Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Pflichten gegen den Nächsten (Teil 7)

25. Oktober 1998

Die Verfehlungen gegen die Wahrhaftigkeit

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Bei einer Unterhaltung sagte eine Frau: „Ich habe in meinem Leben dreimal gelogen.“ Ein Herr, der ihr gegenübersaß, bemerkte trocken: „Macht also zusammen viermal.“

Die Lüge ist weit verbreitet. Die meisten Menschen haben in ihrem Leben einmal oder vielmal gelogen. Es wird wenige Menschen geben, die sagen können: Ich habe nie gelogen. Von George Washington, dem ersten Präsidenten der USA, wurde allerdings gesagt: „He never told a lie“; er hat niemals gelogen. „He never told a lie.“ Die Häufigkeit der Lüge erklärt sich aus der Leichtigkeit, mit der sie über die Lippen kommt. Außerdem gibt es Theorien, welche die Lüge zu rechtfertigen suchen. Aristoteles, der edle Heide, hat die Verwerflichkeit jeder Lüge ausgesprochen; aber schon Plato erklärte, daß man um des Gemeinwesens willen, um des Staates willen lügen dürfe; im Privatleben nicht, aber im öffentlichen Leben. Verhängnisvoll war dann vor allem die Stellungnahme Luthers und seiner Anhänger. Die sogenannten Reformatoren haben die Notlüge und die Nutzlüge gerechtfertigt. Luther war der Meinung, daß man um des Evangeliums willen lügen dürfe – Nutzlüge. Diese Theorie wurde dann ausgebaut von Hugo Grotius, diesem einflußreichen Philosophen; er unterschied zwischen Falschrede und Lüge. Lüge ist nach ihm nur dann vorhanden, wenn man etwas Falsches sagt und dabei das Recht eines anderen verletzt. Wenn das letztere nicht in Frage kommt, Verletzung eines fremden Rechtes, sei es nur eine Falschrede, und diese sei gestattet. Wiederum ist die katholische Kirche die einzige, die unverbrüchlich an dem Verbot einer jeden Lüge festhält. Eine jede Lüge ist verwerflich; es gibt keine Ausnahme.

Lüge ist der Zwiespalt zwischen dem Denken und dem Reden. Eine Lüge liegt dann vor, wenn sich die Rede auf etwas Ungehöriges richtet, nämlich auf die Unwahrheit. Die Lüge hat es meistens mit der Absicht zu tun, zu täuschen. Aber auch ohne diese ausdrückliche Absicht ist die Lüge vorhanden. Der Widerstreit zwischen dem Inneren und dem Äußeren macht das Wesen der Lüge aus. Wo dieser Widerstreit nicht vorhanden ist, liegt auch keine Lüge vor. Ich erzähle eine Reihe von Fällen, bei denen wir von Lüge nicht sprechen können. Das liegt einmal vor bei der Übertreibung. Wenn ich sage: Ich bin oft nach Mainz gefahren, und ein anderer sagt: Ich bin tausendmal nach Mainz gefahren, dann ist offensichtlich, daß der andere lediglich meint, er sei oft nach Mainz gefahren. „Tausendmal“ ist eine übertreibende Redeweise, die aber als solche erkennbar ist. Ebenfalls keine Lüge ist eine erdichtete Erzählung. Der Herr hat oft solche erdichtete Erzählungen vorgetragen, etwa von dem Pharisäer und dem Zöllner, die in den Tempel gingen, um zu beten, oder von dem Mann, der unter die Räuber fiel und der von dem Samaritaner versorgt wurde. Das sind keine Lügen, sondern erkennbar erfundene Geschichten, die eine bestimmte Lehre verdeutlichen wollen.

Keine Lüge ist auch die Ironie. Ironie liegt dann vor, wenn der Wortlaut etwas anderes besagt, als in Wirklichkeit gemeint ist. Ein Musterbeispiel von Ironie finden wir in dem Drama „Julius Cäsar“ von Shakespeare. Da hält bekanntlich Marc Antonius eine Rede an der Leiche Julius Cäsars, und diese Rede ist ganz gegen seine Mörder gerichtet. Aber immer wieder sagt er über die Mörder: „They are honorable men“ – sie sind ehrenhafte Männer. „They are all honorable men“ – sie sind alle ehrenhafte Männer. Jedermann weiß, daß das Spott ist, aber diese ironische Redeweise ist zulässig und als solche erkennbar, und deswegen kann sie nicht als Lüge bezeichnet werden. Auch Höflichkeitsfloskeln kann man nicht unter die Lüge einreihen. Wir schreiben auch an Menschen, die wir gar nicht ehren: „Sehr geehrter Herr...“, und wir unterschreiben unsere Briefe mit „Hochachtungsvoll“, auch wenn wir wenig Achtung vor dem Betreffenden haben. Das sind übliche Höflichkeitsformeln, die eingebürgert sind und deren man sich aus Konvention bedienen muß.

Auch die zweideutige Rede ist keine Lüge. Wir haben von Heiligen Beispiele solcher zweideutiger Rede, etwa vom heiligen Athanasius. Er war auf der Flucht vor seinen Häschern und fuhr den Nil hinauf. Dann ließ er plötzlich das Schifflein wenden und fuhr wieder zurück. Da begegneten ihm die Organe, die ihn festnehmen wollten. Aber er war in Verkleidung, so daß er nicht erkannt wurde. Der Anführer fragte ihn: „Hast du den Athanasius gesehen?“ „Ja“, sagte Athanasius, „er ist gar nicht weit von hier. Vor einer Stunde ist er nilaufwärts gefahren. Beeile dich, dann kannst du ihn einholen!“ Man wird diese Redeweise nicht als Lüge bezeichnen können. Sie bedeutete im Sinn des Athanasius etwas anderes als das, was der andere möglicherweise daraus heraushörte. Auch ein großer Mainzer Bischof hat sich solcher Redeweise bedient, nämlich Josef Ludwig Colmar, dieser bedeutende Mann, der die Kirche in Mainz nach den Wirren der Revolution und der Säkularisation wieder aufgebaut hat. Es war mitten in der Revolution, als er gesucht wurde. Es war ein Preis von 1000 Talern auf ihn gesetzt. Er lebte in einem Hause und war als Diener verkleidet. Da pochte es, die Polizei drang ein, erkannte ihn aber in seiner Verkleidung nicht. „Ist Colmar in diesem Hause?“ „Sucht selber! Ich werde euch führen. Ich glaube nicht, daß ihr ihn finden werdet.“ Sie durchsuchten das ganze Haus von oben bis unten – ergebnislos. Und Colmar entließ sie mit dem Satz: „Ich habe es euch ja gesagt, daß ihr ihn nicht finden werdet.“ Solche listige Bemerkungen können nicht als Lüge bezeichnet werden. Die Lüge aber, dieser gewollte Zwiespalt zwischen Denken und Reden, ist immer Sünde, und zwar ist sie aus einem vierfachen Grunde verwerflich.

Erstens: Die Lüge mißbraucht die Sprache. Die Sprache ist uns gegeben zur Verständigung, zur Mitteilung; wenn ich lüge, dann will ich mich nicht verständigen und nichts mitteilen, sondern ich will den anderen in den Irrtum führen. Das ist ein Mißbrauch der Sprache; deswegen ist die Lüge in sich verwerflich. Zweitens: Der Mensch ist ein soziales Wesen, ein Gemeinschaftswesen. Die Gemeinschaft kann nicht bestehen ohne Glauben und Vertrauen. Man muß sich auf den anderen, auf seine Äußerungen verlassen können. Wenn aber einer lügt, dann zerstört er das Vertrauen, und man kann sich nicht mehr auf ihn verlassen. Das Wuchern der Lüge muß die Zuverlässigkeit eines Gemeinwesens zerstören. Drittens sind Lügen häufig mit Schaden verbunden. Lügen bringen nicht selten anderen Verluste ein, Nachteile. Die Lüge schädigt, und auch deswegen ist sie verboten. Viertens: Jeder, der einmal gelogen hat, spürt bei sich ein Gefühl der Beschämung. Er merkt, daß er gegen sein eigenes besseres Wesen sich verfehlt hat. Er soll dem Gott der Wahrheit ähnlich sein, er soll ihm in der Wahrhaftigkeit nachfolgen, nun hat er sich gegen diese Pflicht verfehlt; er hat das Ebenbild Gottes in sich selbst geschändet. Deswegen ist die Lüge verwerflich.

Nun gibt es verschiedene Lügen, und der Grad der Verwerflichkeit ist je nachdem verschieden. Es gibt die Notlüge. Mit der Notlüge will man sich aus einer unangenehmen Situation, aus einer Verlegenheit befreien. Eine Notlüge beging Petrus im Vorhof des Hohenpriesters, als er sagte: „Ich kenne diesen Menschen nicht!“ Aber selbst Notlügen haben echte Christen vermieden. Peter Mayr war ein Freiheitsheld im Tiroler Kampfe gegen die französischen Eindringlinge im Jahre 1809. Er wurde gefaßt und zum Tode verurteilt. Aber der französische Offizier wollte ihn retten und sagte: „Sag doch, du habest nichts gewußt von dem Befehl, daß jeder, der mit der Waffe in der Hand getroffen wird, zu erschießen ist!“ Da antwortete Peter Mayr, der eine Frau und viele Kinder besaß: „Ich erkaufe mein Leben nicht durch eine Lüge.“

Daneben kommt die Nutzlüge häufig vor. Mit der Nutzlüge will man etwas erreichen, will sich einen Vorteil verschaffen. Nehmen wir an, ein Mann ist total betrunken und kann nicht zur Arbeit gehen. Die Frau meldet der Arbeitsstelle, er sei krank. Das ist eine Nutzlüge, um den Mann zu entlasten. Sodann gibt es die Scherzlüge. Auch die Scherzlüge ist ernstzunehmen; sie will unterhalten. Wenn man bei großer Kälte sagt: „Heute ist es aber schön warm“, dann ist das eine Scherzlüge, freilich eine relativ sehr harmlose Scherzlüge, die ja auch sofort erkennbar ist. Aber es gibt auch ernstere. Es wird erzählt, daß ein Hirt seinen Nachbarn immer wieder zurief: „Der Wolf kommt! Der Wolf kommt!“ Aber der Wolf kam nicht. Es war nur ein Scherz. Als er aber einmal wirklich kam, da haben seine Nachbarn diese Alarmmeldung nicht mehr ernstgenommen. Und der Wolf kam und riß die Schafe.

Die Schadenslüge ist vielleicht die gefährlichste, weil sie dem anderen Schaden zufügt. Eine solche Schadenslüge wird uns beispielsweise in der Geschichte von Jakob und Esau berichtet. Jakob gab sich für seinen Bruder Esau aus und erwarb sich damit den Segen des Vaters, der dem Esau zugedacht war. Es war ein Betrug. Durch seine Lüge hat er seinen Bruder schwer geschädigt. Im Verkehr kommt die Geschäftslüge häufig vor. Es werden Waren angeboten, die den Versprechungen, die über sie gemacht werden, nicht entsprechen. Etwa bei Verkauf von Gebrauchtwagen werden häufig Vorteile des gebrauchten Wagens vorgespiegelt, die nicht vorhanden sind.

Und schließlich gibt es noch eine letzte Art der Lüge, das ist die Geschichtslüge. Es hat sich bei vielen Gegenständen in den Kreisen der Historiker ein gewisser Standard ausgebildet, der aber der Wahrheit nicht entspricht. Man stellt etwa bestimmte Leute als Bösewichte hin, die sie gar nicht waren. Das gilt zum Beispiel für den Herzog Alba und den König Philipp II. von Spanien. Sie werden in den Geschichtsbüchern als Tyrannen und hartherzige Menschen dargestellt; sie waren es nicht.

Lüge ist dem Herrn ein Greuel. Die Lüge wird in der Heiligen Schrift ausnahmslos verurteilt. Neben der Lüge aber auch ein Verhalten, das der Lüge gleichkommt. Man kann nämlich lügen nicht nur mit Worten, man kann auch lügen mit der Tat. Man kann ein Verhalten an den Tag legen, das unwahr ist, indem man sich verstellt, indem man heuchelt. Ein Heuchler war der König Herodes. Als die Weisen ihm meldeten, sie suchten den neugeborenen König der Juden, da erklärte er: „Sagt mir, wo er geboren ist, dann will auch ich hingehen und ihn anbeten!“ Verwandt mit der Heuchelei ist die Scheinheiligkeit. Mancher gibt sich nach außen als ein Frommer, ist aber in Wirklichkeit ein reißender Wolf. Scheinheiligkeit ist eine besondere Form der Heuchelei. In Rom lebte einmal in einem Kloster eine angeblich Begnadete. Die Oberin war sich aber nicht sicher, ob diese Begnadung echt sei oder nicht. Sie bat den heiligen Philipp Neri, er möge diese Nonne einmal prüfen. Philipp Neri kam, und die Nonne wurde zu ihm ins Sprechzimmer geführt; es war ein regnerischer Tag. Der heilige Philipp Neri bat die Nonne, seine beschmutzten Stiefel zu reinigen. Da fuhr sie auf und war gereizt, dazu sei sie nicht hergekommen. Sogleich erhob sich Philipp Neri und sagte lachend: „Das ist keine Begnadete“, denn er meinte, auf diese Weise habe sie sich selbst verraten, weil es ihr an Demut fehlte. Auch die Schmeichelei reicht an die Lüge heran. Wenn man anderen Vorzüge zuschreibt, die sie nicht haben, dann ist das unwahrhaftig. Schmeichelei betrieben die Bewohner von Tyrus und Sidon. Sie wohnten einer Rede von Herodes Agrippa bei, und als er geendet hatte, sagten sie: „Das ist die Stimme nicht eines Menschen, sondern eines Gottes!“ Das war eine plumpe und grobe Schmeichelei.

Wir wollen uns, meine lieben Christen, in der Wahrheit und in der Wahrhaftigkeit üben. Wir wollen unserem Herrn ähnlich sein, der die Wahrheit selber war, und der die Lüge auf den Teufel zurückgeführt hat. Er ist der Lügner von Anbeginn, und wer lügt, begibt sich in seine Gefolgschaft. Wer wahrhaftig ist, ist Gott wohlgefällig, wer lügt, der ist Gott ein Greuel. Lügnerische Lippen sind dem Herrn ein Greuel. Für uns muß gelten: Selig der Mann, selig die Frau, die mit der Zunge nicht straucheln; denn das sind vollkommene Menschen.

Amen.

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