Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
11. Januar 1987

Die Vereinbarkeit der Sünde mit der Vorsehung

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Das Glaubensdogma von der Vorsehung Gottes ist eine lichte, helle, beglükkende Wahrheit. Gottes Auge ruht auf den Menschen und auf der Geschichte. Seine Fügung waltet über der Natur und der ganzen Schöpfung. Dennoch, wie mit allen Wahrheiten, die wir hier im Glauben annehmen, dennoch sind mit diesem Dogma Schatten verbunden. Wir wollen am heutigen Sonntage uns zwei Fragen stellen, die mit diesem Dogma von der Vorsehung zu tun haben.

1. Wie ist das Glück der Sünder und das Unglück der Frommen mit der Vorsehung zu vereinbaren?

2. Wie ist die Sünde mit der Vorsehung zu vereinbaren?

Die erste Frage lautet: Wie kommt es, daß Sünder im Glücke und fromme, heilige Menschen im Unglück sind, wenn es doch eine Vorsehung gibt? Die Antwort auf diese Frage muß in folgender Weise gefunden werden:

Zu wahrem Glück, meine lieben Freunde, gehört der innere Friede. Das ist die erste Antwort. Es ist unwahrscheinlich, ja es ist vermutlich unmöglich, daß ein Sünder den inneren Frieden besitzt. Denn der innere Friede, die innere Zufriedenheit ist geknüpft an die Beobachtung der Gebote Gottes, der innere Friede wächst aus der Tugend. Der innere Friede ist eine Frucht des Heiligen Geistes, die dem Menschen geschenkt wird, wenn er Gottes Gebote hält und wenn er Tugenden entwickelt. Es ist unwahrscheinlich, ja vermutlich unmöglich, daß jemand, der in der Todsünde lebt, inneren Frieden besitzt. Wenn er aber keinen inneren Frieden besitzt, dann fehlt ihm etwas zum Glück, ja es fehlt ihm das Entscheidende; denn das Glück ist  nicht nur eine Ansammlung von Ehren und Schätzen oder was nötig ist zum Essen und Trinken, sondern das Glück ist eine innerliche Befindlichkeit, und diese innere Befindlichkeit wohnt eher im Herzen des frommen Leidträgers als des leidverschonten Sünders, der sich scheinbar in den Schätzen der Erde wunderbar wohlfühlen kann.

Die zweite Antwort auf diese Frage lautet: Das Scheinglück des Sünders ist rasch vergänglich. Ein Glück, das nicht dauert, ist ja kein Wert, und wenn man dauernd zittern muß um den Verlust des Glückes, dann ist die Glückseligkeit nicht fest gegründet. Die Heilige Schrift weiß an vielen Stellen von der Vergänglichkeit des irdischen Glückes, des Glückes des Sünders, zu berichten. Wir Priester beten jede Woche einmal: „Ich sah den Gottlosen, hoch erhaben wie eine Zeder, ich ging vorüber, und er war nicht mehr.“ Diese Aussage der Heiligen Schrift hat sich in Einzelnen, in der Gesellschaft und in der Geschichte der Völker schon oft bestätigt. In kurzer Zeit war der unbekannte Artillerieleutnant Napoleon Bonaparte zum Herrn Europas aufgestiegen. Er spielte mit Kronen und Königreichen wie Kinder mit Kugeln. Und siehe da, auf einmal, gleichsam über Nacht, da hat das Schicksal, wie die Menschen sagen, ihn ereilt. Es begann in den Eissteppen Rußlands und endete vor Fontainebleau in der Nähe von Paris. „Ich sah den Gottlosen“ – und Napoleon hat lange Zeit die Kirche verfolgt und bedrückt – „ich sah den Gottlosen, hoch erhaben wie eine Zeder. Ich ging vorüber, und er war nicht mehr.“

Aber selbst wenn das Glück des Gottlosen, des Sünders auf Erden dauern sollte, so ist doch zu bedenken, daß es einmal mit Sicherheit endet, nämlich im Tode. Der Tod ist der gleiche für jeden, egal, ob er im Glücke war oder im Unglück. Sterben muß ein jeder, und dann kommt der jenseitige Ausgleich, dann erfüllt sich das Wort, das der Herr gesprochen hat: „Es wird Erste geben, die Letzte sein werden, und es wird Letzte geben, die Erste sein werden.“ Da wird die Umschichtung, die große Umschichtung nach dem Maße der Gerechtigkeit vorgenommen. Der Herr hat uns das ergreifende Gleichnis vom reichen Prasser und vom armen Lazarus erzählt. Der reiche Prasser, dem es auf Erden gut ging, der aber keinen Blick für die Not seiner Mitmenschen hatte, er wurde in der Hölle begraben. Und der arme Lazarus, den auf Erden niemand beachtete, kam in den Schoß Abrahams, was ein Bild ist für die jenseitige Seligkeit. Die vom Herrn vorhergesagte Durchsetzung der Gerechtigkeit wird einmal den Ausgleich schaffen, den wir auf Erden manchmal so schmerzlich vermissen. Einmal wird nach der Gerechtigkeit entschieden. Mag die Gerechtigkeit auf Erden am Kreuze hängen, einmal wird sie siegreich aufgerichtet werden.

Das ist der Versuch, die Frage zu beantworten: Wie kommt es, wie ist es mit der Vorsehung Gottes zu vereinbaren, daß die Sünder so oft im Glück sind und die Frommen im Unglück?

Und die zweite Frage: Wie ist die Sünde mit der Vorsehung zu vereinbaren? Die Antwort darauf muß eine zweifache sein: Erstens: Gott ist nicht der Urheber der Sünde, sondern er verhindert nur die Sünde nicht. Die Sünde ist nicht das Werk Gottes, sie ist das Werk des Menschen. Der Sünder handelt auf eigene Verantwortung. Aber freilich erhebt sich dann sofort die weitere Frage: Ja, warum enthebt Gott den Menschen nicht dieser Verantwortung? Warum hat er ihm diese furchtbare Macht gegeben, Gott die Treue zu versagen, die Sünde zu wählen, sich selbst seine Unseligkeit zu bereiten? Warum hat ihm Gott diese Macht gegeben?

Wenn man diese Frage beantworten will, muß man auf zwei Dinge hinweisen: Die Möglichkeit zu sündigen ist untrennbar, für uns Irdische untrennbar geknüpft an die Gelegenheit, Gutes zu tun. Auf Erden ist die Freiheit zur Wahl des Guten nicht trennbar von der Freiheit zur Wahl des Bösen. Und wenn es keine Wahlmöglichkeit für das Gute gäbe, dann wäre auch – das ist der zweite Teil der Beantwortung – dann wäre auch keine Belohnung zu erwarten. Belohnt werden kann man ja nur für etwas, was man verdient hat. Und es ist eben ein Verdienst, sich bei der Auswahl zwischen Gut und Böse für das Gute zu entscheiden.

Also, es wäre, soweit wir Einsicht in Welt und Mensch und Gott haben, es wäre auf Erden nicht möglich, dem Menschen nur die Freiheit zum Guten einzuräumen ohne die dazugehörige Freiheit, das Böse zu wählen.

Die zweite Antwort muß lauten: Gott versteht es, das Böse zum Guten zu wenden. Es ist Gott möglich in seiner Vorsehung und in seiner Allmacht und in seiner Weisheit, Böses zum Guten zu wenden. Die elf Brüder des ägyptischen Joseph verkauften diesen Mann an Händler, die nach Ägypten zogen. Sie sannen Böses wider ihn. Aber Gott wandte es zum Guten. Denn in Ägypten stieg Joseph vom verkauften hebräischen Sklaven zum Vizekönig, zum Stellvertreter des Pharao auf. Als die Hungersnot in Israel ausbrach, da holte er seine Angehörigen und noch viele andere zu sich und nährte sie. „Ihr sannt Böses wider mich, aber Gott wandte es zum Guten!“ So sagte Joseph dann zu seinen beschämten Brüdern. Und selbst wenn wir die Tat, die Untat des Judas Ischariot betrachten, können wir sehen, wie Gott dieses Geschehnis zum Guten wandte. Judas, ein enttäuschter Patriot, enttäuscht deswegen, weil er annahm, Jesus werde das Land von den Römern befreien, Judas, dieser enttäuschte Patriot verriet um 30 Silberlinge seinen Herrn und Meister, aber dieser Verrat lieferte Jesus den Händen derer aus, die ihn töteten. Er war in gewisser Weise, in gewisser Hinsicht notwendig, damit das Erlösungswerk am Kreuze geschehen konnte. Es mußte in irgendeiner Weise das Böse mitarbeiten, daß auch das Gute durch das Kreuzesopfer für die ganze Welt gewirkt werden konnte. Die Schuld des Judas ist damit nicht gemildert, aber das Beispiel zeigt, daß Gott imstande ist, auch das Böse für das Gute zu benutzen.

Das sind Versuche, meine lieben Freunde, die beiden bedrängenden Fragen zu beantworten: Wie ist es mit der Vorsehung zu vereinbaren, daß es den Frommen oft schlecht geht und den Bösen gut? Wie ist es mit der Vorsehung zu vereinbaren, daß es Menschen gibt, die sich gegen Gott empören, die in der Sünde seine Absichten zu durchkreuzen versuchen?

Wir wollen nicht irre werden an der Vorsehung Gottes. „O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!“ So ruft Paulus einmal im Römerbrief aus. „Wie unaufspürbar sind seine Wege, wie unerforschlich seine Gerechtigkeit!“

Wahrhaftig, wir können uns vertrauensvoll der Vorsehung überlassen. „Du, Vater, du rate!“ „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!“ So hat der Herr gerufen, und das ist ein Ruf, den wir Priester jeden Abend im priesterlichen Abendgebet beten: „In deine Hände befehle ich meinen Geist!“

Wenn wir das tun, meine lieben Freunde, dann wird die Vorsehung Gottes für uns sorgen.

Amen.

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