Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Geschichte des Protestantismus (Teil 2)

26. Februar 2017

Die Mittel des Abfalls

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die Bewegung, die der Augustinermönch Martin Luther entfacht hatte, war erfolgreich. Um 1570 waren etwa sieben Zehntel der deutschen Bevölkerung protestantisch. Wie erklärt sich dieser Abfall? Von protestantischer Seite wird auf die Kraft des von Luther angeblich neu entdeckten Evangeliums verwiesen. Damit wird an einer Legende gewoben. Ihre Unhaltbarkeit ist schon daran zu erkennen, dass nur wenige seiner Anhänger ihn überhaupt verstanden haben. In den Spannungen der Zeit griff vielmehr jeder aus seiner Lehre das heraus, was ihm passte. Der große Anschluss an Luthers Bewegung geschah aus ganz anderen Motiven, die nicht zum Mindesten ungeistiger, oft rein materieller Art waren. Ich will heute und an den kommenden Sonntagen versuchen, Ihnen die Ursachen der Ausbreitung des Luthertums vor Augen zu führen.

Die Religionsstiftung Luthers wurde als notwendige Reform der katholischen Kirche ausgegeben. Niemand bestreitet, dass es in der Kirche zu Beginn des 16. Jahrhunderts Missstände gab. Es existiert überhaupt keine Periode der Kirchengeschichte, in der es keine Missstände gegeben hätte. Missstände sind Abweichungen von dem Wesen oder von der Norm einer Einrichtung; ihre Abstellung verlangt die Korrektur. Die Kirche bedarf immer der richtig verstandenen Reform. Es gab also auch am Anfang des 16. Jahrhunderts in der Kirche vieles zu bessern, angefangen vom Heiligen Stuhl in Rom bis zum letzten Leutpriester in Sachsen. Aber die Missstände dürfen nicht übertrieben werden. Der evangelische Historiker Johannes Haller, dessen Bücher ich in meiner Jugend mehrfach gelesen habe, schreibt: „Es berechtigt uns nichts, von einem religiösen und sittlichen Verfall der Kirche zu Beginn des 16. Jahrhunderts zu reden.“ Ich wiederhole: Es berechtigt uns nichts, von einem religiösen und sittlichen Verfall der Kirche zu Beginn des 16. Jahrhunderts zu reden. Luther aber bediente sich der Missstände. Er benutzte sie, um eine neue Kirche zu schaffen. Er missbrauchte das Versagen von Menschen, um die Einrichtungen zu Fall zu bringen, die durch menschliche Schwäche teilweise verunstaltet waren. Er unternahm es also nicht, Pflichtverletzungen zu beseitigen, Unsitten zu beheben, sondern er änderte den Glauben und setzte an die Stelle der katholischen Kirche eine Kirche nach seinem Verständnis. Die Gläubigen der damaligen Zeit meinten, es sei Luther darum zu tun, Auswüchse, Übelstände, Unsitten zu beseitigen, und so begrüßten sie sein Vorgehen. Denn gerade die eifrigen Gläubigen, die Reformfreunde wollten ja, dass sich die Kirche zum Guten wandelt. Allerdings gab es schon von Anfang an Geistliche und Laien, die Luthers Bewegung durchschauten und erkannten, dass seine angeblichen Besserungen Abschaffungen waren. Johannes Fabri fragte im Jahre 1522 Luther, warum er nicht durch Mahnungen und Schriften die Konkubinen der gesunkenen Geistlichen entfernt habe. Es sei vielmehr offensichtlich seine Absicht, dem Volke nach Gefallen zu reden, damit seine Verteidiger zunehmen.

Es ist eine allgemeine Erfahrung: Wer gegen Behörden und Obrigkeiten angeht, darf bei vielen Menschen auf Beifall rechnen. Die Unzufriedenheit mit Regierungen ist weit verbreitet, eine gängige Erscheinung. Wer gegen die Autorität auftritt, ist immer populär. Luther tat es mit dem Schein moralischer Autorität. Er tat es aus vermeintlicher Sorge um die Kirche, und er tat es in beispiellos kecker Form mit Ironie, Hohn und Spott und Herabziehung der Gegner ins Lächerliche; das brachte ihm Beifall. Er wurde der wahre Volksmann, der Vorkämpfer für die Massen, der Erlöser aus aller Not. Wir Älteren haben es erlebt, wie in ähnlicher Weise Adolf Hitler in die Rolle eines Erlösers hineinwuchs und wie die Massen von ihm fasziniert waren, denn er versprach die Beseitigung der damaligen Notlage des Volkes. Luther verstand es, die latente Abneigung gegen Vorgesetzte in offene Ablehnung zu verwandeln. Sein rücksichtsloses Vorgehen gegen Papst, Bischöfe, Geistliche brachte ihm den Beifall der Massen. Am meisten flogen ihm natürlich zu die jungen Menschen, die Studenten, die Schüler, die unteren Schichten des Volkes. Je weniger sie denken, desto zugänglicher sind sie für Spott und Unflat. Eine ebenso durchgängige Erscheinung ist die Voreingenommenheit vieler, ja der Mehrzahl der Menschen für alles Neue. Das Neue ist eben besser als das Alte, so meinen sie. Das Neue ist das Moderne, das Fortschrittliche, und das muss man annehmen. „Sie müssen mit der Zeit gehen“, sagte einmal ein Nachbar zu mir. Alles Neue, alles Moderne, alles Zeitgemäße übt auf die Menschen eine starke Anziehungskraft aus, und Luthers Religion war neu. Sie war nicht mehr katholisch, sie war eine neue, eine andere Religion. Er kannte das gärende Verlangen nach Neuem, nach Änderung, und er kam ihm entgegen, indem er alles das beseitigte, was den Menschen beschwerlich war. Ideen wirken nur, wenn sie verbreitet werden. Dafür gab es im 16. Jahrhundert ein neues Mittel, nämlich den Buchdruck. Der Buchdruck hatte wesentlichen Anteil daran, dass das Luthertum sich mit phantastischer Schnelligkeit ausbreitete. Luthers Schriften trugen seine Botschaft in 14 Tagen bis an die Grenzen des Deutschen Reiches. Eine Schrift nach der anderen warf er auf den Markt; er beschäftigte zeitweise vier Buchdrucker. Die ungewöhnliche Gabe der Darstellung, die er seiner mächtigen Phantasie verdankte, und die außerordentliche Leichtigkeit im Gebrauch der deutschen Muttersprache, die ihm eigen war, trugen nicht wenig dazu bei, ihn beliebt zu machen.

Vor allem aber verdankt der Protestantismus seine Verbreitung seiner Lehre, einer Lehre, die sich vom katholischen Glauben durch weitgehende Nachgiebigkeit gegenüber der intellektuellen und ethischen Schwäche der Menschen auszeichnet. Es war die Lehre vom Glauben allein. Man braucht nur zu glauben, dass Jesus Christus für uns Sühne und Genugtuung geleistet hat, dann darf man des Heiles gewiss sein. Allein der Glaube, als Vertrauen verstanden, ist notwendig für die Rechtfertigung und für das Heil. Der Sünder ist gerechtfertigt und wird gerettet vermögen einer Amnestie unter der Hülle der Verdienste Christi. Der bloße Glaube ergreift die ganze Fülle der Genugtuung des Erlösers, darüber hinaus braucht es nichts. Die Religion wurde billig. Luther predigte einen wunderbar einfachen und leichten Weg zum ewigen Leben, nämlich den Weg des Glaubens. Die frohe Botschaft besteht darin, dass das Gesetz bereits erfüllt ist, nämlich durch Christus; es ist also gar nicht notwendig, es zu erfüllen. Notwendig ist nur, Christus durch den Glauben anzuhangen. Das war eine fröh-liche Botschaft. Nicht durch Anstrengung, durch Buße und Besserung wird der Mensch vor Gott gerecht und des ewigen Heils gewiss, sondern auf leichte und bequeme Art, nämlich durch einen bloßen Akt der gläubigen Annahme und des Sichzurechnens der Heiligkeit Christi. Es ist kein Wunder, dass viele Menschen diesem Manne zuliefen.

Großen Erfolg hatte er auch mit seiner Lehre von der Freiheit des Christen, von der angeblichen Freiheit des Christen. Er hatte es vorgemacht, was diese Freiheit vermag. Er war gegen die Kirche, gegen das Papsttum, gegen das Kaisertum aufgestanden, und es war ihm nichts passiert. Er hatte die universalen Mächte in seine Schranken gefordert und war unbehelligt, ja Sieger geblieben. Er hatte diese Freiheit weiter in Anspruch genommen, um sich von den Banden seiner Gelübde und der klösterlichen Disziplin zu befreien; er war ein entsprungener Mönch. Er hatte das Joch des Zölibates abgeworfen und sich mit einer ehemaligen Nonne verheiratet. Wahrhaftig, Luther zeigte, wie die von ihm verkündigte Freiheit in der Praxis aussehen konnte. Und das vermachte er seinen Anhängern. Er befreite sie vom Gesetz und von der äußeren Autorität und gab die Gewissen frei. Luther stellte das Gewissen auf sich selbst oder auf seine eigene Auslegung der Heiligen Schrift. Nach ihm erhebt jeder aus der Schrift für sich selbst, was er tun darf und was er tun soll. Wenn einer den Antrieb des Geistes verspürt, dann wird erlaubt, was bisher als sittlich unerlaubt galt. Es gibt keine unverbrüchlichen, für immer und immer geltenden Gesetze im sittlichen Bereich. Dass jemand mehrere Ehefrauen hat, widerspricht nach Luther nicht der Heiligen Schrift. Das war selbst seiner Frau zu viel. Sie sagte: Wenn das stimmt, dann gehe ich wieder zurück ins Kloster. Als der Landgraf von Hessen sich eine zweite Frau antrauen ließ, da tat er das nach Luther aus Not des Gewissens – aus Not des Gewissens. Er lehrte die Menschen sich trösten gegen ihr Gewissen. Gewissensbisse sind nach ihm Teufelsgedanken.

Dazu kam der angebliche Gewinn der Laien durch die Abschaffung des Priestertums. Nach Luther gibt es kein Weihesakrament. „Alles, was aus der Taufe gekrochen ist“, so sagt er wörtlich, „ist Priester, Bischof und Papst.“ Jedermann ist befugt, Eucharistie zu halten; ein jeder vermag über den Sinn der Heiligen Schrift zu urteilen; alle Glieder der Gemeinde entscheiden über Anstellung und Abberufung des Pfarrers; die kirchliche Hierarchie hat keine Macht, den Menschen Bindungen sittlicher Art aufzuerlegen. Das zeigte sich vor allem bei der Übung des Fastens. Fasten ist lästig. Die meisten Menschen handeln nach dem Grundsatz: Wir essen, was uns schmeckt und wann es uns schmeckt. Nun kam Luther mit seiner Botschaft: Der Papst und die Kirche haben kein Recht, Fastengebote aufzuerlegen. Das war eine Botschaft, die man gern hörte. Luther selbst war kein Kostverächter. Er ließ es sich schmecken, er aß und trank gern. Er war dem Bier und dem Wein zugetan. Wiederholt schrieb er in seinen Briefen: „Ich fresse wie ein Böhme und saufe wie ein Deutscher.“ Der Apotheker Johannes Landau, der Luther nach seinem Tode untersuchte, der seine Leiche behandelte, stellte fest: Infolge übermäßigen Essens und Trinkens sei der Körper ganz mit verdorbenen Säften angefüllt gewesen. Er habe einen Überfluss an süßen und ausländischen Weinen gehabt.

Luther wusste, wie man es anstellen musste, um sich alle die leichtfertigen Elemente aus der Priesterschaft und dem Ordensstande zuzuführen, die mit ihrer Lage unzufrieden waren, die sich nach einem freieren Leben sehnten. Er verwarf die Ordensgelübde. Wer ein Gelübde mache, verleugne Christus und den Glauben; das ist seine frohe Botschaft. Seine Schrift gegen die Ordensgelübde verschaffte ihm eine große Anhängerschaft, allerdings von sehr zweifelhafter Art. Mönche und Nonnen, die ohne Berufung ins Kloster eingetreten waren oder die ihre Berufung verloren hatten, fielen ihm zu. Gleichzeitig lief er Sturm gegen das Gebot der Enthaltsamkeit, der geschlechtlichen Enthaltsamkeit. Er erklärte, die Beobachtung der völligen Enthaltsamkeit sei unmöglich. Die Keuschheit sei ebenso wenig in der Macht des Menschen wie die Gabe, Wunder zu tun. Die geschlechtliche Betätigung sei unumgänglich, die Eingehung der Ehe ein Gebot Gottes. 1522 sprach er zum deutschen Volke, dass der Mensch entweder heiraten oder ins Bordell gehen muss; eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Geistlichen, die in Konkubinat verwickelt waren, empfahl er, die Frau, die Konkubine zu heiraten, im Glauben, sie könnten dies guten Gewissens tun. Er appellierte immerfort an die niedrigen Triebe im Menschen, oder anders ausgedrückt, an den inneren Schweinehund.

Das bequeme Evangelium, das Luther verkündete, griff auch auf den Gottesdienst über. Er stülpte die kirchliche Lehre von Messe und Kommunion um. Bisher hatten die Christen, die den Leib des Herrn empfangen wollten, sich um würdige Vorbereitung bemüht: durch einen ehrbaren Lebenswandel, durch Gebet und Buße, durch Empfang der Lossprechung im Bußsakrament, durch Nüchternheit ab Mitternacht. Das alles ließ Luther entfallen. Er hatte ja das Bußsakrament abgeschafft, jetzt funktionierte er das Abendmahl zum Bußsakrament um. Man dürfe getrost mit schweren Sünden zum Abendmahl gehen, gerade das solle man tun. Die Neuheit und Leichtigkeit des Empfanges des Abendmahles zog die Menschen zu dem neuen Ritus. Viele kommunizierten, nachdem sie vorher reichlich gegessen und getrunken hatten. Seinen Ordensbrüdern in Wittenberg stärkte er ihr Gewissen gegen die katholische Messe, sie sei Abgötterei, also Götzendienst. Den Kurfürsten drängte er, die Messe zu verbieten. Die katholisch gebliebenen Stiftsherren beugten sich schließlich der Gewalt. Zuspruch fand Luther selbstverständlich auch mit der Abschaffung des Bußsakramentes: Bußsakrament gibt es nicht, Beichte ist kein Sakrament, sondern Übung der Taufe, Erinnerung der Taufe, Tauferneuerung. Wer beichten will, kann beichten, und jeder kann ihm die Lossprechung geben, ein jeder. Das ist Luthers Lehre von der Buße. Nicht mehr beichten müssen, nicht mehr vor Gott und seinem unwürdigen Diener sich bloßstellen müssen, das erschien den von Luthers Redeschwall unsicher gemachten Menschen als eine große Erleichterung. Die Abschaffung des Bußsakramentes führte ihm Menschen zu, denen es darauf ankam, auf möglichst billige Weise das Heil zu erwerben. Damit, meine lieben Freunde, soll es für heute sein Bewenden haben. Ich habe Ihnen einige gewichtige Mittel gezeigt, deren sich Luther bediente, um die Massen zum Abfall von der Kirche zu bewegen. Sie sind alles andere als ehrenhaft. Das gesamte Unternehmen, das er ins Leben gerufen hatte, war ja auf die Abschaffung alles Beschwerlichen gerichtet. So kann man Menschen gewinnen. Man sagt, Luther habe keine Kirchenspaltung gewollt. Ich stimme zu. Er wollte keine Spaltung der Kirche, er wollte die gesamte Kirche nach seinen eigenen Vorstellungen gestalten. Nicht einen Teil der Gläubigen, er wollte sie alle zum Abfall verführen. Das ist ihm, dank Gottes Hilfe, nicht gelungen.

Amen.

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