Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Rechtfertigung aus Gnade (Teil 20)

6. August 2000

Die Notwendigkeit der Gnade

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Es hat immer wieder Menschen gegeben, die den Traum von der Selbsterlösung geträumt haben. Kein höheres Wesen, kein Gott sollte ihnen dazu verhelfen, von Unrecht, Leid, Schuld und Trauer befreit zu werden. Im Mythos der Griechen ist vor allem Prometheus die Gestalt, die unter Verzicht auf die Macht der Götter die Selbsterlösung bewirken will. „Hast du nicht alles selbst vollendet, heilig glühend Herz?“, so heißt es in dem Gedicht „Prometheus“ von Goethe. Hast du nicht alles selbst vollendet, heilig glühend Herz?

In unserer Zeit hat es ganze, gewaltige Strömungen gegeben, die den Traum der Selbsterlösung träumten. Ich erinnere vor allem an den Sozialismus. Der Sozialismus ist eine Bewegung, die den Menschen Erlösung bringen will. Seine Protagonisten meinten, wenn man die Produktionsverhältnisse ändert, wenn man das Eigentum an den Produktionsmitteln abschafft, wenn man die klassenlose Gesellschaft einführt, dann kommt das Reich nicht Gottes, sondern das Reich des Menschen auf Erden, dann kommt das Paradies. Wir alle haben das Scheitern dieser Versuche erlebt und wissen: Es gibt keine Selbsterlösung. Wenn der Mensch erlöst werden soll, dann nicht durch Hingabe an die Natur und auch nicht durch Aufrichtung von bestimmten Produktionsverhältnissen, sondern wenn er erlöst werden will, dann muß er sich an Gott wenden.

Wir sind dabei, uns die Erlösung durch Gott vor Augen zu führen, indem wir von der helfenden, von der aktuellen, von der Tat- oder Wirkgnade sprechen. Es ist ein Glaubenssatz unserer Kirche: Alles heilswirksame Tun des Menschen kann nur geschehen, wenn Gott innerlich seine Kraft dazu gibt. Zu heilswirksamem Handeln des Menschen ist die innerliche göttliche Gnadenwirksamkeit absolut notwendig.

Die Kirche hat diese Wahrheit lichtvoll auf dem Konzil von Trient ausgesprochen. Gegen die damals aufstehenden Neuerer hat sie die katholische Lehre von der Erlösung, von der Notwendigkeit der Erlösung, von der Notwendigkeit der Erlösung durch Gottes Gnade in folgende Sätze gefaßt:

„Wer behauptet, daß der Mensch durch seine Werke, die durch die Kräfte der menschlichen Natur oder in der Lehre des Gesetzes vollbracht werden, ohne die göttliche Gnade, die da ist durch Christus Jesus, vor Gott gerechtfertigt werden könne, der sei ausgeschlossen.“

„Wer behauptet, dazu allein werde die göttliche Gnade durch Jesus Christus gegeben, daß der Mensch leichter gerecht leben und das ewige Leben verdienen könne, als ob er beides auch durch den freien Willen ohne Gnade könne, nur eben mühsam und schwer, der sei ausgeschlossen.“ Und schließlich:

„Wer behauptet, der Mensch könne ohne die zuvorkommende Eingebung und Hilfe des Heiligen Geistes glauben, hoffen, lieben und büßen, wie es notwendig ist, damit ihm die Gnade der Rechtfertigung zuteil wird, der sei ausgeschlossen.“

Daß Gott allein die Rechtfertigung, also die Versetzung aus dem Stande des Sünders in den Stand des Heiligen, bewirken kann, haben wir an vielen früheren Sonntagen uns vor Augen geführt. Jetzt geht es darum, zu erläutern, daß auch zu den ersten Schritten, die zu Gott hinführen, die Gnade notwendig ist. Es sind nämlich Männer aufgetreten, die behaupteten: Ja, die ersten Schritte kann der Mensch selber tun. Ein solcher Mann war der irische Mönch Pelagius. Er war von einem grenzenlosen sittlichen Optimismus erfüllt. Er meinte, der Mensch könne aus eigener Kraft die Sünde meiden, die Sünde überwinden und das ewige Leben erlangen. Das ist die Irrlehre des Pelagianismus. Diese Irrlehre, die im 5. Jahrhundert aufgetreten ist, ist auch schon in dieser Zeit zurückgewiesen worden. Ich habe Ihnen eben die Stellen aus dem Konzil von Trient vorgetragen, die sich mit der Notwendigkeit, mit der absoluten Notwendigkeit der Gnade befassen. Aber was das Konzil von Trient vorgelegt hat, das ist schon tausend Jahr vorher von einem anderen Konzil, nämlich von Orange in Südfrankreich, genau so vorgelegt worden. Hier haben wir einmal ein Beispiel, wo wir sehen können: Der Glaube der Kirche hat sich in tausend Jahren nicht gewandelt. Was 1547 vom Konzil von Trient gelehrt wurde, das ist 529 vom Konzil von Orange ebenso gelehrt worden. Und ich will Ihnen zum Beweis die Texte, die damals, also am Anfang des 6. Jahrhunderts, formuliert wurden, wenigstens teilweise vortragen.

„Wer sagt, die Gnade Gottes könne auf menschliches Flehen hin verliehen werden, nicht aber die Gnade selbst bewirke es, daß sie von uns erfleht werde, so widerspricht er dem Propheten Isaias und dem Apostel, der dasselbe sagt: ,Ich ließ mich finden von denen, die mich nicht gesucht. Ich wurde offenbar denen, die nach mir nicht fragten.‘ Wer dafür eintritt, Gott müsse auf unseren Willen warten, damit wir von Sünde gereinigt werden, nicht aber bekennt, es geschehe in uns durch die Mitteilung und das Wirken des Heiligen Geistes, daß wir von Sünden gereinigt werden wollen, der widersteht dem Heiligen Geiste selbst, denn der Apostel sagt: ,Gott ist es, der in euch das Wollen und das Vollbringen wirkt, wie es ihm gefällt.‘ Wer sagt, wie die Vermehrung, so sei auch der Anfang des Glaubens, ja selbst die fromme Glaubensbereitschaft, wodurch wir an den glauben, der den sündigen Menschen rechtfertigt, und wodurch wir zur Wiedergeburt der heiligen Taufe gelangen, nicht in uns kraft eines Gnadengeschenkes, sondern auf natürliche Weise, der erweist sich als ein Feind der apostolischen Glaubenssätze, denn so sagt der Apostel Paulus: ,Darum haben wir das feste Vertrauen, daß der, der das gute Werk in euch angefangen hat, es auch vollenden wird bis zum Tag Christi.‘ Wer sagt, wenn wir ohne Gnade Gottes glauben, wollen, verlangen, uns abmühen, arbeiten, beten, wachen, uns anstrengen, bitten suchen, anklopfen, dann werde uns die Barmherzigkeit Gottes verliehen. Wer aber nicht gleichzeitig bekennt, daß wir glauben, wollen oder all dies, wie es sich gebührt, zu tun vermögen, geschehe in uns durch die Mitteilung und die Eingebung des Heiligen Geistes, und wer die Gnadenhilfe der Demut oder dem menschlichen Gehorsam unterordnet, nicht aber bekennt, es sei ein Geschenk der Gnade, daß wir demütig und gehorsam seien, der widerspricht dem Apostel, der sagt: ,Was hast du, das du nicht empfangen hättest? Und durch die Gnade Gottes bin ich, was ich bin.‘“

In diesen Ausführungen des Konzils von Orange werden immer ein richtiger, aber unvollständiger Satz und ein diesen vervollständigender Satz nebeneinandergestellt, und dann wird das Ganze bestätigt durch einen Ausspruch der Heiligen Schrift. Das zeigt uns wiederum, daß nicht im Jahre 529 etwas Neues aufgebracht worden ist, etwa durch das Konzil von Orange, sondern was dieses Konzil verkündet hat, das ist in der Heiligen Schrift niedergelegt. Wir können also jetzt 1500 Jahre Kirchengeschichte überblicken und können sagen: Es hat sich nichts geändert. Was am Anfang von den Aposteln gelehrt wurde, das hat das Konzil von Orange übernommen, und was das Konzil von Orange, beeinflußt vom heiligen Augustinus und seinen Gedanken, verkündet hat, das ist vom Konzil von Trient wiederholt worden.

Im Neuen Testament ist oft und oft von der Notwendigkeit der Gnade die Rede. Sie kennen alle die Geschichte, wie ein reicher Jüngling zu Jesus kommt und fragt, was er tun müsse. um das ewige Leben zu erlangen. Der Herr sagt ihm: „Du mußt eben alles verlassen, was du hast.“ Und da geht der Jüngling dann traurig von dannen, denn er hatte viele Güter. Und im Zusammenhang mit dieser Begebenheit sagt der Herr, als ihn die Jünger fragen: Ja, wer kann denn da selig werden?: „Bei den Menschen ist es unmöglich, aber bei Gott nicht, denn bei Gott ist alles möglich.“ Eben durch die Macht der Gnade. Johannes schreibt in seinem Prolog: „Allen, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden.“ Also das Aufnehmen geschieht in der Macht der Gnade. Allen, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden. Ohne diese Ermächtigung hätten sie nicht Kinder Gottes werden können.

Die Notwendigkeit der Gnade hebt Herr auch an anderen Stellen im Johannesevangelium hervor, wenn er sagt: „Wenn jemand nicht wiedergeboren wird aus dem Wasser und dem Geiste, kann er in das Reich Gottes nicht eingehen.“ Das Reich Gottes kommt nicht durch Veränderung der Produktionsverhältnisse, es kommt nicht durch Anstrengung des menschlichen Geistes, durch Technik und durch Gen-Operationen, sondern das Heil kommt durch Wiedergeburt aus dem Heiligen Geiste. Ähnlich sagt der Herr in seiner großen eucharistischen Rede: „Niemand kann zu mir kommen, wenn der Vater ihn nicht zieht.“ Das heißt eben, es muß eine Bewegung von Gott ausgehen, damit wir überhaupt wollen können, zu Gott zu kommen. Wiederum wird die Notwendigkeit der Gnade ausgesprochen, wenn der Herr sagt: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt.“ Wir sind in der Kirche, wir sind durch die Taufe gerechtfertigt, weil Gott uns erwählt hat, gewiß mit manchen Zwischenstufen und durch Zwischenursachen, aber die Erwählung geht von Gott aus. Er tut den ersten Schritt, und dann kann der Mensch beistimmen. Auch der Apostel Paulus hebt deutlich hervor, daß alle Menschen der Sünde verfallen sind und daß alle durch die Gnade ohne Verdienst gerechtfertigt werden. Keiner kann sich rühmen, daß er seinem Wirken das Heil verdankt. Dieses ist immer und nur dem Erbarmen Gottes zu verdanken, etwa, wenn er schreibt: „Sie werden gerechtfertigt ohne Verdienst durch seine Gnade durch die Erlösung in Christus Jesus.“ Derselbe Paulus bezeichnet das ewige Leben als Gnade, d. h. als Geschenk Gottes: „Der Sünde Sold ist der Tod, das ewige Leben aber ist Gnade Gottes in Christus Jesus, unserem Herrn. Und wer das ewige Leben erben will, der muß auf den Geist säen und nicht auf das Fleisch. Gott läßt seiner nicht spotten. Was der Mensch sät, das wird er ernten. Wer auf das Fleisch sät, wird vom Fleisch Verderben ernten, wer aber auf den Geist sät, wird vom Geist ewiges Leben ernten.“ Man muß also den Geist in sich aufnehmen, im Geiste wandeln und sich vom Geiste treiben lassen, dann wird das ewige Leben unser sein.

Daß auch die ersten Schritte auf Gott hin von Gott durch seine Gnade bewirkt werden müssen, das spricht Paulus im Brief an die Philipper aus: „Ich habe das Vertrauen, daß der, welcher in euch das gute Werk angefangen hat, es auch vollenden wird.“ Anfang und Vollendung sind der Gnade Gottes zuzuschreiben. Von Gott geht die Bewegung des Willens aus, die zu Christus hinführt. Der Anfang des Heils kommt von Gott. „Gott ist es, der das Wollen und Vollbringen in euch wirkt nach seinem Wohlgefallen.“

Meine lieben Christen, diese eben vorgetragenen Wahrheiten sind deswegen für den Weltmenschen, für den auf seine eigene Kraft bauenden Menschen, für den ich-verfangenen Menschen so schwer zu begreifen, weil die Gnade und ihr Wirken unanschaulich ist. Wir haben schon am Anfang gesagt: Wir können die Gnade nicht messen, nicht wägen, wir können sie nicht unter das Mikroskop legen; die Gnade ist unanschaulich. Das macht die Annahme der Wahrheiten, die es mit der Gnade zu tun haben, so relativ schwer. Aber es läßt sich doch begründen, daß die Gnade notwendig, absolut notwendig ist zum Anfang und zur Vollendung des göttlichen Lebens in uns. Zunächst einmal kann man einen Beweis führen aus der Geschöpflichkeit des Menschen. Der Mensch ist Geschöpf, Gott ist der Schöpfer. Gott beruft ihn in sein göttliches Leben, aber wie soll der Mensch in dieses göttliche Leben eindringen, wenn Gott ihn nicht einführt? Gott ist transzendent, d. h. er ist ganz anders als der Mensch. Wenn der Mensch zu Gott kommen will, muß Gott sich öffnen. Nur wenn er sich öffnet und den Menschen hineinzieht in sein Leben, dann kann der Mensch am göttlichen Leben teilnehmen. Seine Geschöpflichkeit verbietet es, daß er Gott zwingen könnte, ihn in sein Leben hineinzuholen.

Der zweite Beweis wird geführt aus der Sündhaftigkeit des Menschen. Durch die Sünde ist der Verstand des Menschen verdunkelt, ist sein Wille geschwächt. Er hat keinen Hang und keinen Drang zu Gott. Er ist verfangen in die Welt und sucht nicht Gott. Da muß Gott ihm zu Hilfe kommen, damit er seine Ich-verfangenheit, seine Weltverlorenheit überwindet und den Weg zu Gott findet. Also es gibt eine metaphysische und es gibt eine heilsgeschichtliche Begründung dafür, daß die Gnade zu jedem guten Werk notwendig ist, daß Gott den Anfang machen muß und die Vollendung herbeiführen muß. Dabei wird, wie wir noch später sehen werden, die menschliche Freiheit nicht aufgehoben. Der Mensch handelt frei unter dem Antrieb der Gnade Gottes. Gott beeinträchtigt nicht die Freiheit des Menschen, sondern er garantiert sie, er gewährleistet die Freiheit des Menschen, er verbürgt sie. In der Gnade Gottes handelt der Mensch frei. Weil Gott die Gnade gibt, kann er so frei handeln, wie er ohne Gnade nicht handeln könnte.

So ist also, meine lieben Freunde, die Gnade absolut notwendig, und im Kirchengebet des heutigen 8. Sonntags nach Pfingsten ist diese Notwendigkeit in ergreifender Weise ausgesprochen. Da heißt es nämlich: „Wir bitten dich, Herr, gib uns in deiner Güte allzeit den Geist, das Rechte zu denken und zu vollbringen. Ohne dich können wir nicht bestehen. So gib uns die Kraft, zu leben, wie es deinem Willen entspricht.“ O wie wunderbar ist das, was wir vorher ausführten, hier zusammengefaßt! Wir bitten dich, o Herr, unser Gott, gib uns in deiner Güte allzeit den Geist, das Rechte zu denken und zu vollbringen. Ohne dich können wir nicht bestehen. So gib uns die Kraft, zu leben, wie es deinem Willen entspricht, durch unseren Herrn Jesus Christus.

Amen.

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