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Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Gnade Gottes (Teil 5)

28. Juni 1987

Vermehrung der heiligmachenden Gnade

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

An den vergangenen Sonntagen haben wir das Kommen des Heiligen Geistes in die Seele miteinander bedacht. Der Heilige Geist nimmt Wohnung in der Seele, und er stattet sie herrlich aus. Er kommt mit seiner heiligmachenden Gnade und vermittelt uns damit ein neues, ein geheimnisvolles, aber deswegen nicht weniger wirkliches, übernatürliches Leben. Die heiligmachende Gnade kann und soll bewahrt und vermehrt werden. Es ist wie mit einem Eisenstabe, den man ins Feuer hält. Er kann dunkel glühend, er kann aber auch hell glühend sein, je nach der Hitze, die er aufnimmt. Oder dieses Geschehen ist auch mit einem Zimmer zu vergleichen. Ein Zimmer kann von der Sonne mehr oder weniger erhellt werden. Ähnlich – unähnlich kann die Seele von der heiligmachenden Gnade schöner oder noch schöner ausgestaltet und ausgestattet werden. „Wer heilig ist, werde noch heiliger; wer gerecht ist, werde noch gerechter,“ so heißt der Ruf in der Apokalypse des Apostels Johannes.

Die heiligmachende Gnade wird bewahrt und vermehrt vor allem durch zwei Mittel; einmal durch gute Werke. Wer gute Werke tut, wer die Liebe übt gegenüber Gott und dem Nächsten, wer dem Notleidenden zu Hilfe kommt mit den guten Werken der leiblichen und geistlichen Barmherzigkeit, der vermehrt und bewahrt die heiligmachende Gnade. Da kann es geschehen, daß von jemandem wie vom heiligen Diakon Stephanus gesagt werden muß: „Er war voll – voll! – des Heiligen Geistes.“ Die heiligmachende Gnade wird sodann bewahrt und vermehrt durch jene schöpferischen Gottbegegnungen, die wir Sakramente nennen. Wenn auf einem Ackerfeld Steine und Unkraut sich breit machen, kann die Sonne den Samen schlecht oder gar nicht erreichen. So muß auch auf dem Ackerfeld der Seele alles, was den Tau göttlicher Gnade behindert, entfernt werden. Das geschieht durch den Empfang der Sakramente. Durch die Sakramente wird die heiligmachende Gnade bewahrt und vermehrt, vor allem durch das Bußsakrament und durch das Sakrament des Altares. Sie sind die heiligen Mittel, die Gott uns gegeben hat, damit wir im Wirken der Gnade die Hindernisse aus dem Weg räumen.

Die heiligmachende Gnade kann verlorengehen. Sie geht verloren durch die Todsünde. Die Todsünde ist, wie der Name schon sagt, das Ende der heiligmachenden Gnade in der Seele. Der Heilige Geist weigert sich, in einer Seele zu bleiben, in die der böse Geist durch eine Todsünde eingezogen ist. Es gibt nur die beiden Möglichkeiten: Entweder herrscht der Heilige Geist in der Seele oder der böse Geist, entweder die heiligmachende Gnade oder der Zustand der Finsternis, den wir Todsünde heißen. Wenn der Heilige Geist die Seele verläßt, dann wird sie schwach und krank, dann fällt sie zurück in Finsternis und Verwirrung. Das sind tatsächlich Menschen, die in Finsternis und Todesschatten sitzen. Der Verlust der heiligmachenden Gnade wiegt jeden anderen Verlust auf. Er ist schlimmer, er ist furchtbarer als jeder andere Verlust. Vermögen verloren – viel verloren! Ehre verloren – mehr verloren! Gott verloren – alles verloren! Wahrhaftig, so ist es, meine lieben Freunde. Wer in der Todsünde lebt, findet die Ruhe nicht.

Der heilige Thomas von Aquin wurde auf seinem Sterbelager einmal gefragt, was ihm im Leben am wunderbarsten erschienen sei. Da antwortete er: „Am wunderbarsten“ – er meinte damit: am merkwürdigsten – „am wunderbarsten ist mir erschienen, daß jemand sich zur Ruhe niederlegen kann, obwohl er weiß, daß er eine Todsünde auf seiner Seele hat.“ Er wollte damit zum Ausdruck bringen: Man muß eher alles tun, als daß man im Zustand der Schuld, der schweren Schuld verweilt. Das ist tatsächlich das Schlimmste, was dem Menschen widerfahren kann, daß er das Blut Christi, das für ihn vergossen wurde, geringschätzt, daß er das Kreuz mit den Füßen tritt.

Der heilige Alphons von Liguori mußte einmal einen Priester zu sich bestellen, der sich verfehlt hatte – und mehr als einmal verfehlt hatte. Als der Priester zu ihm kam, sah er, wie auf der Schwelle des Zimmers des Bischofs ein Kruzifix, ein Kreuz lag. Er zögerte weiterzugehen. „Nein, nein,“ sagte der Bischof, „treten Sie nur auf das Kreuz, treten Sie nur darauf, Sie haben schon oft genug auf den Heiland getreten!“ Der Priester nahm sich das so zu Herzen, daß er von dieser Stunde an seine Sünde unterließ. Wem das Unglück widerfahren ist, eine Todsünde zu begehen, der hat es dringend nötig, so bald wie möglich seine Seele wieder mit der heiligmachenden Gnade ausstatten zu lassen. Das geschieht, indem er eine gute, eine würdige, eine fruchtbare heilige Beicht ablegt. Es gibt eine Planke nach dem Schiffbruch, und diese Planke ist das Bußsakrament.

Wer im Zustand der Todsünde lebt, dessen Seele ist gleichsam tot. Selbstverständlich ist das natürliche Leben in ihr nicht tot, das lebt weiter, die Seele ist ja unsterblich. Aber das übernatürliche Leben der Seele, die Gottesfreundschaft, dieser neue Zustand, in welchen die Seele durch den Heiligen Geist erhoben wurde, der stirbt, und deswegen heißt diese Sünde  mit Recht Todsünde. Wer in der Todsünde lebt, ist in großer Gefahr, ewig zugrundezugehen. Er gleicht der Rebe, die vom Weinstock getrennt ist; und eine vom Weinstock getrennte Rebe muß ja zugrundegehen, sie verdorrt und wird ins Feuer geworfen. Er gleicht einem Manne, der zu einem großen Hochzeitsmahl geladen war und kein hochzeitliches Gewand anhatte. Von ihm steht geschrieben, daß er an Händen und Füßen gebunden und in die Finsternis draußen geworfen wurde.

Können wir wissen, meine lieben Freunde, ob wir im Zustand der heiligmachenden Gnade sind? Wir haben keine solche Gewißheit, wie wir sie mit dem Glauben über die Wahrheit in der Religion gewinnen. Es gibt keine Glaubensgewißheit, daß wir im Zustand der heiligmachenden Gnade sind. Wir können die Zuversicht haben, wir müssen uns bemühen, alles zu tun, was möglich ist, um die heiligmachende Gnade zu gewinnen, zu bewahren und, wenn nötig, wiederherzustellen. Aber wir wissen es nichtmit untrüglicher Gewißheit, ob wir im Zustand der heiligmachenden Gnade sind. „Ich bin mir zwar nichts bewußt,“ sagt der Apostel Paulus, „aber deswegen noch nicht gerechtfertigt.“

Deswegen ergeht der Ruf: „Wirket euer Heil in Furcht und Zittern!“ Es ist richtig, daß wir auf Gottes Gnade und auf Gottes Barmherzigkeit grenzenlos vertrauen dürfen, aber es ist ebenso richtig, daß wir von uns, unserer Schwäche und Bosheit alles fürchten müssen. Darum: „Wirket euer Heil in Furcht und Zittern!“

In dem Prozeß, der gegen die heilige Jeanne d'Arc geführt wurde und dessen Akten uns erhalten sind, in diesem Prozeß aus dem 15. Jahrhundert lautete eine Frage, welche die Richter an die heilige Jungfrau stellten: „Bist du im Stand der heiligmachenden Gnade?“ Da gab dieses Bauernmädchen, das nicht lesen und schreiben konnte, die Antwort: „Wenn ich im Zustand der Gnade bin, bitte ich Gott, mich darin zu bewahren. Wenn ich nicht darin bin, bitte ich Gott, mich dahinein zu versetzen.“ Eine Antwort von fast göttlicher Weisheit. Dieses Mädchen hat die Klippe – denn die Richter waren ihr ja nicht wohlgesinnt – hat die Klippe, an der man sie zerschellen lassen wollte, glücklich umschifft. Sie hat die Hoffnung und die Zuversicht geäußert, in der heiligmachenden Gnade zu sein, aber sie hat keine Gewißheit von sich ausgesagt.

So sollen auch wir unser Leben verbringen. Wir sollen die Hoffnung und die Zuversicht haben, daß wir in der heiligmachenden Gnade sind. Das kann man ja bis zu einem bestimmten Grade mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit daran erkennen, daß ein Mensch Gutes tut. Ein guter Baum kann nur gute Früchte bringen, ein schlechter Baum kann nur schlechte Früchte bringen. Wir können also an den Früchten einigermaßen wahrscheinlich erkennen, ob wir in der Gnade sind. Aber eines, meine lieben Freunde, wollen wir niemals unterlassen: Alle unsere Kräfte einzusetzen, die Gnade zu bewahren, die Gnade zu vermehren, soweit das menschlichem Bemühen zugänglich ist; und wenn wir das Unglück hatten, sie zu verlieren, so bald als möglich uns wieder in den Zustand der Gnade von Gott versetzen zu lassen.

Amen.

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