Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Jesus, unser Gott und Heiland (Teil 10)

30. Juni 1991

Die Frage nach der Identität Jesu

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

In den letzten Tagen hatte ich drei Gespräche mit Priestern. Der erste, ein Pfarrer in Rheinhessen, ein gläubiger, frommer, eifriger Priester, klagte mir seine Sorge, die er habe über die vielen – wie er überzeugt ist – unwürdigen Kommunionen. Er hat in seiner Pfarrei im Monat eine Beicht, aber viele Leute, die sich zur Kommunion einfinden. Ein zweiter Priester machte im Kreise anderer Priester den Vorschlag, man solle die Fronleichnamsprozession abschaffen. Es sei heute keine geschlossene katholische Atmosphäre mehr, und deswegen solle man den feierlichen Umgang aufgeben. Ein dritter Priester, der mit der Fortbildung von Priestern befaßt ist, hatte einen Kurs zu leiten, einen Kurs von jungen Priestern. In diesem Kurs waren vier, zwei aus der Diözese Speyer und zwei aus der Diözese Mainz, die ihre Absicht bekundeten, das Priestertum an den Nagel zu hängen.

Diese Erlebnisse, diese geballten Erfahrungen innerhalb von wenigen Tagen stellen die Frage nach der Ursache des Zusammenbruches in unserer Kirche. Wo kommt das denn her? Das war doch früher nicht so. Wo haben früher Menschen unwürdig die Kommunion empfangen? Alle gingen reumütig zur Beichte und haben danach den Leib des Herrn genommen. Wo hat früher jemand den Sinn und die Notwendigkeit der Fronleichnamsprozession bezweifelt? Alle waren überzeugt, daß wir es Gott schuldig sind, dieses Glaubenszeugnis zu geben. Und wann ist vor 50 Jahren meinetwegen es jemals gehört worden, daß sich Massenabfälle von Priestern ereignen? In der Zeit des Nationalsozialismus waren die Kräfte der Kirchenfeinde in einem ungeheuren Maße wirksam. Aber die Abfälle aus der Priesterschaft waren minimal. Es muß etwas in der Kirche geschehen sein, das diese Zustände erklärt. Und ich gebe nach sorgfältiger, jahrelanger Prüfung die Erklärung ab: Es wird in unserer Kirche immer mehr und systematisch der Glaube zerstört. Wo der Glaube zusammenbricht, da kann man kein priesterliches und auch kein christliches Leben mehr führen. Diese Überzeugung, meine lieben Christen, ist der Grund, warum ich seit vielen Sonntagen bei denen, die sich hier zusammenfinden, den Glauben aufzubauen bemüht bin. Denn ohne den Glauben, ohne das Fundament, das der Glaube ist, werden wir weder unsere Kirchenzugehörigkeit beibehalten noch ein wahrhaft Zeugnis gebendes christliches Leben führen können.

Wir hatten uns vorgenommen, die Frage zu beantworten: „Was dünkt euch von Christus? Wessen Sohn ist er?“ Ist er ein Spinner aus Galiläa? Ist er ein Revolutionär, der sozialistische Parolen von sich gibt? Ist er nur ein Prophet, der drohende Weissagungen macht? Oder ist er der Sohn Gottes, der auf Erden erschienene Logos, der mit Vollmacht und im Auftrag des Vaters die Welt erlöst hat durch sein Wort und sein Wirken? Wenn er das nicht ist, dann kommen wir umsonst zusammen, um Eucharistie zu feiern. Wenn er das nicht ist, dann ist das Christentum eine große Illusion, bei der man vielleicht aus traditionalistischer Anhänglichkeit verbleiben kann, aber es ist nicht die absolute Religion.

Die Kunde von Christus, von Jesus dem Christus, dem Messias, kommt uns von den Jüngern des Herrn dazu. Sie haben sich versammelt in der Urgemeinde in Jerusalem. Da sind die Männer und Frauen zusammen, die Jesus erlebt haben, die mit ihm gewandert sind, die sein Wort gehört, die seine Wunder geschaut haben, die bei seinem Tode dabei waren und denen er nach seiner Auferstehung erschienen ist. Das Zeugnis von der Urgemeinde findet sich in der Apostelgeschichte. Im Neuen Testament haben wir die Schriften beisammen, auf die sich das Christentum gründet. Und nach den vier Evangelien kommt ein Buch, das heißt „Apostelgeschichte“. In dieser Apostelgeschichte werden das Entstehen und das Leben der Urgemeinde in Jerusalem und die Tätigkeit der Jünger Jesu, vor allem der Apostel Petrus und Paulus, geschildert. Von wem stammt die Apostelgeschichte? Am Eingang dieses Buches heißt es: „In meinem ersten Bericht, lieber Theophilus, handelte ich von allem, was Jesus von Anfang an getan und gelehrt hat, bis zum Tage seiner Aufnahme in den Himmel, nachdem er seinen auserwählten Aposteln den Heiligen Geist seiner Aufträge gegeben.“ Da ist die Rede von einem „ersten Bericht“, in dem das Leben Jesu beschrieben wird. Das kann natürlich nur eines der vier Evangelien sein. Und welches von diesen vier Evangelien ist denn der erste Bericht? Nach dem Sprachstil und nach der ganzen Anlage ist es das Evangelium des Lukas. Und da haben wir auch den Verfasser der Apostelgeschichte: Es ist der Arzt Lukas, der antiochenische Arzt Lukas. Er hat zwei Bücher geschrieben, das dritte Evangelium und die Apostelgeschichte.

War er denn dazu befähigt? Hat er Quellen gehabt, um diese Bücher zu schreiben? Lukas war ein Schüler und Begleiter des Paulus. Paulus litt wahrscheinlich an einem schweren Leiden, und so ist es verständlich, daß er einen Arzt bei sich hatte. Und von Paulus hat er also zweifellos viele Erfahrungen und Erlebnisse übermittelt bekommen. Er war auch zwei Jahre in Palästina. Zwei Jahre lang hat Lukas in Palästina Quellen gesammelt. Da war er in Cäsarea mit dem Leviten Philippus beisammen. Da hat er sich mit anderen Jüngern, die er mit Namen nennt, unterhalten. Auch in Antiochien, wo er herstammt, gab es eine ganze Anzahl von Jüngern, die er befragt hat, Augenzeugen, Ohrenzeugen. In Rom war er zusammen mit dem Markus. Markus ist ein Mann der ersten Stunde, ein Mann der Urgemeinde, einer, der Paulus auf seiner ersten Missionsreise begleitet hatte. Auch ihn hat er natürlich gefragt. Er baut also auf zuverlässigen Quellen auf. Er hat Zeugen befragt, und diese Zeugen haben ihm das, was er übermittelt, kundgetan. Daß er selber bei einem Teil der Begebnisse, die in der Apostelgeschichte berichtet werden, dabei war, erkennt man an den sogenannten Wir-Berichten. Im ersten Teil schreibt Lukas immer, Paulus tat dis und jenes. Aber plötzlich im zweiten Teil heißt es: „Nach dieser Erscheinung suchten wir alsbald nach Mazedonien zu reisen, weil wir darauf schlossen, daß uns Gott gerufen.“ Wir segelten von Troas ab. Wir hielten uns in dieser Stadt auf. Wir gingen vor das Tor hinaus vor der Stadt. Das sind die sogenannten Wir-Berichte in der Apostelgeschichte. Das sind jene Berichte, die auf Lukas selbst zurückgehen, wo er beteiligt war, wo er anwesend war, wo er also sein eigenes Zeugnis liefert. Die Apostelgeschichte ist deswegen ein zuverlässiger Bericht über Werden und Leben der Urgemeinde. Wir können uns darauf stützen, daß Lukas dem Ganzen seinen Sprach- und seinen Stilcharakter aufgeprägt hat. Das ist nicht verwunderlich; jeder schreibt seinen eigenen Stil, aber dadurch wird eine Veröffentlichung nicht unecht. Lukas schreibt ein sehr gutes Griechisch. Er war ein gebildeter Mann, und deswegen dürfen wir also sein Zeugnis als das eines überzeugten, wahrheitsliebenden, hellenistisch gebildeten Mannes durchaus als zuverlässig betrachten.

Welches ist nun das Zeugnis, das die Urgemeinde von Jesus abgibt? Die Urgemeinde bekennt Jesus als den Christus. Ich sagte schon einmal, Christus ist das griechische Wort für Messias. Jesus ist der Messias. Und die Urgemeinde bekennt all das, was sie an Jesus miterlebt hat, angefangen von der Taufe im Jordan bis zu seiner Himmelfahrt. Sie waren Zeugen, sie sind dabeigewesen, und sie berichten, was sie mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört haben; das Wunderwirken Jesu, seine Predigten an den Seegestaden und auf dem Berge, seine Leiden, seinen Tod unter Pontius Pilatus, an den ihn die Juden ausgeliefert hatten, seine Auferstehung, seine Erscheinungen – er ist ja den vorherbestimmten Zeugen erschienen –, seine Himmelfahrt und seinen jetzigen Wartestand, wenn ich so sagen darf, bis er kommt zu richten die Lebenden und die Toten. „Das alles ist geschehen nach Gottes vorherbestimmtem Ratschluß und Vorherwissen“, so heißt es an den Stellen der Apostelgeschichte, die sich mit dem Leben Jesu befassen. Gott ist nicht überrascht worden durch das, was mit Jesus geschah, sondern es war so von vornherein angelegt; Gott hat auf diesem Wege seinen Heilsplan durchgeführt. Und was da berichtet wird, sind gewiß Heilstatsachen, aber es sind Tatsachen, meine lieben Freunde. Es ist nicht so, wie da manche meinen, es komme nur auf das Kerygma an, auf die Verkündigung, und nicht auf das, was geschichtlich dahintersteht. Wenn diese Heilstatsachen keine Tatsachen sind, dann gibt es auch kein Heil zu verkündigen.

Die Urgemeinde bekennt Jesus als den Christus, als den Messias, der durch die Propheten vorherverkündigt war und der jetzt in der Zeit erschienen ist. Das ist das Prädikat, der Hoheitstitel, den die Gemeinde Christus beilegt, nicht, weil sie ihn erfunden hat, sondern weil die Tatsachen sie dazu zwangen, weil der Vater im Himmel das Leben dieses Jesus, dieses Nazareners, bestätigt hat. Gott hat sich für diesen Prediger und Wundertäter eingesetzt, und aus diesem Einsatz Gottes für Jesus von Nazareth haben seine Jünger mit zwingender Notwendigkeit geschlossen, daß dieser Jesus der Christus ist, der vorhergesagte Erlöser. Er wird auch bezeichnet als der „Knecht Gottes“; das erinnert an die Weissagung im Buche des Propheten Isaias, wo von dem Gottesknecht die Rede ist, der sein Leben für die Vielen hingibt, um ihre Sünden hinwegzutragen. Die Urgemeinde bekennt Jesus weiter als den Propheten, als den einzigen Propheten, als den Propheten, der alle anderen zusammenfaßt und überragt, nämlich als den endzeitlichen, letzten Propheten, der Gottes Wort untrüglich den Menschen vermittelt.

Vor allem bekennt die Urgemeinde Jesus als den Kyrios, also als den Herrn. Es ist behauptet worden, die Stellen, an denen Jesus in der Apostelgeschichte als der Herr bezeichnet wird, gingen auf Lukas zurück, also auf den Heidenchristen Lukas, nicht auf die Judenchristen in der Urgemeinde. Diese Behauptung ist schon deswegen falsch, weil Jesus als der Herr auch in den Reden des Petrus genannt wird, und Petrus ist ja nun ein Judenchrist, unzweifelhaft, und ein Mitglied, ja das erste Mitglied, das Haupt der Urgemeinde. Auch da ist die Rede von Jesus, dem Gottesknecht und dem Herrn. „Ihn (Jesus) hat Gott zum Herrn und Messias erhöht.“ Mit dem Wort Herr, Kyrios, wird seine herrscherliche Stellung und seine gottgleiche Würde hervorgehoben.

Von diesem Jesus kündet die Urgemeinde. Dies ist der Glaube, den sie der nächsten Generation vermittelt hat und der durch alle Generationen bis zu uns gekommen ist. Um Zeuge zu sein, um Zeugnis ablegen zu können, braucht es nach der Apostelgeschichte vier Merkmale. Erstens, man muß selber dabeigewesen sein. Man muß die Erfahrungen haben. Man muß mit den Augen gesehen und mit den Ohren gehört haben, was Jesus getan, gewirkt und gelitten hat. Also der Zeugenbegriff der Urgemeinde verlangt die Empirie, die Erfahrung. Zweitens, wer Zeuge sein will, muß von der Wahrhaftigkeit seines Zeugnisses überzeugt sein. Er muß zum Glaubensgehorsam gekommen sein. Wie soll man etwas künden, wovon man nicht überzeugt ist, auch wenn man es gesehen und gehört hat? Also die Überzeugung, die gläubige Überzeugung ist unbedingt notwendig, damit jemand für Jesus, den Christus, für Jesus, den Herrn, zeugen kann. Das dritte: Der Zeuge muß nicht nur zeugen können, er muß auch tatsächlich zeugen. Er muß wirklich den Mund öffnen. Er darf nicht schweigen, denn es liegt auf ihm ein Muß. Er hat die heilige Pflicht, zu reden, er hat die Verantwortung, zu reden, weil er von Gott als Zeuge erwählt worden ist. Wehe uns, wenn wir das Zeugnis nicht verkünden! Und wie sagt Petrus vor dem Hohen Rat: „Das wißt ihr doch selber. Wir können nicht von dem schweigen, was wir gesehen und gehört haben.“ Wir können es nicht, wir müssen reden, und wir müssen zeugen. Und schließlich das vierte Element: Zeuge wird man nicht durch menschliche Qualitäten, durch besondere Bildung oder durch eine irgendwie geartete menschliche Auszeichnung. Nein, Zeuge wird man durch göttliche Erwählung und Ausrüstung mit dem Geiste. Nur wer von Gott erwählt ist – wobei sich Gott selbstverständlich der Menschen bedienen kann – und nur wer mit dem Heiligen Geist ausgerüstet ist, der ist tauglich, Zeuge von Jesus, dem Christus, zu werden. Das sind die vier Elemente, welche die Urgemeinde von den Zeugen verlangte. Und solche Zeugen hat es damals gegeben. Sie sind hinausgegangen in alle Welt bis an die Grenzen der Erde, wie sie damals bekannt war.

„Was dünkt euch von Jesus? Wessen Sohn ist er?“ Meine lieben Christen, es ist nicht so gewesen, wie es ungläubige Theologen immer wieder behaupten, daß sich nämlich der Glaube an Christus als den Gottessohn allmählich gebildet hat und daß er eine Verfremdung des wahren Christusbildes sei. Es gibt in dieser Hinsicht keine Evolution. Jesus wird als der Christus, als der Gottessohn, als der Herr, also als der mit göttlicher Würde Ausgestattete, schon von der Urgemeinde bekannt. Und wir haben gar keinen Anlaß, von diesem Zeugnis abzuweichen. Wir haben vielmehr die Pflicht, uns einzureihen in die, die bekannt haben: „Ihn, den ihr verworfen habt“, wie Petrus in einer Rede sagt, „den hat Gott zum Herrn und Messias erhöht.“

Amen.

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