18. März 2018
Der leidende Herr am Ölberg
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Nun ist das Abendmahl vorüber, die letzten schönen trauten Stunden, die Jesus in seinem Leben haben sollte. Und nun geht er hinaus in die Nacht, wohin ihm der Verräter schon vorangegangen ist. Nun geht er dahin, unausweichlich, unabwendbar seinem Schicksal entgegen, der großen Entscheidung über sein Leben und Wirken, der Entscheidung über das Schicksal der Welt. Eine größere Stunde hat es nie gegeben als die folgenden, als die jetzt kommenden. Im Gehorsam gegen den Vater ist die Entscheidung über den Zukunftsweg der Geschichte gefallen im Willensleben Jesu, letztlich im Gebet von Gethsemane. Und er geht in die Entscheidung hinein gegen eine Übermacht. Es ist die Stunde seiner Feinde und die Stunde der Finsternis. Wehrlos wie ein Lamm wird er jetzt zur Schlachtbank geführt und hat seinen Mund nicht mehr aufzutun. Nun wird er seine Hand nie wieder erheben, um den Sturm zu beschwichtigen, der jetzt über ihn hereinbrechen wird. Alles muss er sich gefallen lassen, was man ihm antun wird in den nächsten 24 Stunden. Und ganz allein muss er hinaus, ganz allein. Niemand wird mit ihm sein. Ganz allein muss er die Kelter des großen Zornes treten. Alles wird gegen ihn sein, und die noch zu ihm halten, stehen abseits und können ihm nicht helfen. Das alles sieht er voraus mit dem klarsten Blick seiner göttlichen Weisheit.
Nun stürzt ein dunkles schwarzes Gebirge über seine Seele. Eine Angst umfasst ihn, wie wenn einer im Sarge liegt, so eng und beklemmend ist die Angst. Kalter Angstschweiß tritt auf seine Stirn, sein Herz beginnt zu pochen, so rastlos, dass es das Blut hinaushämmert aus allen Poren; das war die Angst. Können wir sie verstehen? Können wir sie uns vorstellen? Nein. Denn seine Angst muss größer gewesen sein als jede Angst, die jemals vor ihm und nach ihm war. Er musste ja das Äußerste durchmachen, damit er Mitleid haben konnte mit uns, den geängstigten Menschen. Einen Hohenpriester sollten wir haben, der Mitleid hat mit uns. Unser Hoherpriester soll keine Angst auf Erden gering und leicht nehmen, jede soll er verstehen: jede Kinderangst und jede Frauenangst, jede Seelenangst und jede Todesangst. Darum musste er die größte aller Ängste durchmachen. Die Seelenangst, die sich seiner bemächtigt, drängt zur Mitteilung an die drei Jünger: „Meine Seele ist betrübt bis zum Tode; wachet und betet.“ Die Worte „bis zum Tode“ bezeichnen den höchsten Grad der Traurigkeit, eine Beklemmung, die so groß ist, dass davon das Herz brechen möchte. Warum hat der Herr dieses Leid nicht verborgen? Warum hat er es ausgesprochen? Damit man nicht mehr sagen kann, dass Gott unberührt bleibe vom Leid der Welt, dass er in ewigen Höhen thront, während wir hier unten weinen und schluchzen. Nein, jetzt ist er herabgestiegen, und alles Leid der Erde ist vor seine Seele gekommen, und er ist traurig geworden. Das Leben selbst ist traurig geworden bis zum Tode. Nun kann man wahrhaftig nicht mehr sagen, dass das Leid der Welt nicht groß sei, denn Gott selbst hat sich darüber betrübt. Warum hat der Herr geklagt über seine Traurigkeit? Hat er vielleicht die Klage ausgesprochen, weil er Hilfe suchte? Weil er Trost brauchte? Ja, das wird es sein. Das war der letzte Grund: Trost hat er gebraucht. Zum Himmel hat er seine Traurigkeit hinaufgerufen, und vom Himmel ist ein Engel gekommen und hat ihn getröstet. Ein Engel hat ihn trösten müssen, ihn, den großen Tröster. Ihn muss jetzt ein Geschöpf trösten, so groß ist seine Traurigkeit.
Die Jünger hören sein laut vorgetragenes Beten: „Abba, Vater, alles ist dir möglich: lass diesen Kelch an mir vorübergehen, doch nicht was ich will, sondern was du willst.“ Die Klage beweist die Echtheit und Tiefe seines Leidens. Das Gebet offenbart seine Unterwerfung unter den Willen des Vaters. Das ist nicht das Gebet eines Verzweifelten, der unter der Wucht des Leidens zusammenbricht. Er ging auch in dieser bitteren Stunde zum Vater, weil er immer zum Vater ging, weil er mit allem zum Vater ging, weil er sein ganzes Herz in jeder Stunde zum Vater trug, weil dort seine Heimat war. Alles trug er zum Vater, denn er war das Kind des Vaters. So trug er auch jetzt seine große Not zu ihm, eine Not, wie er sie noch nie erfahren hatte: seine Schwäche, seine Todesangst. Jetzt, wo er ganz zerbrochen am Boden liegt, auch jetzt hob er seine Augen zum Vater empor, wie er es immer getan hatte: „Vater, wenn es möglich ist.“ Ja, warum sollte es nicht möglich sein? Bei Gott ist doch alles möglich, er ist doch der Allmächtige, er kann doch jeden Kelch an ihm vorübergehen lassen, warum sollte es nicht möglich sein? Wenn es nicht möglich ist, dann kann das nur daher kommen, dass hier ein Ratschluss Gottes vorliegt, so groß wie das Wesen Gottes selbst. Was in der Heiligkeit und Liebe Gottes gegründet ist, das kann in der Tat nicht geändert werden, das steht ewig fest, daran ist nicht zu rütteln. Ein solcher Ratschluss liegt hier vor. Darum fängt er auch nur an, ganz schlicht zu fragen; er denkt nicht daran, einen solchen Ratschluss umstoßen zu wollen. Nein, er will seinem Vater nicht Gewalt antun. „Vater“, sagt er ganz demütig, „wenn es möglich ist, lass diesen Kelch an mir vorübergehen.“ Es ist der Kelch, den er um unseretwillen trinken muss und an dem er nicht vorbeikommt.
So geht er nun zu den Menschen. Wie ist das furchtbar, dass auch Christus, der Leidende, den schweren Weg zu den Menschen gehen musste. Da die Todesangst nicht von ihm wich, stand er auf, einmal, zweimal und ging zu seinen Jüngern, aber diese schliefen. Da flehte er: „Wachet doch mit mir.“ Warum bittet er so? Es ist ihm ergangen, wie es allen leidenden Menschen ergeht: sie schauen aus nach einem hilfreichen Menschen. Wenn er ihnen auch nicht helfen kann, wenn sie wenigstens einen Menschen sehen, wenigstens einen Menschen hören, wenigstens eine Hand fassen können, dann ist es schon leichter. So kommt der Heiland zu seinen Jüngern. Sie können den Kelch nicht trinken, sie können ihn nicht befreien, sie können ihm die Todesangst nicht wegnehmen, aber hören möchte er sie wenigstens, sehen möchte er sie. So bittet er sie, mit ihm zu wachen. Aber er fand nicht, was er suchte. Die Jünger schliefen und waren schlaftrunken und gaben ihm nur verworrene Antworten. Sie verstanden ihn nicht in seiner Not, denn er war zu weit weg. Wenn ein Mensch einmal ganz tief in der Not ist, ist er immer einsam. In der großen Not ist der Mensch immer allein. Wir sehen an dem Hilfeflehen Christi, dass sein Leiden wirklich bis auf den Grund gereicht hat, auf den Grund einer furchtbaren Einsamkeit, wo seine Jünger, die es doch gut mit ihm meinten, nichts mehr verstanden.
Dann sprach er das wunderbare, ja das erschreckende Wort: „Vater, nicht mein Wille geschehe, sondern der deine.“ Das ist ein Wort voll von Geheimnissen, von Unbegreiflichkeiten. Da ist ein Gegensatz zwischen dem Willen Gottes und seinem Willen; diese beiden Willen gehen auseinander. Er will etwas anderes, als sein Vater will. Was ist das für ein Geheimnis. Wie ist es möglich, dass der Wille Jesu Christi, des Sohnes Gottes, ein anderer ist als der Wille des Vaters? „Nicht mein Wille geschehe, sondern der deine.“ Dein Wille geschehe, nicht der meine, d.h. über meinen Willen sollst du hinweggehen, mein Wille soll unberücksichtigt bleiben, auf meinen Willen sollst du nicht achten, du sollst einfach handeln, als ob ich gar nicht da wäre¸ auf mich kommt es gar nicht an. Das ist in der Tat Opferwille, das ist der Wille, ausgelöscht zu werden, übersehen zu werden von Gott. Und Christus weiß, dass er beim Worte genommen werden wird, dass Gott es in der Tat so machen wird. So ist Gott: er ist imstande, über den Willen seines Sohnes hinwegzugehen. Dieses Opfer wird angenommen werden.
Eine volle Stunde hat der erste Akt des Gebetes Jesu gedauert. Der Aufruhr in seinem Inneren treibt ihn zu den Jüngern zurück, und das noch zweimal. Diese sind inzwischen eingeschlafen und können sich des Schlafes nicht erwehren. Jesus findet deswegen auch in ihrer Nähe keinen Trost. Er ist in seiner äußersten Seelennot ganz einsam. Jesus wendet sich an den vorher so selbstsicheren Petrus und spricht: „Simon, du schläfst? Konntest du nicht eine Stunde mit mir wachen?“ Und dann wendet er sich an die anderen drei: „Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung fallet. Der Geist ist zwar willig, aber das Fleisch ist schwach.“ Die Mahnung zum Wachen ist in der gegenwärtigen Lage höchst angebracht, denn die Jünger sind in der Gefahr, Jesus untreu zu werden, an Jesus irre zu werden. Ihr Wille ist zwar gut, aber ihre Schwäche kann sie trotzdem zu Fall bringen. Das Ärgernis des Kreuzes beginnt sich jetzt aufzurecken.
Jesus geht zum dritten Mal zum Beten. Als er es beendet hatte, kam er wieder zu den Jüngern und sprach zu ihnen: „So schlaft denn weiter und ruhet.“ Diese Worte sind wohl als Ausdruck der Resignation zu verstehen. Die Jünger schlafen, schlafen immer wieder und immer noch, obwohl sich dramatische Ereignisse vorbereiten. Jesus hat es aufgegeben, auf ihre Anteilnahme zu hoffen, ihre Solidarität zu spüren. Er weiß, ganz allein muss er jetzt den Opfergang antreten. Vom Opferwillen bis zur Opfertat ist ein weiter Weg. Von den heiligsten Vorsätzen, die ganz ernst gemeint sind, bis zu ihrer Ausführung ist eine große neue Kraft notwendig. Jesus aber hatte diese Kraft. Die Angst ist von ihm gewichen, er richtet sich auf in Entschlossenheit: „Es ist genug! Die Stunde ist gekommen. Siehe, der Menschensohn wird in die Hände der Sünder überliefert.“ Und der Menschensohn ist bereit. Er erhebt sich und beginnt seinen Weg, dem Leid entgegen, den Henkern entgegen. Und er wird nicht mehr stille stehen, nicht mehr zur Ruhe kommen, bis er ans Ende gelangt ist. Aus dieser Kraft heraus spricht er zu seinen Jüngern zwei inhaltsschwere Worte: „Steht auf, wir wollen gehen.“ Stehet auf, sagt er, stehet ihr auf, denn er steht schon, er ist immer bereit, er ist immer frei, er ist immer willig, er ist immer wach, er braucht nicht aufzustehen. Aber die Jünger müssen aufstehen, und es ist seine Kraft, dass er auch andere aufstehen lassen kann. Es ist ihm gelungen, die Jünger zum Aufstehen zu bringen aus ihrer Schläfrigkeit, aus ihrer Gleichgültigkeit, Bequemlichkeit und Alltäglichkeit. Die, welche die entscheidende Stunde ihres Meisters verschlafen, werden in Kürze der jüdischen Obrigkeit ins Gesicht schleudern: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. Und dann sagt er: „Lasset uns gehen.“ Hier spricht er „wir“, wir wollen gehen, er schließt sich mit ein, wir wollen zusammen gehen, ich mit euch und ihr mit mir.
Dieses Wort, meine lieben Freunde, wird nicht mehr verstummen. Dieses Wort steht fortan über der Welt. Lasst uns gehen, d.h. geht mit mir. Christus geht immer noch seinen Weg durch die Welt, den Weg des Kampfes, den Weg der Verkennung, den Weg der Verhüllung. Und an alle seine Jünger ist das Wort gerichtet: Wir wollen gehen, zusammen gehen; ich gehe mit euch. Jetzt ist es erst eine kleine Schar, drei, zwölf Jünger, nein elf Jünger nur noch, aber sie wird wachsen. Es wird eine ganze Gemeinde, eine Christenheit daraus, die einen unglaublich schweren Weg durch die Geschichte gehen wird. Aber Jesus sagt: Wir wollen gehen; ihr geht mit mir und ich gehe mit euch. O katholische Kirche, jetzt sehe ich dein Geheimnis. Du bist eine arme, kleine Schar, du bist ein Ärgernis, du bist eine Unansehnlichkeit, du bist ein Anstoß, aber Jesus hat dir gesagt: Wir wollen zusammen gehen; er geht mit dir. Und so wollen auch wir mit dir gehen, wollen dich, o Kirche, nicht verlassen, wollen nicht irre werden an dir, wollen deinen Weg, deinen Gott, deine Opfer, deine Leiden, deine Schwächen teilen. Lasst uns miteinander gehen, so sagt der Herr, und so beginnen sie ihren gemeinsamen Weg, Christus und seine Gemeinde, Christus und seine Kirche. Und es ist Zeit, dass sie gehen, denn es steht ihnen ein weiter Weg bevor bis in die Unendlichkeit, bis in die Ewigkeit. Immerfort wird sie dieses Wort begleiten: Wir gehen zusammen immer und immer und in alle Ewigkeit, ich, euer Herr und Meister, und ihr, meine Jünger.
Amen.