Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Nächstenliebe (Teil 5)

9. Februar 1992

Die notwendige Beachtung der Ehre des Nächsten

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Unter den äußeren Gütern des Menschen ist das höchste die Ehre. Die Ehre ist ein Urteil der Menschen über einen Mitmenschen. Sie ist die äußere Anerkennung persönlicher Vorzüge und Eigenschaften des Nächsten. Die Ehre ist für einen selbst und für die anderen von großer Bedeutung. Sie ist ein Vehikel der Tugend. Das heißt: Wer Ehre besitzt, wird sich hüten, sie durch unehrenhaftes Handeln zu verspielen. Er wird darauf achten, daß er seine Ehre behält. Und die anderen sind durch einen Menschen, der in Ehren steht, in ihrem Tugendstreben befestigt. Sie fühlen sich durch das gute Beispiel, das in der Ehre anerkannt wird, ermutigt, im Guten auszuharren. Aus diesem Zusammenhang erkennen wir, daß wir dem Nächsten Ehre schulden. Wir haben die Liebespflicht, seinen guten Ruf anzuerkennen, zu fördern und zu verteidigen, wenn es notwendig ist. Der andere hat ein Recht auf den guten Namen, solange er es nicht verspielt.

Es gibt Sünden gegen die Ehre des Nächsten, innere Sünden und äußere Sünden. Die inneren Sünden gegen die Ehre des Nächsten sind der leichtfertige Argwohn und das freventliche Urteil. Der leichtfertige Argwohn. Nicht jeder Argwohn ist leichtfertig, sondern leichtfertig ist ein Argwohn, der auf ungenügende Gründe hin gegen den anderen keinen objektiven Befund vorweisen kann, warum er Argwohn gegen den anderen hegt. Der leichtfertige Argwohn ist sündhaft. Und ebenso das freventliche Urteil. Nicht jedes (ungünstige) Urteil über den Nächsten ist sündhaft. Wir müssen uns ja, meine lieben Freunde, ein Urteil über den Nächsten bilden, denn wir müssen uns auf ihn einstellen. Wir müssen uns richtig verhalten gegenüber dem Nächsten, und dazu muß man wissen, wie er geartet ist. Das ist aber nicht möglich ohne ein Urteil über ihn. Aber wovor wir uns hüten müssen, das ist das freventliche Urteil, also ein ungünstiges Urteil über den Nächsten, das auf ungenügende Gründe hin gefällt wird im Herzen.

Der Hohepriester Heli im Alten Testament fand eines Tages eine Frau im Tempel, die die Lippen bewegte, und er fragte sie, ob sie betrunken sei. Aber Anna war nicht betrunken, sondern – die Frau des Samuel – bat nur darum, daß der liebe Gott ihr einen Sohn schenken möge und bewegte in innerlichem Gebet die Lippen. Oder um ein anderes Beispiel zu erwähnen: Als die Apostel fünfzig Tage nach Ostern vom Heiligen Geist erfüllt waren und in Sprachen, in unbekannten, erregten Sprachen redeten, da meinte die Volksmenge, sie seien betrunken. Der Apostel Petrus mußte sie aufklären: „Es ist ja erst neun Uhr in der Frühe, da ist man doch nicht betrunken! Sondern was ihr seht, das ist der Heilige Geist, der über uns gekommen ist.“ Das waren freventliche Urteile.

Leichtfertiger Argwohn und freventliches Urteil bleiben zunächst einmal in der eigenen Brust verschlossen. Aber es gibt Sünden gegen die Ehre des Nächsten, die nach außen dringen, Sünden gegen den guten Ruf, die das eigene Herz überschreiten. Die erste dieser Sünden ist die Beschimpfung. Die Beschimpfung ist die ungerechte, ehrverletzende Bekundung verächtlicher Gesinnung in der wirklichen oder moralischen Gegenwart eines anderen. Die ungerechte, ehrverletzende Bekundung verächtlicher Gesinnung. Wenn man also zum Ausdruck bringen will, daß man vor einem anderen keine Achtung hat, daß man ihn verachtet, dann liegt eine Beschimpfung in dem hier gemeinten Sinne vor. Die Größe der Sünde richtet sich natürlich immer nach der Person, um die es sich handelt, und um das Maß der Beschimpfung, die vorgenommen wird. Wenn die Beschimpfung sich in Worten oder Gebärden vollzieht, dann spricht man von Verhöhnung oder von Verspottung. Und wenn sie in die Tat umgesetzt wird, dann nennt man das Mißhandlung. All dies gehört in den Bereich der Beschimpfung. Wir wissen, daß unser Herr und Heiland solche Beschimpfung erduldet hat. Im Prätorium, nach seiner Gefangennahme, wurde er beschimpft, verspottet, verhöhnt und mißhandelt. Er hat die ganze Skala dieser Leiden über sich ergehen lassen. Und die in seiner Nachfolge stehen, werden für sich schwerlich etwas anderes erwarten können. Der Knecht ist nicht über dem Herrn und der Jünger nicht über dem Meister. Haben sie den Meister Beelzebub gescholten, dann werden sie auch seine Jünger Teufel schelten. Das alles ist vom Herrn vorausgesehen und vorausgesagt worden.

Ein Beispiel aus der Gegenwart: Vor einiger Zeit bezeichnete ein Mainzer Theologieprofessor den regierenden Papst als Ayatollah. Er verglich ihn also mit dem fanatischen Khomeini in Persien. Das nennt man Beschimpfung.

Die zweite äußere Sünde gegen die Ehre des Nächsten ist die Verleumdung. Die Verleumdung ist ein direkter Angriff gegen des Nächsten Ehre, indem ihm unwahre Tatsachen zugeschrieben werden. Die Verleumdung ist immer Sünde, es gibt hier keine Ausnahme. Wir haben in der Heiligen Schrift mannigfache Zeugnisse von Verleumdungen. Die Frau des Putiphar in Ägypten verleumdete den ägyptischen Josef, er habe sich ihr in unsittlicher Weise genähert. Und in der Babylonischen Gefangenschaft waren zwei Richter, zwei führende Männer des Volkes, die die reine Susanna verleumdeten, sie habe sich mit ihnen vergangen. Verleumdungen begleiten die ganze Geschichte des Christentums. Auch unser Herr und Heiland wurde verleumdet. „Der Fresser und Weinsäufer“, so hat man ihn bezeichnet. Er steht mit dem Beelzebul in Verbindung, so hat man ihm nachgesagt. Er wiegelt das Volk auf, so hieß es in seinem Prozeß. Und so ist es auch den Christen gegangen. In Thessalonich, einer blühenden Gemeinde, die Paulus gegründet hatte, sagte man, die Christen hielten es mit Aufrührern und Revolutionären. Und so ist es die ganze Zeit der Kirchengschichte hindurch geblieben. Eine Verleumdung war zum Beispiel, was vor einiger Zeit in der Allgemeinen Zeitung in Mainz stand, daß der Papst sich teures Geld für seine Audienzen geben lasse. Wenige Tage später mußte die Zeitung diese Behauptung zurücknehmen, weil kein wahres Wort daran war. Ein besonderer Gegenstand der Verleumdung waren und sind immer die Priester der Kirche gewesen. Das ist verständlich; die Priester predigen Wahrheiten und Gebote, die den Menschen lästig und beschwerlich sind. Um sich gegen sie zu wehren, sucht man die, die diese Wahrheiten und Gebote verkünden, zu entwerten. Man bemüht sich, sie zu verunglimpfen, und dadurch meint man, ihre Botschaft unschädlich gemacht zu haben. Wir Älteren haben es erlebt, wie in der Zeit des Nationalsozialismus die Priester systematisch herabgesetzt, verdächtigt und verleumdet wurden. Im März 1937 erließ Papst Pius XI. seine große Enzyklika „Mit brennender Sorge“ gegen den Nationalsozialismus. Wenige Wochen später begann eine Serie von sogenannten Sittlichkeitsprozessen. In diesen Verfahren wurden Hunderte von Priestern und Ordensleuten vor Gericht gestellt wegen angeblicher sittlicher Verfehlungen. Der damalige Bischof von Berlin, Preysing, hat sich die Mühe gemacht, in allen deutschen Diözesen nachzuforschen, wie es um die Priester der Kirche steht. Sein Ergebnis hat er dem Propagandaminister Goebbels übermittelt. Und das Ergebnis sah so aus: Von 25635 Priestern in Deutschland wurden 58 vor Gericht gestellt, und davon wurden 22 verurteilt. Aber die Öffentlichkeit gewann den Eindruck, der katholische Klerus sei ein einziger Sumpf, moralisch verkommen und deswegen in seinem Anspruch, die Wahrheit zu verkünden, erledigt. Daß diese Methoden heute genauso wie gestern üblich sind, das ist jeden Tag neu zu erfahren, meine lieben Freunde. Es ist tief bedauerlich, daß die Ungeheuerlichkeiten, die beispielsweise Drewermann gegen den katholischen Klerus ausgestoßen hat, nicht dazu geführt haben, daß sich die Bischöfe vor ihren Klerus gestellt haben. Es wäre ihre heilige Pflicht gewesen, die Priester gegen diese Verunglimpfungen in Schutz zu nehmen. Aber das ist ganz selten und in äußerst unzulänglichem Maße nur geschehen.

Eine andere Form der Angriffe gegen die Ehre ist die Ehrabschneidung. Sie besteht darin, daß wirklich vorhandene Fehler eines Menschen aufgedeckt werden ohne Grund. Sie werden gleich sehen, daß es Gründe dafür geben kann. Aber wer ohne Grund die Fehler eines Nächsten aufdeckt, der verfehlt sich gegen seine Ehre. Solange die Dinge nicht bekannt sind, hat der andere ein Recht auf Schweigen. Es müssen Gründe vorhanden sein, wenn es erlaubt sein soll, die Fehler anderer aufzudecken. Was können solche Gründe sein? Nun, zum Beispiel, wenn sich jemand Rat holen will, wenn jemand seine Not einem anderen offenbaren will, wenn er Schaden abwenden will und wenn er sich Nutzen davon verspricht, dann kann es unter Umständen sogar Pflicht sein, die Fehler, die verborgenen Fehler anderer, aufzudecken, um nicht die Dinge weiterwuchern und sich verschlimmern zu lassen.

Dieser Tage, meine lieben Freunde, erhielt ich einen Brief, aus dem ich Ihnen einiges vorlesen möchte: „Ich bin 18 Jahre alt und besuche die 12. Klasse eines katholischen Gymnasiums. Seit der 7. Klasse habe ich ausschließlich Religionslehrer gehabt, die es offenbar als ihre Hauptaufgabe ansehen, uns Schüler zu verunsichern und über die umfassende Lehre der Kirche im unklaren zu lassen. Ja, noch schlimmer: Viele meiner Lehrer polemisierten in mehr oder weniger großem Umfang gegen Papst und Lehramt, Unfehlbarkeit und Zölibat, Dogmen im allgemeinen und die Trinität im besonderen. Bei den sogenannten Schulgottesdiensten wird selbstverständlich Interkommunion praktiziert. In den ökumenischen Wortgottesdiensten agiert unser katholischer Schulseelsorger selbstverständlich in der Mitte zwischen zwei evangelischen Pastorinnen und scheut sich nicht, den Gottesdienst mit den Worten zu beschließen: 'Es segne uns der mütterlich-väterliche Gott!' Ein anderer katholischer Religionslehrer unserer Schule bekennt sich offen als Anhänger Drewermanns und unterrichtet seine Schüler dementsprechend. Das Fazit: Sie sind der Überzeugung, nichts im Neuen Testament sei wörtlich von Jesus jemals so gesagt worden, Jesus sei nur in dem Maße Kind Gottes gewesen wie wir alle, nicht aber der wesensgleiche Sohn. Folgerichtig kann man dann von ihnen hören, Jesus sei für uns nicht mehr als ein Leithammel auf dem Wege zu Gott, und die Apostel hätten niemals den Auftrag zur  weltweiten Mission von Jesus selbst erhalten, sondern seien von allein so besessen von ihrer Idee gewesen wie heutige Umweltschützer von ihren Projekten. Wenn ich gegen solche Verirrungen zu protestieren versuche, ernte ich von Mitschülern und Lehrern bestenfalls mitleidiges Lächeln und Spott, oft auch Ablehnung und Bloßstellung. Dies alles wäre vielleicht noch erträglich, wenn ich wenigstens in meiner Pfarrgemeinde einen Halt fände. Aber seit über 10 Jahren habe ich erleben müssen, daß der Pfarrer immer wieder in seinen Predigten Papst, Bischöfe und Amtsinhaber auch beißender Kritik unterworfen hat. Aus meinem Kommunion-, Beicht- und Firmunterricht habe ich nichts Substanzielles als Stütze und Weggeleit mitnehmen können, so daß ich gezwungen war und bin, mir alles mühsam selbst anzueignen. Unsere Bischöfe reden so viel über die Neuevangelisierung. Sind sich alle dessen bewußt, wievieles in ihren Diözesen oft im argen liegt bezüglich Priesterausbildung, Predigt, Katechese und Sakramentenspendung? Verschließen sie die Augen davor oder haben sie resigniert? Angesichts der Tatsache, daß die Gläubigen, die sich nach der unverfälschten Lehre sehnen, oft von ihren Pfarrern mit Spott bedacht, bloßgestellt oder schlicht übergangen werden?“

Briefe wie diesen erhalte ich häufig. Dazu kommen viele Anrufe, etwa am vergangenen Freitag – ich nenne den Namen, damit man nicht sagt, das seien keine Tatsachen – rief mich eine Frau Hofmann aus Viernheim an und berichtete mir folgenden Vorfall: Bei der Kommunionausteilung habe sie beobachtet, wie ein Junge die Hostie nahm und in die Tasche steckte. Nach dem Gottesdienst sei sie hinausgegangen und habe ihn zur Rede gestellt. Da sagte er, er habe die Hostie im Gebetbuch. Die Frau fragte: Wie kannst du das tun? Das ist unser Gottessohn! Gott? Wer ist denn das? fragte der Junge. Sie versuchte ihn dann zu bereden, daß er die Hostie herausgäbe. Der Junge weigerte sich. Dann sagte sie: Ich will sie dir abkaufen. Hier hast du 5 Mark. Da nahm der Junge die Hostie und gab sie der Frau. Sie brachte sie dem Pfarrer, und als sie dem Pfarrer den Vorfall erzählte, setzte er sich neben sie und weinte bitterlich.

Das sind extreme Fälle. Aber wir wissen nicht, wie viele dieser Fälle sich in unserer Kirche abspielen. Mit Sicherheit ist es erlaubt, derartige Dinge bekannt zu machen, damit sich endlich eine Wende vollzieht, damit endlich einmal die Wahrheit offenbar und die Selbstzerstörung der Kirche beendet wird. Das ist keine Ehrabschneidung, das ist eine pflichtmäßige Meldung, um Abstellung des Unheils zu erzielen.

Die vierte Sünde gegen die Ehre des Nächsten ist die Ohrenbläserei. Die Ohrenbläserei besteht darin, daß man geheime üble Nachrede betreibt, um Freunde zu entzweien, daß man also einem Freund Nachteiliges von einem anderen sagt, um die Freundschaft zu zerstören. Wir wissen, daß auch dieses Laster weit verbreitet ist.

Die Ehre, meine lieben Freunde, ist ein Vehikel, ein Hilfsmittel der Tugend. Jeder Mensch hat Anspruch auf seine Ehre, solange er diesen Anspruch nicht verwirkt hat durch offenkundige, unehrenhafte Tat. Es ist unsere heilige Pflicht, die Ehre des Nächsten anzuerkennen und sie zu verteidigen, wenn die Menschen sie in den Staub zu ziehen suchen. Wenn wir selbst in unserer Ehre gekränkt werden, ist zu fragen, ob die Ehrenkränkung hingenommen werden kann oder ob sie zurückgewiesen werden muß. Wenn es nur um uns selbst geht, ist es häufig angeraten, die Ehrenkränkung hinzunehmen, auf den Heiland zu schauen, der zwischen zwei Verbrechern hängt und mit dem heiligen Franz von Sales zu sagen: „Das ist die eherne Schlange, das ist die neue eherne Schlange. Wer sie anschaut, der wird von allen Wunden des Grolls und der Erbitterung geheilt.“ Aber es kann die Pflicht geben, die eigene Ehrenkränkung zurückzuweisen, wenn nämlich dadurch Schaden für andere entsteht, wenn der Verlust der Ehre, etwa bei einer amtlichen Person, dazu führen würde, daß das Amt in Verruf gerät. In einem solchen Falle muß man die Ehre verteidigen, sind auch alle Gläubigen aufgerufen, die Ehre ihrer Amtsträger, sei es im Staat, sei es in der Kirche, zu schirmen, damit nicht das Amt und damit das Gemeinwohl Schaden leidet. In jedem Falle, meine lieben Christen, ist es angemessen, mit dem Priester, der es in jeder heiligen Messe tut, zu beten: „Pone custodiam ori meo et ostium circumstantiae labiis meis“ – Gib eine Wache meinem Munde und eine schützende Tür meinen Lippen.

Amen.

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