Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Jesus Christus (Teil 4)

23. Januar 1994

Jesus, Versöhner der Menschheit mit Gott

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Am vergangenen Sonntag haben wir Jesus als den Mittler uns vor Augen geführt. Er steht in der Mitte zwischen Gott und den Menschen, weil er eine göttliche und eine menschliche Natur sein eigen nennt. Und er vermittelt zwischen Gott und den Menschen. Er vermittelt den Frieden und die Versöhnung. Diesen Mittlerdienst leistet er an erster Stelle als Priester. Christus war Priester nach der Ordnung des Melchisedech, das heißt nicht im natürlichen Geschlechterzusammenhang mit Aaron und dem Stamme Levi, sondern berufen, herausgerufen von Gott, ähnlich wie es der Hohepriester Melchisedech war. Er ist nicht erst Priester geworden – wie schon behauptet wurde – bei der Taufe im Jordan, als die Himmelsstimme ertönte. Er ist Priester geworden durch seine Menschwerdung. Seit seiner Menschwerdung ist er Priester, und er hat sein ganzes Leben als ein priesterliches Leben verbracht.

Freilich gibt es in diesem Priesterleben eine Aufgipfelung, und das ist das Kreuzesopfer. Der Kreuzestod Christi war ein Opfer, und darüber wollen wir heute nachdenken. Wenn man den Kreuzestod Christi als Opfertod verstehen will, darf man nicht so vorgehen, daß man in der Religionsgeschichte bei den Juden und bei den außerjüdischen Völkern nach Opfern sucht, deren Merkmale zusammenstellt und sie dann im Kreuzestode Christi wiederfinden will. Nein, nicht die religionsgeschichtlichen Opfer sind das Maß des Opfers Christi, sondern das Opfer Christi ist das Maß der religionsgeschichtlichen Opfer. Die in der Religionsgeschichte festgestellten Opfer können eine schwache, unbestimmte Vorstellung vom Opfer geben. Aber die Erfüllung aller Opfer, das ist der Kreuzestod Christi, das ist das Kreuzesopfer. Und dieses Opfer steht in einem unermeßlichen Abstand von allen anderen Opfern, weil es nur einmal ein Opfer des eingeborenen Sohnes Gottes gab.

Wenn man das Kreuzesopfer Christi verstehen will, dann muß man davon ausgehen, daß sein Tod am Kreuze eine Tat des Gehorsams und der Liebe war. Christus hat sich hingegeben aus Gehorsam gegen den Willen des Vaters und aus Liebe zu dem Vater und zu den Menschen. Sein Kreuzestod war eine Tat vorbehaltloser Hingabe. In seinem Tod wurde der Ungehorsam und die Selbstherrlichkeit der Menschen aufgearbeitet, gesühnt und überwunden, eben durch seine grenzenlose Opferhingabe in diesem furchtbaren Geschehen.

Auch die alttestamentlichen Opfer waren nach Gottes Willen eine Gehorsamstat. Die eigentliche Glaubenstat, die bei den Opfern im Alten Testament geleistet werden sollte, war die Anerkennung Gottes als des Herrn durch die Hingabe von wertvollen Gegenständen. Indem die Menschen das, was ihnen viel bedeutete, in den Tempel brachten und dort darbrachten, erkannten sie Gott als den Herrn an, bekannten sie seine Oberherrlichkeit und zeigten sie durch diese Opferhingabe, wieviel wert ihnen diese Anerkennung sei. Die äußeren Opfer waren nur so viel wert wie die innere Gesinnung. Wer mit schlechter Gesinnung sein Opfer brachte, dessen Opfer war nichts wert. Wer aber in guter Gesinnung, nämlich in der Haltung der Hingabe, seine Taube oder sein Lamm opferte, dessen Opfer war Gott wohlgefällig.

Die Opfer des Alten Bundes waren nämlich ein Sinnbild. Sie waren ein Sinnbild für die Opferhingabe des Menschen. Die irdischen Opfer, Getreide, Öl, Tiere, vertraten den Menschen. Sie hatten die Aufgabe der Stellvertretung. Sie wollten sagen: So, wie dieses Opfer jetzt auf dem Altare liegt, liege ich vor dir, o Gott. So gebe ich mich hin, so ganz ohne Rückhalt und so ganz ohne Vorbehalt opfere ich mich dir auf, wie dieses Opfer, das jetzt vor dich gebracht und dir aufgeopfert wird.

Diese Opfer erfuhren eine Verwandlung. Sie erlebten einen Durchgang, einen Hinübergang zu Gott. Sie wurden aus einer kümmerlichen, armseligen Daseinsform verwandelt. Auch wenn sie ausgegossen oder verbrannt, also vernichtet wurden, war das eine Verwandlung, die in der Absicht des Opfernden zur Verherrlichung Gottes dienen sollte. Und ähnlich wie die Opfer verwandelt wurden, sollte der Mensch verwandelt werden. Er konnte nämlich jetzt Anteil gewinnen an der Herrlichkeit und Heiligkeit Gottes. Er war jetzt in der Überzeugung der Opfernden entsühnt, und das bedeutete Freiheit von der Sünde und Eingehen in die Heiligkeit und Herrlichkeit Gottes.

Von den alttestamentlichen Opfern ist das Opfer des Neuen Bundes wesentlich unterschieden. Denn Christus bringt nicht eine außerhalb seiner liegende Gabe dar. Er bringt sich selbst in leibhaftiger Wirklichkeit zum Opfer dar. Seine Opfergabe ist nicht ein Gegenstand des menschlichen Bedarfes. Seine Opfergabe ist er selbst. In vorbehaltloser Hingabe hat er sich dem Vater am Kreuze dargebracht, und zwar aus Liebe und Gehorsam. Das sind die beiden entscheidenden Haltungen, die in der Seele Jesu gelebt haben: Liebe und Gehorsam. „Er hat mich geliebt und sich für mich hingegeben,“ schreibt der Apostel Paulus im Galaterbrief. Und im Römerbrief ist immer wieder die Rede von der Liebe, die dieses Opfer hervorgebracht hat. „Denn Christus ist, da wir noch schwach waren, zur rechten Zeit für Gottlose gestorben. Es stirbt nämlich kaum jemand für einen Gerechten. Für den Wohltäter dürfte vielleicht jemand den Mut haben, zu sterben. Gott aber erweist seine Liebe zu uns dadurch, daß Christus für uns gestorben ist, da wir noch Sünder waren.“ Und an einer anderen Stelle: „Christus, er ist es, der gestorben, aber auch wiedererstanden ist, der zur Rechten Gottes ist, der auch Fürsprache einlegt für uns. Wer also wird uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? Es steht ja geschrieben: 'Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag, werden wir geachtet wie Schlachtschafe, aber in all dem überwinden wir durch ihn, der uns geliebt hat.' Denn ich bin gewiß: Weder Tod noch Leben noch Engel noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Mächte, weder Höhe noch Tiefe noch ein anderes Geschöpf vermag uns zu trennen von der Liebe Gottes, welche ist in Christus Jesus, unserem Herrn.“

Vom Gehorsam ist an ebenso vielen Stellen die Rede, ebenfalls im Römerbrief, wenn es da heißt: „Wie also durch des einen Sünde auf alle Menschen Verdammnis kam, so kommt auch durch des einen Gerechtigkeit auf alle Menschen Rechtfertigung zu liegen. Wie nämlich durch den Ungehorsam des einen Menschen (das ist natürlich Adam) die vielen zu Sündern geworden sind, so werden auch durch den Gehorsam des einen die vielen zu Gerechtigkeit gemacht.“ Im Hebräerbrief wird dieser Gehorsam noch einmal eigens ausgesprochen: „In den Tagen seines Fleisches hat er Bitten und Flehrufe mit lautem Geschrei und unter Tränen zu dem emporgesandt, der ihn vom Tode erretten konnte, und hat dank seiner Gottesfurcht Erhörung gefunden. Obwohl Sohn Gottes, hat er doch den Gehorsam gelernt aus dem, was er gelitten.“

Aus diesen Texten sehen wir, daß Gehorsam und Liebe die entscheidenden Haltungen waren, die das Opfer am Kreuze geprägt haben. „Er, der reich war, ist um unseretwillen arm geworden. Er ward gehorsam bis zum Tode am Kreuze.“ Er hat uns geliebt und sich für uns hingegeben. Er hat seine Braut, die Kirche, aus Liebe am Kreuze durch sein kostbares Blut erworben. So viele Zeugnisse von der Liebesflamme und von dem Gehorsamsmut, die am Kreuze das Opfer vollzogen haben.

Wenn man also den Wert des Kreuzesopfers Christi und seine Qualität als Opfer begreifen will, dann darf man nicht so sehr auf die körperlichen Qualen schauen. Es ist durchaus möglich und wahrscheinlich, daß es Menschen gibt, die mehr und länger gelitten haben als Jesus. Aber auf die Quantität der körperlichen Schmerzertragung kommt es nicht an, sondern es kommt auf die Liebesflamme an, mit der dieses Opfer geleistet wurde, und da ist Christus von niemandem übertroffen worden. Er konnte auch dank seines göttlich-menschlichen Wesens in einer ganz anderen Weise das Leiden auf sich nehmen. Er konnte das Leiden viel tiefer ausschöpfen, als es ein Mensch überhaupt kann. Außerdem war er eben der Sohn Gottes, und noch niemals ist ein zweites Opfer von dieser Hoheit und Dignität dargebracht worden wie am Kreuze Jesu Christi. Da sehen wir also den inneren Sinn des Kreuzesopfers. Er war eine Tat des Gehorsams und der Liebe, des Gehorsams gegen den Vater und der Liebe zum Vater und der Liebe zu den Menschen.

Die Liebe Christi hat die Liebe des Vaters in sich hineingenommen. Denn der Vater hat ja ebenfalls seine Liebe bewiesen, indem er seinen Sohn zum Opfer hingab. Es war die Opfertat Christi eine Liebestat auch des Vaters. Der Vater hat seinen Sohn hingegeben, nicht damit er die Welt richte, sondern damit er die Welt rette. Gott hat seine Liebe und Gerechtigkeit im Opfertode Jesu geoffenbart. Jetzt ist Gottes Liebe und Gottes Gerechtigkeit anschaulich, sichtbar, greifbar geworden auf Erden.

Es gibt Leute, die fragen manchmal: Ja, mußte denn Christus so viel leiden? Mußte er diesen Tod sterben? War das denn notwendig? Nach Gottes Absicht offensichtlich! Es sollte durch den Opfertod seines Sohnes geoffenbart werden

1. das Grauen der Sünde, und

2. die Liebe Gottes.

In dem schrecklichen Geschehen von Golgotha ist unübersehbar, wie furchtbar die Sünde ist. Die Menschen neigen dazu, die Sünde zu verharmlosen. Sie entschuldigen sie. Sie versuchen, sie durch psychologische Mätzchen zu erklären. Sie reden sich heraus. Dagegen erhebt der Opfertod Christi Einspruch. Die Sünde ist etwas Furchtbares, und jede Verharmlosung und jede Herabminderung ihres Schreckens scheitert am Kreuzestode, am Opfertode Christi. Da sieht man, welches Leiden Gott, Gottes Gerechtigkeit, Gottes Heiligkeit für würdig hielt, um dem Zorne Gottes Einhalt zu gebieten.

Gleichzeitig sieht man die Liebe des Vaters, der seines einzigen Sohnes nicht schonte, sondern ihn für uns alle dahingegeben hat. Die Liebestat des Vaters war grundlos. Sie war nicht die Antwort auf die menschlichen Qualitäten, sondern eine aus dem Abgrund der Liebe Gottes hervorgehende Handlung, keine Antwort auf irgendwelche Leistungen des Menschen. Nachdem sie einmal geschehen ist, nachdem diese Tat die Menschen mit Gott versöhnt hat, findet Gott freilich in den Menschen einen Grund, sie zu lieben, nämlich die Liebe seines eigenen Sohnes, den Heiligen Geist, den er in die Herzen der Gerechtfertigten entsandt hat. Jetzt, da wir mit ihm versöhnt sind, hat Gott einen Grund, uns zu lieben. Und deswegen kann Paulus im Zweiten Korintherbrief schreiben: „Wer somit in Christus ist, ist ein neues Geschöpf. Das Alte ist vergangen. Siehe, Neues ist geworden! Das alles kommt von Gott. Er hat uns mit sich versöhnt durch Christus, und uns das Amt der Versöhnung übertragen. Denn Gott ist es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt, den Menschen ihre Sünden nicht anrechnet und uns die Verkündigung der Versöhnung auferlegt hat. Er hat den, der von Sünde nichts wußte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gottes Gerechtigkeit nachstellen.“ Und ähnlich im Kolosserbrief: „Es hat Gott gefallen, die ganze Fülle in ihm wohnen zu lassen, und durch ihn alles mit sich zu versöhnen, indem er Frieden stiftete durch das Blut seines Kreuzes. Alles, was auf Erden und im Himmel ist, auch euch, die ihr ehedem entfremdet und voll feindseliger Gesinnung wart durch euere bösen Werke, auch euch hat er jetzt versöhnt durch den Tod in seinem fleischlichen Leibe, um euch heilig, untadelhaft und unsträflich vor ihm darzustellen.“

Die Texte des heiligen Paulus heben mehr als einmal hervor, daß dieser Opfertod erfolgt ist, als die Menschen Feinde waren. Sünder sind eben Feinde Gottes. Das macht die Größe seiner Liebe aus, daß er für Feinde gestorben ist. Für einen nahestehenden Menschen, meint er, kommt es schon einmal vor, daß einer stirbt, aber für seinen Feind zu sterben, das ist der Gipfel der Liebe. Über diese Liebe hinaus, über die geopferte Feindesliebe hinaus, gibt es keine Liebe.

So hat also Gott durch seinen Christus, den Priester Jesus Christus, die Menschheit mit sich versöhnt. So hat Christus, der Mensch Jesus Christus, durch seinen Priesterdienst am Kreuze dem Vater Genugtuung geleistet, die Menschheit ihm wieder zugeführt. Die Liebesflamme, die in seinem Herzen aufgelodert ist, die Liebestat war es, die diese wunderbare Versöhnung mit Gott herbeigeführt hat.

Wenn wir also in dieser heiligen Messe das Kreuzesopfer Christi in unblutiger Gestalt erneuern, wenn wir eingehen in dieses Opfer durch Gesinnung und Empfang der Opfergabe, die Jesus Christus selbst ist, dann wissen wir, daß hier unser Priester, unser Hoherpriester Jesus Christus sein einzigartiges Geschehen von Golgotha erneuert, daß wir aus den Wunden des Heilandes das Heil schöpfen und daß wir dankbar sprechen können: „Wir danken dir, Herr Jesus Christ, daß du für uns gestorben bist. Ach, laß dein Blut und deine Pein an uns doch nicht verloren sein!“

Amen.

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