Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
1. August 2004

Die Evangelien als Tatsachenberichte

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Seit geraumer Zeit befassen wir uns mit der Glaubwürdigkeit der Evangelien. An dieser Glaubwürdigkeit hängt unser Glaube. Wenn das, was die Evangelisten uns berichten von Worten und Taten Jesu, nicht stimmt, dann stimmt unser Glaube nicht, dann sind wir Betrogene und wir Priester womöglich betrogene Betrüger. Es kommt bei den Aussagen der Evangelisten auf ihre Absicht an, auf die Aussageabsicht, die sie bei ihrer Darstellung haben. Und daran besteht kein Zweifel: Die Evangelisten wollen Geschichte berichten; sie wollen Tatsachen berichten. Was sie ihren Lesern darbieten, das sind Fakten, nicht ausgeklügelte Phantasien, nicht Erfindungen, zurechtgemacht, um die Leser und Hörer zu täuschen, sondern was sie darbieten, ist die Wahrheit des Geschehens um Jesus, unseren Herrn. Dagegen hilft nicht der Einwand, dass man sagt, die Evangelien seien Heilsverkündigung. Das ist kein Gegensatz zur Tatsächlichkeit, denn diese Heilsverkündigung hängt an den Fakten! Die Heilsverkündigung ist an Tatsachen gebunden.

Gewiß sind die Evangelien von gläubigen Männern verfasst. Aber ihr Glaube hat sie nicht gehindert, die Wahrheit zu sagen. Er hat sie im Gegenteil verpflichtet, zur Wahrheit zu stehen. Sie wollen ihre Leser und Hörer zum Glauben führen, und das kann man nicht, indem man etwas erdichtet oder erfindet. Im zweiten Petrusbrief sagt der Apostel: „Wir haben uns nicht an ausgeklügelte Fabeln gehalten, als wir euch die machtvolle Ankunft unseres Herrn Jesus kundtaten, sondern wir sind Augenzeugen seiner Erhabenheit gewesen.“ Keine Phantasien, nicht ausgeklügelte Fabeln bieten sie dar, sondern „wir sind Augenzeugen seiner Erhabenheit gewesen“. Zeugen sind Menschen, die etwas wiedergeben, was sie erlebt, was sie gehört, was sie gesehen haben. Das ist das Zeugnis der Evangelien.

Die Evangelisten haben ein historisch-biographisches Interesse, aber nur so weit, als es für die Heilsverkündigung notwendig ist. Wir wüssten gern mehr von Jesus. Wir würden gern erfahren, wer seine Großeltern waren. Wir würden mehr über das Leben des heiligen Joseph wissen mögen. Wir würden auch weitere Nachrichten von Maria freudig entgegennehmen. Aber die Evangelisten sind mit all diesen Dingen sparsam, und die Apokryphen, also die von der Kirche verworfenen Schriften, suchen das Schweigen der Evangelien zu ergänzen durch Fabeln. Diese Fabeln hat die Kirche abgewiesen. Sie hat die apokryphen Erzeugnisse nicht in den Kanon, d.h. in das Verzeichnis der anerkannten Schriften aufgenommen.

Die Evangelisten scheuen sich auch nicht, unangenehme Tatsachen zu berichten. Johannes der Täufer war ein Asket. Er trank keinen Wein, er nährte sich von Honig und Heuschrecken. Jesus lebte ein ganz normales Leben, und da erhob sich der Vorwurf gegen ihn: „Er ist ein Fresser und Weinsäufer.“ Das steht im Evangelium, der Vorwurf gegen Jesus, er sei ein Fresser und Weinsäufer. Warum haben die Evangelisten das nicht unterdrückt? Weil sie wahrhaftig waren. Sie haben auch andere unangenehme Dinge ausgesagt, etwa den Leidenskampf Jesu im Ölgarten. Warum haben sie das nicht verschwiegen, dass Jesus gezittert und gezagt hat, dass der Schweiß ihm wie Blutstropfen zur Erde rann? Warum haben sie das nicht unterdrückt? Weil sie wahrhaftig waren, weil sie Jesus so geschildert haben, wie er war, nicht, wie ihn Phantasten zurechtgeträumt haben. Die Evangelien sind Tatsachenberichte, und die Evangelisten wollen Tatsachen vermelden. An mehreren Stellen kommt das zum Ausdruck.

So heißt es beispielsweise im Johannesevangelium: „Noch viele andere Zeichen hat Jesus vor den Augen seiner Jünger getan, die nicht in diesem Buche aufgezeichnet sind. Diese aber sind aufgeschrieben worden, damit ihr glaubet, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch Glauben Leben habet in seinem Namen.“ Noch viele andere Zeichen hat Jesus „getan“, nicht sind solche erfunden worden, sondern sie sind geschehen; es handelt sich um Tatsachen, es handelt sich um Fakten. An einer anderen Stelle schreibt Johannes: „Jesus aber hat noch viele andere Dinge getan. Wenn man diese aufschreiben wollte, so glaube ich nicht einmal, die Welt würde die Bücher fassen, die geschrieben werden müssten.“ Und noch an einer dritten Stelle versichert uns Johannes. dass viele von den Juden an seinen Namen glaubten, „da sie die Wunder sahen, die er wirkte.“ Sie haben nicht geglaubt, weil etwas von ihm berichtet wurde, sondern weil sie gesehen haben, dass er mächtig ist und dass er Machttaten vollbringen kann, dass er Wunder wirken kann, die kein anderer vor ihm getan hat. „So etwas haben wir überhaupt noch nicht gesehen“, sagen einmal die Volksmassen, als Jesus ein Wunder gewirkt hatte.

Im Matthäusevangelium ist uns eine wichtige Stelle aufbewahrt, die zeigt, dass die Wunder Jesu Tatsachen waren. „Darauf begann er die Strafrede an die Städte, in denen seine meisten Wunder geschehen waren, weil sie sich nicht bekehrt hatten: Wehe dir, Chorazin! Wehe dir, Bethsaida! Denn wenn zu Tyrus und Sidon die Wunder geschehen wären, die bei euch geschehen sind, hätten sie längst in Sack und Asche Buße getan.“ Diese Rede ist deswegen so wertvoll, weil sie bezeugt: Wenn diese Wunder nicht geschehen wären, hätte Jesus nicht so reden können. Wie hätte er die Städte anklagen können, sich nicht bekehrt zu haben, wenn die Wunder nicht geschehen wären? Weil sie geschehen sind und sie sich nicht bekehrt haben, deswegen ruft er das „Wehe“ über diese Städte aus.

Die modernistischen Theologen sprechen gern vom „österlichen Jesus“. Als ich anfing, ihre Bücher zu lesen, da dachte ich: Warum soll man nicht vom österlichen Jesus sprechen? Das ist eben Jesus, der auferstanden ist. Er hat ja 40 Tage zu seinen Jüngern gesprochen. Erst allmählich bin ich dahinter gekommen, dass diese ungläubigen Theologen mit dem „österlichen Jesus“ die Phantasie der Gemeinde bezeichnen. Sie meinen nicht etwa Jesus, der mit den Jüngern 40 Tage lang verkehrt ist, sondern sie meinen die Gemeinde, die diese Worte Jesus in den Mund gelegt hat. Eine Verkehrung diabolischer Art!

Nein, meine lieben Freunde, wir wissen, was in Wahrheit mit österlicher Sicht der Geschehnisse Jesu gemeint ist. Die Jünger Jesu haben zu seinen Lebzeiten vieles, was er getan und gesagt hat, nicht verstanden. Das bezeugen ja die Evangelien sehr eindeutig. Etwa im Lukasevangelium heißt es, als Jesus seine Leidensweissagung machte: „Sie verstanden diese Worte nicht. Es war für sie dunkel, so dass sie sie nicht erfassten. Doch scheuten sie sich, ihn darüber zu fragen.“ Die Jünger haben zu Lebzeiten Jesu vieles nicht verstanden. Es war ihnen unklar, es ging über ihren Horizont. Erst als Jesus auferstanden war, da begriffen sie Sinn und Tragweite seiner Worte. Aber diese österliche Blickrichtung, die ihnen den Sinn von Jesu Worten und Tun eröffnete, hat nichts dazu beigetragen, Worte oder Taten Jesu zu erfinden. Im Gegenteil. Gerade weil eben vorher etwas gesagt worden war, was sie nicht verstanden hatten, ist ihnen erst nach Ostern der Sinn erschlossen worden. Sie haben erst im Lichte der Auferstehung begriffen, dass alles so verlaufen musste, wie Jesus es vor ihnen vollführt hat.

Die Evangelien wissen sehr genau zu unterscheiden zwischen Taten Jesu und zwischen Erzählungen Jesu, den Gleichnissen. Die Gleichnisse sind Geschichten, die Jesus den Jüngern erzählt hat. Es heißt dann immer: „Er trug ihnen dieses Gleichnis vor.“ Etwa im 15. und 16. Kapitel des Lukasevangeliums wird immer wieder gesagt: „Er trug ihnen dieses Gleichnis vor.“ Gleichnisse sind Erzählungen, die bestimmte religiöse Wahrheiten verdeutlichen sollen. Sie sind eine bestimmte literarische Gattung, die selbstverständlich ihre Berechtigung hat, die aber nicht mit den Taten Jesu gleichgesetzt werden können. Die Taten Jesu sind keine Gleichnisse, die Taten Jesu sind Fakten. Die Gleichnisse sind Lehrerzählungen im Munde Jesu, mit denen er seine Jünger belehren wollte.

Nun wird im Evangelium an zahlreichen Stellen darauf hingewiesen, dass sich im Leben Jesu Weissagungen des Alten Testamentes erfüllt haben. Ich werde Ihnen ein paar dieser Stellen vorlesen. Vor allem finden sie sich im Matthäusevangelium. Als Maria vom Heiligen Geiste empfangen hatte und der Engel ihr die Botschaft brachte, da schreibt Matthäus: „Dies alles ist geschehen, damit in Erfüllung gehe, was vom Herrn durch den Propheten gesagt worden war: Siehe, die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären, und man wird ihm den Namen Emanuel geben, das heißt Gott mit uns.“ Diese Weissagung ist nach Matthäus in der Geburt Jesu in Erfüllung gegangen. Oder an einer anderen Stelle schreibt er, als der bethlehemitische Kindermord geschehen war, „da wurde erfüllt, was gesagt ist durch den Propheten Jeremias: Eine Stimme ward gehört zu Rama, großes Weinen und Wehklagen. Rachel beweint ihre Kinder und will sich nicht trösten lassen, weil sie nicht mehr sind.“ Vor allem in der Passionsgeschichte wird immer wieder darauf hingewiesen, dass das, was dort an Jesus geschehen ist, vorausgesagt worden ist, also von Gott vorherbestimmt worden ist. Etwa in der Erzählung von der Gefangennahme Jesu: „Da sagte Jesus zu ihnen: In dieser Nacht werdet ihr alle an mir Anstoß nehmen, denn – Begründung! – es steht geschrieben: Ich will den Hirten schlagen, und die Schafe der Herde werden sich zerstreuen.“ Eine Weissagung aus dem Buche des Propheten Zacharias. Oder an einer anderen Stelle, als Judas das Blutgeld in den Tempel warf, da nahmen es die Oberpriester und kauften davon einen Acker. „So erfüllte sich das Wort des Propheten Jeremias: Sie nahmen die 30 Silberlinge, den Preis, um den die Söhne Israels den Hochgeschätzten eingeschätzt haben, und gaben sie für den Töpferacker, wie mir der Herr aufgetragen hat.“ Und noch ein Wort, in dem eine Weissagung in Erfüllung ging. Die Soldaten nahmen die Kleider des Herrn und verteilten sie unter sich und warfen das Los darüber. „So sollte das Wort des Propheten in Erfüllung gehen: Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und über mein Gewand das Los geworfen.“

Jetzt kommen die ungläubigen Theologen daher und sagen: Ja, diese Erzählungen im Evangelium sind frei erfunden. Man hat sie aus den Weissagungen herausgepresst. Man hat die Weissagungen gelesen, und dann hat man das, was in den Weissagungen steht, Jesus zugeschrieben. Meine lieben Freunde! Jedermann fasst sich an den Kopf und fragt sich: Ist das nicht ein gigantischer Unsinn? Ist es nicht gerade umgekehrt? Weil diese Dinge geschehen sind, hat man im Alten Testament geforscht, hat man nachgelesen, und da ist man auf die Stellen gestoßen, in denen Vorgänge vorhergesagt wurden, die sich an Jesus ereignet haben. Es ist gerade umgekehrt. Das Primäre sind die Fakten, und von den Fakten ist man vorgestoßen zu den Weissagungen im Alten Bunde. „Es ist erfüllt“, das bedeutet, was vorher nur eine Ankündigung war, ist jetzt in Jesus Ereignis, Tatsache geworden. Der Leser des Evangeliums wird geradezu aufgefordert, beides zu vergleichen, die Weissagung des Alten Bundes und die Tatsachen im Neuen Bunde. Bestimmte Ereignisse im leben Jesu sind geschehen. Im Lichte dieser Geschehnisse hat man das Alte Testament gelesen und ist auf die Stellen gestoßen, die als Vorankündigung für die Ereignisse in Frage kamen. Ob sie immer gerade so passen, das ist eine andere Frage. Manchmal kommt uns diese Anwendung ein wenig gekünstelt vor. Aber gerade weil es so ist, sind die Tatsachen sicher, auch wenn ihre Ankündigung uns manchmal etwas an den Haaren herbeigezogen vorkommen will.

Noch ein letzter Einwand, meine lieben Freunde, wird von den ungläubigen Theologen gemacht, nämlich sie weisen darauf hin, dass die Chronologie, also die Zeitenabfolge, in den Evangelien nicht streng eingehalten ist. Zugegeben. Die Evangelisten hatten die Freiheit, nach ihren theologischen Gesichtspunkten den Stoff, den sie vorfanden, zu gliedern. Und das haben sie getan. Sie haben das, was ihnen von Worten und Taten Jesu überliefert wurde, in Gruppen zusammengefasst. Zusammenpassendes haben sie vereint, etwa im 4. Kapitel von Markus sind Gleichnisse zusammengefasst. Das ist eine legitime Weise, wie man ein Buch schreibt. Man fasst Zusammengehöriges zusammen. Oder im 10. Kapitel bei Matthäus sind die Weisungen für die Aussendung der Jünger zusammengefaßt. Warum nicht? Da hat man sie an einer Stelle beisammen. Dadurch ändert sich an der Zuverlässigkeit des Berichteten überhaupt nichts.

Für die Evangelien gilt das, was Lukas am Beginn seines Buches schreibt. „Schon manche haben es unternommen, eine Erzählung der Begebenheiten zu verfassen, die sich unter uns zugetragen haben, so wie es uns die überliefert haben, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes gewesen sind. So habe auch ich mich entschlossen, allem von den ersten Anfängen an sorgfältig nachzugehen und es für dich, edler Theophilus, der Reihe nach niederzuschreiben, damit du dich von der Zuverlässigkeit der Lehren, über die du unterrichtet worden bist, überzeugen kannst.“ Er spricht von Begebenheiten, also von Taten, die überliefert worden sind, und zwar von den Augenzeugen, von denen, die sie miterlebt haben. Und er schreibt das jetzt auf, um seine Leser von der Zuverlässigkeit dessen zu überzeugen, was ihnen von Jesus berichtet worden ist. Nicht ausgeklügelten Fabeln sind die Evangelisten gefolgt, sondern den Wahrheiten, die Jesus von sich gelehrt hat, und den Taten, die er vollbracht hat.

Wir können uns auf die Zuverlässigkeit der Evangelien verlassen. Das Zweite Vatikanische Konzil hat in schöner Weise diese Wahrheit festgehalten, wenn es erklärt hat: „Unsere heilige Mutter, die Kirche, hat entschieden und unentwegt daran festgehalten und hält daran fest (auch heute), dass die vier genannten Evangelien, deren Geschichtlichkeit sie ohne Bedenken bejaht – deren Geschichtlichkeit sie ohne Bedenken bejaht –, zuverlässig überliefern, was Jesus, der Sohn Gottes, in seinem Leben unter den Menschen zu deren ewigem Heil wirklich getan und gelehrt hat bis zu dem Tag, da er aufgenommen wurde.“

Wir können uns, meine lieben Freunde, die Aussage des heiligen Petrus in seinem zweiten Brief zu eigen machen: „Wir sind nicht ausgeklügelten Fabeln gefolgt, als wir die Herrlichkeit unseres Herrn angenommen und bekannt haben, sondern wir haben uns an das gehalten, was die Augen- und Ohrenzeugen seiner Erhabenheit uns vermittelt haben.“

Amen.

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