen werden. Für heute nur soviel: Wenn wir das Zeugnis von Menschen annehmen, uns also auf deren Zeugnis verlassen, dann erst recht auf das Zeugnis Gottes; denn das Zeugnis Gottes, seine übernatürliche Offenbarung ist größer als das Zeugnis von Menschen.

Amen.

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