Die Wahrheit verkündigen,
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Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Erlösung (Teil 5)

15. Mai 1988

Stellvertretende Genugtuung Jesu

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Getröst', getröst', wir sind erlöst, die Hölle ward zuschanden; denn wahrhaft ist Gott Jesus Christ vom Tode auferstanden.“ Seit mehreren Sonntagen bemühen wir uns, zu erkennen, was es heißt: „Getröst', getröst', wir sind erlöst.“ Wir wollen ja diese Vokabel nicht gebrauchen in einem abgegriffenen oder gar unverständlichen Sinn. Wir wollen wissen, was damit gemeint ist, wenn wir sagen: „Wir sind erlöst.“ Wir wollen uns selbst Rechenschaft geben, denn jeder Mensch hat ein natürliches Wahrheitsverlangen. Wir wollen aber auch den anderen, die uns darüber befragen, Auskunft geben können, um ihnen zu erklären, worin unsere Freude und unsere Hoffnung begründet ist: „Getröst', getröst', wir sind erlöst.“ Die Erlösung knüpft vorzüglich an Tod und Auferstehung Jesu an; denn wir haben gesehen, wenn auch sein ganzes Leben voll erlöserischer Kraft ist, so gipfelt doch sein erlöserisches Tun am Kreuz und wird besiegelt in der Auferstehung. Die Auferstehung gehört dazu, denn ohne Auferstehung wüßten wir  nicht, daß das Opfer des Herrn angenommen ist, wüßten wir  nicht, daß dieses Leben und Sterben nach dem Willen des Vaters gelebt worden ist, ja wüßten wir nicht, daß sich hier der Loskauf, die Versöhnung vollzieht. Das waren die beiden Begriffe, die wir am vergangenen Sonntag betrachteten, die uns einen Aufschluß geben, was die Erlösung bedeutet: Loskaufung und Versöhnung.

Wir wollen heute einen weiteren Begriff hinzufügen, wenn wir sagen: Das Leben und Sterben Jesu war stellvertretende Genugtuung. Das lateinische Wort ist satisfactio. Was ist Genugtuung? Genugtuung ist die Befriedigung einer Forderung. Ich tue jemandem genug, wenn ich das, worauf er einen Anspruch hat, befriedige. Im engeren Sinne ist Genugtuung die Wiedergutmachung einer Beleidigung. Als der unselige Brauch des Duells noch bestand, da sprach man von der Satisfaktion. Der Herausgeforderte verlangte Genugtuung, indem er den anderen zum Duell, zum Zweikampf mit Waffen forderte. Das ist ein Mißbrauch, aber das Wort ist dasselbe. Diese Wiedergutmachung der Beleidigung geschieht durch eine freiwillige Leistung, die das Unrecht der Beleidigung aufwiegt, deswegen Genugtuung. Wenn diese Wiedergutmachung ebenso groß ist wie die Beleidigung, dann spricht man von einer vollwertigen Genugtuung. Wenn die Genugtuung geringer ist als das Unrecht, dann ist sie nicht vollwertig und wird nur mit überaus gnädiger Nachsicht angenommen. Wenn nicht der Beleidiger selbst die Genugtuung leistet, sondern ein anderer, spricht man von stellvertretender Genugtuung.

Eben das, meine lieben Freunde, ist im Leben und Sterben, im Leiden und im Auferstehen unseres Herrn der Fall gewesen. Sein Sterben und sein Auferstehen sind stellvertretende Genugtuung. Der Herr ist nicht für sich selbst gestorben, sondern für uns. Das ist ein eherner Grundsatz in allen Glaubensbekenntnissen der Kirche: Pro nobis! Was immer er tat und litt: Pro nobis! Für uns ist es geschehen. Die stellvertretende Genugtuung des Herrn ist schon im Alten Testamente angekündigt beim Propheten Isaias. Da heißt es vom Gottesknecht – das ist eben der Messias -: „Er aber hat unsere Leiden getragen, unsere Schmerzen auf sich genommen. Wir hielten ihn für geschlagen, für getroffen, von Gott geplagt, doch ob unserer Sünden ward er verwundet, ob unserer Frevel zerschlagen, zu unserem Heil lag Strafe auf ihm. Durch seine Striemen wurde uns Heil.“

Wir sehen aus diesen Versen beim Propheten Isaias, daß das Leiden des Messias ein stellvertretendes Sühneleiden für andere war. Der Herr selbst hebt das hervor, wenn er sagt: „Der Menschensohn ist gekommen, sein Leben als Lösepreis für viele hinzugeben.“ Oder wenn er sagt: „Ich gebe mein Leben für meine Schafe.“ Er starb nicht einen Straftod für eigene Sünden, sondern er starb den Straftod für fremde Sünden. Er hat sich gleichsam selbst zur Sünde machen lassen. „Den, der die Sünde nicht kannte, hat Gott zur Sünde gemacht für uns,“ sagt der Apostel Paulus. Da haben wir diese stellvertretende Genugtuung. Für uns hat ihn Gott zur Sünde gemacht, damit die Gerechtigkeit Gottes in ihm wirkt. Das ist der wunderbare Tausch: Der Sündenlose nimmt die Sünden auf sich, damit die Sünder von ihrer Sünde befreit werden.

Ein großer Theologe, der heilige Anselm von Canterbury – er war Erzbischof von Canterbury in England – hat diese Lehre in einem Buche, das uns erhalten ist, zusammengefaßt. Das Buch heißt „Cur deus homo?“ Warum wurde Gott ein Mensch? Und er faßt die ganze Lehre der Kirche, die Lehre der Schrift, die Lehre der Kirchenväter zusammen, wenn er folgendes erklärt: Die Sünde ist eine unendliche Beleidigung Gottes. Der kleine Mensch erhebt sich gegen seinen Schöpfer. Diese unendliche Beleidigung kann der Mensch nicht sühnen. Dazu ist er zu gering, dazu ist er zu minderwertig. Eine unendliche Beleidigung kann nur Gott selber sühnen. Sühnen aber kann Gott nur, wenn er eine menschliche Natur annimmt, denn er ist ja leidensunfähig als Gott. Also mußte Gott, wenn er eine vollwertige, eine adäquate Genugtuung leisten wollte, Mensch werden, eine menschliche Natur annehmen und in dieser menschlichen Natur das Erlösungswerk vollbringen.

Das ist die berühmte Satisfaktionstheorie des heiligen Anselm von Canterbury. Die stellvertretende Genugtuung, die der Herr vollbracht hat, ist vollwertig, d.h. sie wiegt das Unrecht auf, und sie wiegt es deswegen auf, weil es eine göttliche Person ist, die diese Genugtuung leistet, von deren Handeln eben gilt: Es ist von überströmendem Wert. Es ist eine göttliche Person, und deren Handlungen haben kraft der Vereinigung einer menschlichen Natur mit der göttlichen Person göttlichen, unendlichen Wert. Und deswegen ist die Genugtuung, die der Herr geleistet hat, nicht nur vollwertig und ausreichend, sie ist vielmehr überquellend, sie ist reicher als die Sünde. „Als die Sünde sich mehrte, da ist die Gerechtigkeit Gottes überströmend geworden,“ schreibt der Apostel Paulus.

Christus hat durch seine stellvertretende Genugtuung die Menschen losgekauft und versöhnt. Er ist gestorben und auferweckt worden nicht nur für die Prädestinierten, die also Gott von vorneherein für den Himmel bestimmt hatte. Er ist gestorben und auferweckt worden auch nicht bloß für die Gläubigen. Er ist gestorben und auferweckt worden für alle Menschen. In der Heiligen Schrift und in den Äußerungen der Konzilien wird immer wieder gesagt: Er starb für alle. Er hat sein Leben hingegeben als Lösepreis für alle.

Aber da ist eine wichtige Unterscheidung zu machen, meine lieben Freunde. Mit der Erlösung ist es nicht wie mit einem naturhaften Geschehen. Dem kann sich niemand entziehen. Wenn ein Vulkan ausbricht, dann bricht er eben aus und kommt über alle. So ist es nicht mit der Erlösung. Die Erlösung gewinnt man nur, wenn man erlöst sein will. Und deswegen hat die Theologie eine ganz wichtige Unterscheidung angebracht. Sie heißt: „Die stellvertretende Genugtuung Christi ist ausreichend für alle, aber sie ist nicht wirksam für alle.“ Die gesamte Menschheit ist objektiv erlöst. Sie ist also fähig, sich die Erlösung Christi anzueignen. Aber nicht jeder eignet sie sich an. Um sich die Erlösung anzueignen, braucht es den Glauben, braucht es die Erfüllung der Gebote, und wer das nicht tut, wer absichtlich nicht glaubt und die Gebote nicht erfüllt, der ist der Erlösung nicht teilhaftig.

Also gemäß der Hinlänglichkeit ist die Erlösung allgemein, aber hinsichtlich der Wirksamkeit ist sie nicht allgemein. Die Verdammten, die Menschen, die verlorengehen, werden durch Christi Blut, so kostbar es ist, nicht erlöst. Es gibt die furchtbare Möglichkeit, die Erlösung zu verpassen. Es gibt die furchtbare Möglichkeit, daß das Blut Jesu für Menschen vergeblich geflossen ist.

Aus dieser furchtbaren Möglichkeit ersehen wir, wie dankbar wir sein können, daß Gott uns zu seiner Kirche berufen hat, daß wir in Glaube und Taufe und Sakramenten uns die Erlösung aneignen, daß wir uns bemühen dürfen, seinen Willen zu erfüllen, um die Erlösung auch festzumachen für unser ganzes Leben bis zu unserem hoffentlich seligen Ende.

„Getröst', getröst', wir sind erlöst, die Hölle ward zuschanden; denn wahrhaft ist Gott Jesus Christ vom Tode auferstanden.“  

Amen.

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