Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
13. Dezember 1992

Der Erlösungsratschluß Gottes (Teil 2)

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Gott hätte die Erlösung, d.h. die Befreiung des Menschen aus der Sünde, die Heimholung zu Gott, auf mannigfache Weise bewirken können. Eines aber mußte immer geschehen, nämlich die Abwendung des Menschen von der Sünde und die Hinwendung zu Gott. Dies war unerläßlich, daß der Mensch in Reue und Liebe sich Gott zuwandte. Die Erlösung hätte sich in dem Augenblick ereignen können, als das menschliche Herz sich Gott wieder zuwandte. Aber es war der Existenzweise des Menschen, wie er von Gott geschaffen war, angemessen, daß das, was sich im Inneren des Herzens tut, sich nach außen kundgibt. Es mußte also die Herzensreue in äußeren Taten sichtbar und hörbar werden. Die Reue mußte glaubwürdig werden in äußeren, im Raum der Geschichte, im Leibe vollbrachten Taten. Nur dann ist Gewißheit zu gewinnen, daß tatsächlich die Reue des Herzens echt ist.

Die Taten, die hier verlangt wurden, waren solche, die der Abwendung von Gott entgegengesetzt waren. Also statt der Verlorenheit an das Irdische die Ausrichtung auf das Himmlische; statt des Ungehorsams, der in der Sünde liegt, der Gehorsam; statt der Versessenheit auf das Besitzen die Freiheit vom Drang, irdische Güter anzuhäufen. Es mußte Genugtuung geleistet werden. Es mußten gute Taten vollbracht werden, die den bösen Taten des Menschen entgegengesetzt waren und sie aufwogen. Gott hätte von jedem einzelnen Menschen solche Taten fordern können. Es war aber auch möglich, daß er einen bestimmte, der für alle die Genugtuung leistete. In einem schwächlichen Darüberhinwegsehen über die Sünde hätte sich keine Neuwerdung des Menschen ereignen können. Es mußte, um der Heiligkeit, um der Gerechtigkeit Gottes willen, eine wirkliche Genugtuung geleistet werden. Und das ist nun das unergründliche Geheimnis göttlicher Fügung, daß Gott von allen Möglichkeiten, die Erlösung zu bewirken, die höchste wählte, daß er sie durch die Menschwerdung seines Sohnes ausführte.

Es ist ein unergründliches Geheimnis, warum Gott auf diesem Weg gekommen ist. Aber wir können versuchen zu ergründen, weshalb die Erlösung durch die Menschwerdung des Logos geschehen sollte.

Erstens, es sollte durch die Menschwerdung die durch die Sünde verdunkelte Herrlichkeit Gottes sichtbar und hörbar wiederhergestellt werden. Die Sünde verdunkelt Gottes Herrlichkeit, weil die Sünde Aufstand gegen Gott ist, weil der Sünder Gottes Heiligkeit nicht ernst nimmt, weil er sich vom höchsten Gute abwendet und zu niederen Gütern in ungeordneter Weise hinwendet. Und nun kommt der menschgewordene Gottessohn und verbringt ein Leben des Gehorsams, der Treue, der Hingabe an den Vater. Aus dem Herzen dieses Menschen Jesus Christus glüht dem Vater eine Liebe empor, steigt ein Gehorsam zum Himmel, die alle Frevel und alle Missetaten der Menschen weit, weit übersteigen. In diesem Gottmenschen Jesus Christus glüht dem Vater eine Liebe empor, wie sie größer nicht sein kann. Die höchste und größte Liebe ist die geopferte Liebe, darüberhinaus gibt es keine. Und in diesem Leben, in diesem harten Leben des Gottessohnes, in seinem tragenden Schweigen, in seinem Verstummen, in seinem Gehorsam bis zum Tode, seiner Entsagung, da wird dem Vater im Himmel wahrhaft Ehre erwiesen, da wird seine verdunkelte Herrlichkeit sichtbar gemacht, da wird genuggetan in überschwenglicher Weise.

Das ist der erste Grund für die Erlösung durch die Menschwerdung des Logos; die Herrlichkeit Gottes wird durch den menschgewordenen Gottessohn in einer unübersehbaren Weise wiederhergestellt. Wer hier Gottes Liebe nicht sieht, der sieht sie überhaupt nicht. Wer im menschgewordenen und verblutenden Jesus Christus nicht inne wird, was Gott unternommen hat, um die Welt zu retten, dem ist auf keine Weise die Unternehmung Gottes zugunsten des Menschen begreiflich zu machen.

Der zweite Grund liegt darin, daß Gott nicht in einem schwächlichen Hinwegsehen über die Sünde den Menschen gewissermaßen nicht ernstnimmt, sondern daß er an seine Verantwortung appelliert, daß er ihm seine Verantwortung zeigt. Er läßt ihn das Grauen der Sünde schauen. Das Verhängnis der Sünde sieht man nirgends deutlicher als an dem verblutenden, zerrissenen Leib des Gottessohnes. So furchtbar ist die Sünde, sagt Gott gewissermaßen, indem er auf das Kreuz deutet, so furchtbar ist die Sünde, daß mein eigener Sohn in schweigendem Verbluten am Kreuze dafür gesühnt hat. Da wird der Mensch inne, was es um seine Verantwortung ist für die Aufrichtung der Gottesherrschaft; da begreift er, mit welchem Ernst er aufgerufen ist, an der Verherrlichung Gottes zu arbeiten. Da geht ihm auf, daß Gott von ihm viel erwartet, daß die Erlösung eben kein mechanischer oder naturhafter Vorgang ist wie die Ausbesserung einer Maschine oder das Wachstum einer Pflanze, sondern daß die Erlösung ein Geschehen ist, das an die Verantwortung des Menschen appelliert. Weil der Mensch in Freiheit geschaffen ist, muß er auch in Freiheit sich zur Erlösung bekennen.

Der dritte Grund für die Erlösung durch das Leben, Leiden und Sterben Jesu Christi wird sein, daß durch die Menschwerdung des Gottessohnes der Sinn der geistbegabten Schöpfung erfüllt wird. Welches ist denn der Sinn der geistbegabten Schöpfung? Er liegt darin, daß sie Gott erkennen, Gott lieben, Gott dienen und ihn verherrlichen soll. Und niemals und nirgends wird Gott mehr Verherrlichung zuteil als in dem menschgewordenen Gottessohn. Ihm soll sich die ganze Schöpfung anschließen. Er ist das Haupt der Schöpfung, und alle, die zur Schöpfung gehören, sollen es ihrem Haupte gleichtun, sollen wie ihr Haupt dem Vater im Himmel in Gehorsam, in Dankbarkeit, in Hingabe und in Treue dienen.

Nun hat die Theologie immer vor der Frage gestanden, ob nicht der Menschwerdung eine gewisse Notwendigkeit innewohnt und wie denn das Verhältnis von Sünde und Genugtuung sei. Seit dem heiligen Anselm, dem Erzbischof von Canterbury, hat man folgenden Gedankengang entwickelt: Wenn eine ebenbürtige Genugtuung geleistet werden sollte, dann konnte sie nur vom Gottmenschen geleistet werden. Denn in der Sünde liegt eine unendliche Beleidigung, weil sie sich gegen Gott richtet. Und diese unendliche Beleidigung kann nicht anders wiedergutgemacht werden, als indem der Gottmensch die Sünde aufarbeitet durch seine glühende Liebe, durch seinen Gehorsam, durch seine Treue bis zum Tode. Das ist die Anselmsche Konzeption, die er in dem Buche „Cur deus homo?“ – Warum Gott ein Mensch geworden ist – behandelt hat. Aber diese Lehre, diese theologische Theorie, ist nicht unwidersprochen geblieben. Andere Theologen, wie vor allem der Schotte Duns Scotus, haben dagegen eingewendet, daß der Mensch gar nichts Unendliches tun kann. Die Sünde ist ihrem Wesen nach eine endliche Handlung, nur der Gegenstand der Sünde, also gegen den sie sich richtet, der sei unendlich, eben Gott. Und weil die Sünde eine endliche Handlung ist, kann auch die Erlösung, wenn Gott es so wollte, durch ein endliches Wesen bewirkt werden. Gott hätte also auch einen Menschen übernatürlich erheben können und durch ihn die Genugtuung bewirken lassen können. Nur wenn er in überschwenglicher Weise die Sünde aufarbeiten lassen wollte, dann war es notwendig, daß sein Sohn Mensch wurde.

Eine andere Frage besteht darin, ob der Logos auch Mensch geworden wäre, wenn die Menschen nicht gesündigt hätten. Also die Frage: Hat Gott die Menschwerdung zuerst geplant und dann die Sünde zugelassen, oder hat er, weil er die Sünde voraussah, die Menschwerdung in seinen Schöpfungs- und Erlösungsplan aufgenommen? Wäre der Menschensohn auch ohne Sünde Mensch geworden? Nun, eines ist sicher: In der gegenwärtigen Heilsordnung – wir bekennen es ja im Glaubensbekenntnis – ist er Mensch geworden um unserer Sünden willen. Wir werden dann gleich wieder im Glaubensbekenntnis rufen: „Für uns Menschen und um unserer Sünden willen ist er ein Mensch geworden.“ Es bleibt also unweigerlich bestehen, daß in der gegenwärtigen Heilsordnung die Sünde, die Aufarbeitung der Sünde, ein Grund war, weshalb der Gottessohn Mensch wurde. Aber es scheint, daß diese Auslegung nicht ausschließt, daß der Logos, die zweite Person in Gott, von vornherein im Plane Gottes als das Haupt der Schöpfung vorgesehen war. Es gibt Texte in der Heiligen Schrift, die diese Auffassung nahelegen. So heißt es etwa im Brief des Apostels Paulus an die Kolosser: „Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene aller Schöpfung. Denn in ihm ist alles erschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und Unsichtbare. Alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen. Und er ist vor allem, und alles hat in ihm den Bestand. Er ist das Haupt des Leibes der Kirche. Er ist der Anfang, der Erstgeborene unter den Toten, damit er in allem den Vorrang habe, denn es hat Gott gefallen, die ganze Fülle in ihm wohnen zu lassen.“

Dieser Text scheint nahezulegen, daß Christus von vornherein, so wie er der Grund der Schöpfung ist, auch als die Krone der Schöpfung vorgesehen war, daß Gott wollte, daß die Schöpfung ihre Krönung in Christus, dem menschgewordenen Gottessohn, empfängt. Dafür lassen sich mehrere Überlegungen anführen. Gott tut ja doch das Gute nicht um des Bösen willen, sondern er läßt das Böse um des Guten willen zu. Und weil eben das Gute, also die Menschwerdung des Logos, zuerst intendiert war, hat er dann in Voraussicht dieser Menschwerdung die Sünde zugelassen. Außerdem muß man bedenken: Das größte Wunder, das Gott gewirkt hat, ist die Menschwerdung. Sollte die Sünde so mächtig sein, daß sie dieses Wunder aus sich hervorgetrieben hat? Es ist eher anzunehmen, daß die Menschwerdung von vornherein geplant war und dann in Voraussicht dieses einzigartigen Wunders Gott die Sünde zuließ. Es wird durch diese Erklärung, die von großen Theologen, von heiligen Theologen vorgetragen wird, z.B. von Albert dem Großen, auch wieder von Duns Scotus, von Franz von Sales, nichts zurückgenommen. Selbstverständlich bleibt bestehen, was an derselben Stelle im Kolosserbrief steht: „Es hat Gott gefallen, die ganze Fülle in ihm wohnen zu lassen und durch ihn alles mit sich zu versöhnen, indem er Frieden stiftete durch das Blut seines Kreuzes.“ Selbstverständlich bleibt das bestehen. Aber es wird gewissermaßen ergänzt durch die andere Wirklichkeit, nämlich daß die Menschwerdung von vornherein von Gott geplant war. Es sollte die Welt, es sollte die Schöpfung ihre Krone empfangen in Christus Jesus. Und weil er das von vornherein vorausgesehen und vorausgeplant hatte, deswegen hat er die Sünde zugelassen.

Glauben Sie nicht, meine lieben Freunde, daß diese Überlegungen überflüssig seien oder daß es sch hier um verstiegene Gedankenspiele handle. Nein, wir müssen uns über den Grund unseres Glaubens Rechenschaft geben. Wir müssen auch auf Fragen antworten können, und wir müssen Einwänden begegnen können. Und die eben vorgetragenen Gedanken sind von großen, heiligmäßigen oder heiligen Theologen entwickelt worden, um auf diese Fragen Antwort zu finden. Wir stehen freilich vor der Tatsache, daß der Gottessohn ein Mensch geworden ist für uns Menschen und um unserer Sünden willen, daß wir also Anlaß zu Dank, zu Gehorsam, zu Hingabe haben, daß wir jetzt unser Haupt gefunden haben, dem wir uns anschießen können, um durch unser Leben den Vater im Himmel zu verherrlichen, daß wir ihn preisen um der Weisheit willen, mit der er alles wunderbar geordnet hat. „O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unerforschlich sind seine Wege, wie unergründlich seine Gerichte!“

Amen.

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