Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die geoffenbarte Wahrheit (Teil 9)

10. August 1997

Die Beweiskraft übernatürlicher Wunder

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die Wunderzeichen sind ein starkes Motiv, um die Wahrheit der Offenbarung zu bezeugen. Aber damit sie diese Funktion ausüben können, müssen sie erkannt werden. Dagegen erhebt der Unglaube Einspruch. Ernest Renan schreibt in seinem Buche „Vie de Jesus“: „Wir behaupten nicht: Ein Wunder ist unmöglich. Wir behaupten nur: Es ist noch nie eines bewiesen worden.“

Die Wunder, die uns zum Glauben führen oder im Glauben festigen sollen, müssen bewiesen werden. Dazu ist ein vierfacher Nachweis erforderlich.

1. Es muß die Tatsächlichkeit des Geschehens bewiesen werden. Das ist Sache der historischen Untersuchung.

2. Es muß der außernatürliche Charakter bewiesen werden. Das ist Angelegenheit der philosophischen Betrachtung.

3. Es muß bewiesen werden, daß Gott der unmittelbare oder mittelbare Urheber der Wunder ist. Das ist die Aufgabe der theologischen Untersuchung.

4. Es muß bewiesen werden, daß die Wunder Zeugnischarakter haben, daß sie gewirkt wurden, um die Wahrheit der Offenbarung zu bezeugen.

Die erste Frage, die geklärt werden muß, ist die nach der Tatsächlichkeit der Wunder. Wie werden Ereignisse bewiesen? Dadurch, daß jemand sie beobachtet. Wer gesunde Sinne hat, wer nüchtern und vorurteilsfrei an die Tatsachen herangeht, wer wahrhaftig ist und von dem, was er gesehen und gehört hat, Zeugnis gibt, einem solchen kann man glauben. Auf diese Weise werden Tatsachen bewiesen. Bei Wundern ist sogar noch anzunehmen, daß sie besonders scharf beobachtet werden. Die alltäglichen Dinge werden wenig beachtet, aber was sich an Außergewöhnlichem zuträgt, das erregt Verwunderung, und da setzt die Kritik ein. Da wird auch besonders scharf hingesehen und eventuellen Täuschungs- und Betrugsversuchen durch genaue Beobachtung entgegengewirkt.

Nun erheben sich gegen die Tatsächlichkeit von Wundern Einwände, weil sie ja meistens – jedenfalls, was die Wunder Christi und des Urchristentums angeht – in der Vergangenheit liegen. Sie werden uns also nur vermittelt durch Zeugnisse, durch menschliche Zeugnisse. Dagegen hat schon Lessing im 18. Jahrhundert Einwände erhoben. In seinem Streit mir dem Hauptpastor Götze in Hamburg sagte er: „Nur Erweise von Geist und Kraft, die ich selbst erlebe, können für mich Beweise von Geist und Kraft sein. Was für Menschen in früheren Jahrhunderten ein solcher Beweis zu sein schien, das ist für mich keiner, denn er wird mir nur durch die Überlieferung dieser Menschen zugänglich gemacht.“ Er berief sich dabei auf David Hume, einen englischen Philosophen, der angeblich die Unmöglichkeit der Wundererfahrung nachgewiesen habe. David Hume entwickelt folgenden Gedankengang: Bei wunderbaren Ereignissen, die mir berichtet werden, steht Erfahrung gegen Erfahrung. Es wollen Menschen früherer Zeiten Wunderbares erlebt haben. Ich selbst aber erlebe nichts Wunderbares. Meine Erfahrung ist stärker, und deswegen hebt sie die gegenteilige Erfahrung auf. Er beruft sich dabei auch auf die Kraft und die Unverbrüchlichkeit der Naturgesetze. Er sagt: Ich mache die Erfahrung, daß die Naturgesetze keine Ausnahme zulassen. Wie soll es möglich sein, daß in früheren Zeiten solche Ausnahmen beobachtet werden konnten?

Diese Einwände sind ernstzunehmen. Es ist ja tatsächlich so, daß wir Wunder gewöhnlich nicht selbst beobachten. Wir haben die Erfahrung, daß Wunderbares in unserer Zeit kaum oder jedenfalls selten geschieht. Nun muß man aber dagegen einwenden: Wenn Ereignisse berichtet werden, die Wundercharakter haben, dann hat man sich an den Bericht der Zeugen zu halten. Man kann den Bericht der Zeugen nicht deswegen ablehnen, weil sie eine Tatsache als wunderbar empfinden. Es ist gegen alle Gesetze historischer Kritik, mit Vorurteilen an Berichte heranzutreten und sie deswegen a limine, von vorneherein abzuweisen, weil sie Dinge und Geschehnisse berichten, die uns heute nicht begegnen. Es geschehen auch in unserer gegenwärtigen Erfahrungswelt Ereignisse, die wir nicht beliebig wiederholen können. Wenn bei einem Bergwerksunglück Männer eingeschlossen werden in einer Grube, 700 Meter unter dem Erdboden, und wenn man nach 14 Tagen (wie es geschehen ist) noch einige von ihnen lebendig birgt, dann sagen die Menschen: Das ist ein Wunder. Das ist kein Wunder, sondern das ist natürlich zu erklären. An der Stelle, wo sich die Bergleute befanden, gab es Luft, und die Luft hat ihnen das Atmen ermöglicht. Es gab Wasser, und das Wasser hat ihnen das Trinken gestattet. Aber das erwähnte Geschehen ist jedenfalls ein Ereignis, das sich nicht beliebig wiederholen läßt und das unserer Erfahrung kaum zugänglich ist. Erst recht gilt das für Ereignisse, bei denen Gott im Spiele ist. Der Naturverlauf ist geschlossen, ganz gewiß, aber nur solange rein natürliche, rein irdische Ursachen, rein irdische Wirkkräfte im Spiele sind. Wenn Wirkkräfte einer höheren Ordnung, wenn göttliche Wirkkräfte hinzutreten, dann ist der Naturverlauf eben nicht mehr geschlossen, dann ist er aufgebrochen. Und dieses Aufbrechen des Naturverlaufes durch die göttliche Allmacht nennen wir Wunder. Das ist kein Widerspruch gegen die Naturgesetze, das ist ihre Bestätigung. Denn es ist eine Tatsache, daß hier aufgrund von bestimmten, neu hinzukommenden Kräften auch neue Wirkungen erzielt werden.

Wunder sind in ihrer Tatsächlichkeit konstatierbar. Wenn wir Zeugen vor uns haben, die die Wunder beobachtet haben, und wenn diese Zeugen glaubwürdig sind, weil sie wahrhaftig und sittlich einwandfrei sind, dann besteht für uns die Pflicht, ihrem Zeugnis zu trauen.

Es muß aber zweitens auch die außernatürliche Art dieses Geschehens bewiesen werden. Außernatürlich besagt, daß keine natürlichen Kräfte am Werke waren. Das ist bei den Wundern ohne weiteres gegeben, die alle natürlichen Kräfte übersteigen. Eine Schöpfung aus nichts ist ein solches Wunder, daß keine natürliche Kraft dieses Geschehen wiederholen kann. Bei anderen wunderbaren Geschehnissen läßt sich der außernatürliche Charakter dadurch erweisen, daß man die Kräfte, die ein Geschehnis hervorgebracht haben und die ein Geschehnis hervorbringen können, kennt. Man weiß, was sie vermögen. Man weiß auch, was sie nicht vermögen. Wenn sich mit moralischer Gewißheit ergibt, daß hier Wirkungen vollbracht worden sind, die aus den natürlichen, uns bekannten Kräften nicht erklärbar sind, dann muß man außernatürliche Kräfte annehmen.

Freilich sucht der Unglaube auch hier eine Ausflucht. Er sagt: Da sind unbekannte, aber natürliche Kräfte am Werk. Nun: Unbekannte Kräfte haben auch ihre Gesetzmäßigkeiten. Sie haben ihre Voraussetzungen und bedürfen bestimmter Vorbereitungen. Diese Voraussetzungen und Vorbereitungen kann man beobachten und dann auf die unbekannten Kräfte schließen, ja, man kann sie auch daraus erkennen, und dann ist es mit den unbekannten Kräften aus, wenn sie einmal erkannt sind. Es gibt Geschehnisse, die mit unbekannten Kräften nicht zu erklären sind. Ein Junge hat mit 14 Jahren die religiöse Praxis aufgegeben. Er weigerte sich, den Gottesdienst zu besuchen trotz aller Bitten seiner Mutter.  Dafür fing er nächtens an zu schreien und zu toben. Er wurde den Ärzten vorgestellt. Die Ärzte konnten keine Krankheit konstatieren. Er machte ein Studium; er studierte Mathematik und Physik mit gutem Erfolg, aber die Anfälle in der Nacht hielten an und ließen nicht nach. In ihrer Verzweiflung ging die Mutter eine Nonne an und fragte sie, was man tun könne. Die Nonne entgegnete: „Lassen Sie Ihren Jungen beichten und kommunizieren! Dann wird er geheilt werden.“ Der Junge, inzwischen 22 Jahre alt, weigerte sich zunächst, den Bitten der Mutter nachzukommen, die Beichte und die Kommunion zu empfangen. Aber eines Tages entschloß er sich doch; er beichtete und kommunizierte. Der junge Mann hat nie mehr einen dieser Anfälle in der Nacht gehabt. Unbekannte Kräfte, jawohl. Wir nennen sie die Kraft Gottes.

Das Dritte, was bewiesen werden muß, ist, daß Gott der unmittelbare oder mittelbare Urheber eines wunderbaren Geschehens ist. Es gibt Ereignisse, die uns merkwürdig, ja vielleicht sogar wunderbar vorkommen und die jedenfalls die menschlichen Kräfte übersteigen. Nach unserem Glauben gibt es Geisteswesen, die übermenschliche Kräfte haben. Wir nennen sie Engel, wenn es gute Geisteswesen sind, und wir nennen sie Dämonen, wenn es böse Geisteswesen sind. Diese Geisterwesen haben Macht, und sie können außerordentliche Geschehnisse hervorrufen. Wie können wir nun erkennen, ob ein nicht natürlich zu erklärendes Ereignis von Dämonen oder von Gott bzw. seinen Vollmachtsträgern, den Engeln, hervorgerufen ist? Wir können es erkennen an den Wirkungen. „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen!“ Die Scheinwunder oder die Zaubereien, welche die Dämonen hervorrufen, sind sittlich anrüchig. Die Wunder, die Gott persönlich oder durch seine Engel wirken läßt, sind sittlich einwandfrei. Wenn außergewöhnliche Ereignisse der Sittlichkeit, der Ehrbarkeit, dem sozialen Frieden zu nahe treten, dann können sie nicht von Gott sein. Wir haben also an der Zweckmäßigkeit und an den Begleitumständen wunderbarer Geschehnisse ein Kriterium, um zu erkennen, ob sie von Gott oder vom bösen Feind kommen.

Das Vierte, was bewiesen werden muß, ist, daß die Ereignisse, die als Wunder gelten sollen, Zeugnischarakter haben. Wunder müssen Zeichen sein, sie müssen hinzeigen auf die Offenbarung. Die Wunder haben immer eine doppelte Aufgabe. Entweder beweisen sie die Echtheit der Sendung eines Offenbarungsträgers, beglaubigen also seine von Gott stammende Sendung, oder aber sie bekräftigen die Wahrheit der Verkündigung. Diese beiden Aufgaben müssen Wunder haben, wenn sie Offenbarungskriterien sein sollen.

Wir haben im Neuen Testamt Zeugnisse dafür, daß der Offenbarer Christus diese Funktion der Wunder bewußt hervorhebt. Er hatte einmal einem Mann die Sünden nachgelassen. Das erregte Erstaunen, Verwunderung, ja Empörung. Wie kann er, der Mensch Jesus von Nazareth, Sünden nachlassen? Die Nachlassung von Sünden ist nun nicht kontrollierbar. Es ist ein innerer, seelischer Vorgang, den man nicht messen oder wägen kann. Wie soll man dann beweisen, daß er diese Vollmacht besitzt, Sünden zu vergeben? Jesus beweist es. „Damit ihr wißt, daß der Menschensohn Macht hat, Sünden zu vergeben“, spricht er zu dem gichtbrüchigen Mann, der auf einer Tragbahre vor ihn hingestellt wurde: „Steh auf, nimm dein Bett und geh nach Hause!“ Und der Mann stand auf, nahm sein Bett und ging nach Hause. Dieses Wunder der Heilung wurde gewirkt, um den Offenbarer Jesus Christus als den Gottgesandten zu beglaubigen.

Alle vier Kriterien, meine lieben Freunde, müssen zusammenkommen, wenn wir ein Geschehnis als wunderbar anerkennen sollen und wollen. Bei den Naturwundern ist das verhältnismäßig leicht zu konstatieren. Wenn einem britischen Arbeiter eine fünfmarkstück-große Knochensubstanz am Schädel in einem Augenblick erneuert wird – wie es geschehen ist! –, dann müssen wir sagen: Hier ist ein Wunder passiert. Anders ist es bei den intellektuellen und moralischen Wundern. Ein intellektuelles Wunder ist vor allem die Weissagung. Um eine Weissagung anzunehmen, müssen zwei Momente zusammenkommen. Erstens: Es muß eine sichere, deutliche Vorhersage geschehen sein, zweitens die Vorhersage eines zukünftigen, ungewissen, kontingenten, nicht vorhersehbaren Ereignisses. Beides muß bewiesen werden: daß die Voraussage erfolgt ist und daß es sich dann tatsächlich so zugetragen hat, wie die Vorherverkündigung es angekündigt hat. Man muß eine Weissagung unterscheiden von Kombination oder von kluger Vorausschau, die Menschen zugänglich ist. Drei Wochen, bevor Napoleon mit seinem 600.000-Mann-Heer  nach Rußland einbrach, schrieb der russische Gesandte in London einen Brief. In diesem Brief bemerkte der Graf Woronzow, so hieß er: Napoleon mag ruhig den Njemen überschreiten. Wir werden uns zurückziehen; wir werden immer weiter ins Land zurückgehen. Er wird sich immer mehr von seinen Munitionsdepots und von seinen Verpflegungslagern entfernen, die Kosaken werden ihn umschwärmen und ihm alle Lebensmittel zerstören oder entführen. Dann wird der Winter hereinbrechen und wird seine Armee vernichten. Dieser Brief ist erhalten, wir können ihn heute noch lesen. Das ist keine  Weissagung gewesen, das ist eine Kombination gewesen. Schließlich hatte ja Rußland schon andere Invasionen überstanden, etwa die von Karl XII. von Schweden. Weissagungen sind nur dann anzunehmen, wenn es sich um nicht voraussagbare, um nicht vorhersehbare Ereignisse handelt. Etwa, wenn der Herr auf die 40 Jahre später geschehene Zerstörung von Jerusalem hinweist. Das war nicht vorherzusehen. Aber der Herr hat diese Zerstörung vorhergesagt, und sie ist eingetroffen. Ein moralisches Wunder kann man dann annehmen, wenn ein konstantes Verhalten eines Menschen über die menschlichen Kräfte hinausgeht, wenn durch lange Zeit hindurch ein Mensch sich so verhält, wie sich Menschen normalerweise nicht verhalten. Es gibt auch beim Verhalten der Menschen gewisse statistische Gesetze. Je mehr man beobachtet, um so genauer kann man voraussagen, wie sich Menschen in bestimmten Verhältnissen benehmen werden. Wenn aber ein menschliches Verhalten ganz und gar aus dieser statistischen Gesetzmäßigkeit herausfällt, dann kann man ein Wunder annehmen.

Wir haben gestern, meine lieben Freunde, das Fest des heiligen Johannes Vianney, des Pfarrers von Ars, gefeiert. Sein Leben war ein wunderbares Leben. Er ist im Alter von 73 Jahren gestorben. Sein Priesterleben war nur aufreibende, aufopfernde Arbeit ohne Erholung, ohne Ermüdung. Er hat nur dem Dienste Gottes, der Ehre Gottes, dem Heile der Menschen gelebt. Er hat für sich nichts gewollt, sondern nur alles für andere getan. Abgesehen einmal von den einzelnen, beglaubigten wunderbaren Geschehnissen, die sein Leben begleiteten, wie Herzenskenntnis oder Voraussage von bestimmten Ereignissen, trägt ein derart hartes, übermenschlich hartes Leben den Charakter des Wunderbaren. So kann sich kein Mensch verhalten, in dem nicht die Gnade mächtig, ja übermächtig ist.

Es besteht die Möglichkeit, meine lieben Freunde, die Tatsächlichkeit von Wundern zu erkennen. Wir sind auch imstande, ihren außernatürlichen Charakter festzustellen. Wir vermögen angebliche Schauwunder der Dämonen von wirklichen Wundern Gottes zu unterscheiden. Wir sind auch imstande, den Zeichencharakter der Wunder zu ermitteln. Christentum und Wunder sind zusammen geboren, sie werden zusammen leben und nicht sterben.

Amen.

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