Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
20. Juli 2014

Suchet zuerst das Reich Gottes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Das soeben gehörte Evangelium wird Ihnen bekannt vorkommen. Wir haben es ja schon einmal am vierten Sonntag in der Fastenzeit gehört: das Evangelium von der wunderbaren Brotvermehrung. Die Menschenmassen waren Jesus zugeströmt nicht, um irdische Bedürfnisse zu befriedigen, sondern um ihre Seele zu heilen. Welche Gewalt, welche Kraft muss von der Predigt des Herrn ausgegangen sein, dass er Tausende von Menschen an sich ziehen konnte, die ihm in die Wüste folgten und dann in Verlegenheit gerieten, wie sie sich sättigen sollten. Aber der Herr wusste einen Ausweg. „Mich erbarmt des Volkes“, das ist der Ruf des Heilandsherzens, „mich erbarmt des Volkes.“ Und dann setzte er seine Wunderkraft ein nicht, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen, sondern um die Hungernden zu befriedigen. Erbarmen mit leiblicher Not hat den Herrn zu diesem Wunder veranlasst. Aber wie bei allen Wundern verfolgt er damit einen höheren Zweck. Es geht nicht nur um die Sättigung Bedürftiger, nein, durch diese Tat will er eine Lehre geben. Eine Lehre, die er bereits früher mit den Worten angedeutet hatte: „Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und alles andere wird euch zugegeben werden.“

Was meint er mit dem Reich Gottes? Nun, im vollen Sinne ist das Reich Gottes der Zustand, der eintreten wird, wenn der Herr wiederkommt, die künftige Gottesherrschaft, der neue Himmel und die neue Erde, auf die wir warten – mit Zuversicht warten. Solange dieses Ereignis nicht eingetreten ist, bleibt das Heil unserer Seele im Himmel der Freuden verankert. Der Zustand, in den unsere Seele nach dem Tode zu Gott gehen wird, das ist unser augenblickliches Ziel. Es ist das allen Menschen vorgegebene und anzustrebende Ziel. „Das hab ich mir vorgenommen: In Himmel will ich kommen. Mag es kosten, was es will, für den Himmel ist nichts zu viel.“ Für den Jünger Christi gibt es also eine überragende Sorge: die um das Reich Gottes und die um das für das Eingehen in das Reich Gottes erforderliche Gerechtigkeit. Der gläubige Christ macht Gottes Sache zu seiner Sache. Er arbeitet für Gott, und er leidet für Gott. Ihm ist daran gelegen, dass Gottes Name verherrlicht und sein Wille getan wird. Gleichzeitig richtet er seine Lebens- und Handlungsverhältnisse darauf aus, dass er gewürdigt wird, an dem Reiche Gottes teilzuhaben. Der Herr hat keinen Zweifel an den Forderungen gelassen, die das Reich Gottes an die Menschen stellt. Wer an der Gottesherrschaft Anteil gewinnen will, der muss sie mehr als alles Irdische schätzen. „Das Himmelreich gleicht einem Schatz. Der Mann, der ihn gefunden hat, verkauft alles, was er hat, und erwirbt den Schatz.“ Er muss nach lauterer Gesinnung und vollkommener Tat streben, er muss in der radikalen Erfüllung des Willes Gottes, wenn nötig, auf alle irdischen Güter verzichten. Er muss in der Nachfolge Jesu zur Hingabe des Lebens bereit sein. „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert. Wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert. Wer sein Leben mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert.“ Gott beansprucht den Menschen ganz für sich und duldet keinen irdischen Konkurrenten neben sich.

Das soll keineswegs heißen, dass wir uns nicht um das sorgen sollen, was zum irdischen Leben notwendig ist. Die tägliche Berufsarbeit ist für uns alle eine heilige Pflicht. Das Suchen des Reiches Gottes und die Sorge für die Bedürfnisse des Lebens sind kein Widerspruch. Vielmehr ist nur der auf der Suche nach Gottes Reich, der auch den irdischen Notwendigkeiten Rechnung trägt, die ja ebenfalls von Gott gewollt sind. Wir dürfen nur nicht darüber die Wertordnung der Dinge vergessen. Wir dürfen nicht über dem Leibe die Seele vergessen. Die Sorge um die Seele, um das Heil der Seele, muss vielmehr an erster Stelle stehen; es muss unsere wichtigste und erste Sorge sein. Die Sorge um die irdischen Bedürfnisse darf nicht die Suche nach Gottes Willen übermächtigen. Wir dürfen nicht Gottes Gebote übertreten, weil uns die täglichen Notwendigkeiten in Atem halten. Es stimmt nicht, wenn Bertolt Brecht sagt: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ – es stimmt nicht. Das göttliche Sittengesetz gilt für die Hungernden genauso wie für die Satten. Aus der Pflicht gegen Gott wird man niemals entlassen weder im Wohlstand noch im Mangel. Das macht die Würde des Menschen aus, dass er sich stets, in allen Verhältnissen, unter allen Umständen an Gottes Gebot gebunden weiß. Wenn wir das tun, dürfen und sollen wir auch das Vertrauen haben, dass Gott uns in unseren leiblichen Bedürfnissen nicht im Stiche lassen wird. Er ist der Schöpfer und Erhalter der Menschen; er weiß, was der Mensch zum irdischen Leben braucht. Das Gottvertrauen, nicht die eigene Betriebsamkeit, ist es, die den Jünger ruhig macht. Freilich unnötige und überflüssige Dinge dürfen wir von Gott nicht verlangen. Unser Gottvertrauen muss mit der rechten Genügsamkeit verbunden sein. Es war ja kein üppiges Mahl, das der Herr den Volksscharen bot: Brot und ein wenig Fisch. Das ist der Grund so vieler Unzufriedenheit, dass Menschen oft weniger danach fragen, was sie wirklich unbedingt brauchen, sondern dass ihr begehrlicher Blick sich auf andere richtet, die mehr haben, denen es besser geht. Die Ansprüche an das Leben wachsen durch den Vergleich mit anderen, die besser in diesem Leben davongekommen zu seien scheinen. Der begehrliche Blick fremder Güter weckt in uns neue Bedürfnisse, neue Ansprüche an das Leben, Wünsche, die sich nicht erfüllen können. Das Geheimnis der Zufriedenheit liegt nicht im Besitz und im Genuss, sondern es liegt in der richtigen Unterscheidung dessen, was notwendig ist, und in der inneren Freiheit gegenüber den irdischen Gütern. Besitzen, als besäße man nicht, kaufen, als kaufte man nicht.

Es ist wahr, dass die Verkündiger des Reiches Gottes alles Mögliche tun sollen, um den Hörern des Wortes das Beispiel eines Lebens zu geben, das stets auf die jenseitige Welt ausgerichtet ist. Mir persönlich, meine lieben Freunde, hat das heilige Gesetz des Zölibates immer deswegen am meisten eingeleuchtet, weil es ein Verweis auf jene Wirklichkeit ist, wo sie nicht mehr freien noch gefreit werden. Wir sind frei für Gott, und wir sind ein Signal, ein Wegweiser in den Himmel durch unsere Lebensform. Von den Verkündigern des Reiches Gottes muss erwartet werden, dass sie ein anspruchsloses und bedürfnisloses Leben führen. Sie müssen durch ihre Lebensführung zeigen, dass sie auf das Reich Gottes hin unterwegs sind. Gute Priester waren immer genügsam und gebefreudig.

„Suchet zuerst das Reich Gottes.“ Es gibt kaum ein Wort in der Heiligen Schrift, das von den Wortführern des Marxismus, aber auch der diesseitigen Lebenskultur so oft und mit bitterem Hohn angeführt worden ist wie dieses Heilandswort. Immer wieder konnte man von ihnen hören, es sei so leicht und so bequem aus dem Wohlstande heraus, aus der Sicherheit heraus von der Sorge um das Reich Gottes zu reden. Das sei nichts anderes als Volksverdummung. Für die Armen gelte die Losung: Suchet zuerst euren Anteil an den Gütern der Erde, dann braucht ihr kein Reich Gottes mehr. Wir kennen dieses marxistische Evangelium der Erde. Ich habe es selbst noch als Knabe auf den Straßen meiner Heimat singen hören: „Uns hilft kein Gott und kein Tribun. Uns vom Elend zu befreien, das müssen wir selber tun.“ Wenn Armen und Mittellosen gepredigt wird: „Suchet zuerst das Reich Gottes“, so ist das kein Hohn auf ihre bedürftige Lage. Auch im Kampf ums Überleben bleibt das Reich Gottes der alles überragende Schatz. Wenn den Bedürftigen die Hoffnung auf das Jenseits gepredigt wird, dann ist das keine billige Vertröstung, sondern das ist die Verkündigung der Wahrheit. Der Herr hat selber so gepredigt in seinem Gleichnis vom reichen Prasser und vom armen Lazarus. Es ist auch nicht wahr, dass das Evangelium von der Sorge um das Reich Gottes aus gesichertem Wohlstand gepredigt wird. Es wird von jedem katholischen Priester gepredigt, der auf der Höhe seiner Berufung steht, ob er nun materiell gesichert ist oder nicht! Wer, irdisch gesehen, gut gestellt ist, hat das Reich Gottes nicht weniger zu suchen als der Bedürftige, aber er hat es vielleicht schwerer, es zu finden, weil ihm die irdischen Schätze allzu leicht zu genügen scheinen. Er kann über ihnen den Himmel vergessen. Gewiss, es ist wahr, einen Mensch, der unter dem Joch des Lebens gebeugt ist, der von schwerer Sorge um die Notdurft des Tages niedergedrückt ist, mag zuweilen ein Gefühl der Bitterkeit überkommen, wenn er auf die ewigen Güter hingewiesen wird, denn sie sind in der Zukunft; sein Leid ist in der Gegenwart. Aber jene, die den überragenden Wert der Gottesherrschaft verkündigen, haben die miserable Lage der Armen und Bedürftigen nicht verschuldet. Die Predigt vom Reich Gottes ist nicht am Elend der Massen schuld. Sodann gilt: Je mehr wir an irdischer Not leiden, umso dringender brauchen wir den Glauben an die ewigen Güter, brauchen wir das feste Vertrauen auf den Vatergott. Dadurch, dass man den Glauben an das ewige Leben wegwirft, wird die Last des irdischen Lebens nicht kleiner. Es ist auch nicht wahr, dass die Kirche, unsere Kirche, eine Kirche der Reichen sei. Die Reichen sind spärlich bei uns. Unsere Kirche ist im Wesentlichen eine Kirche der Armen und des unteren Mittelstandes. Diese Menschen machen die Masse unserer Gläubigen aus. Zu uns gehört das Dienstmädchen, nicht die gnädige Frau; bei uns ist der Pförtner, aber nicht der Direktor.

Die Kirche ist weit davon entfernt, den Menschen den Verzicht auf ein menschenwürdiges Dasein und einen vernünftigen Lebensgenuss zu predigen. Sie setzt vielmehr alles daran, das Leben der Menschen so zu gestalten, dass es ihnen nicht schwer fällt, die Gebote Gottes zu beobachten. Es gibt eine katholische Sozialethik, und diese wird seit zweihundert Jahren verkündet. Im 19. Jahrhundert waren es katholische Theologen und katholische Unternehmer, die beispielhaft gezeigt haben, wie die soziale Lage zu bessern ist. Die Sozialgesetzgebung Bismarcks ist von katholischen Parlamentariern an erster Stelle getragen worden. Als ich das einmal im Geschichtsunterricht vorbrachte, da fuhr mich der Lehrer an: „Wir treiben hier deutsche Geschichte und keine konfessionelle! Und wenn du das nicht willst, dann musst du dir eine andere Schule suchen.“ Er wollte nicht hören, dass katholische Sozialethik die Sozialgesetze Bismarcks zum großen Teil hervorgebracht hat. Die personellen und materiellen Mittel der Kirche sind begrenzt. Unsere Missionare sind wenig zahlreich und meistens überaltert. Das Geld fließt spärlich in die Missionsgebiete. Aber es ist und bleibt wahr: Die Kirche hat das geistige und materielle Wohl, hat die Bildung und den Fortschritt zahlloser Menschen zu einer Zeit vertreten, als das Wort „Entwicklungshilfe“ überhaupt noch nicht bekannt war. Und sie tut es heute noch. Wir haben jetzt die Fußballmeisterschaft in Brasilien erlebt. In Brasilien wirken viele katholische Orden selbstlos und beispielhaft. Die Salesianer, der Orden der Salesianer betreut in Brasilien 80 Standorte mit mehr als 250.000 Kindern und Jugendlichen – ein einziger Orden. Niemand tritt entschiedener für die Armen und Notleidenden ein als die Kirche. Niemand fordert nachdrücklicher soziale Gerechtigkeit und gegenseitige Hilfeleistung als die Kirche. Wenn sie dennoch so oft und eindringlich mahnt, zuerst das Reich Gottes zu suchen, so tut sie nichts anderes, als die Mahnung des Heilands zu wiederholen, der in der Wüste sprach: „Mich erbarmt des Volkes.“ Mag das irdische Leben noch so unmittelbar und brutal seine Forderungen an uns stellen, so bleiben doch die ewigen Güter unwandelbar bestehen, und sie müssen über alle Erdenzwecke hinaus unser letztes und höchstes Ziel bleiben. Sie sind kein Märchen, sondern sie sind Wirklichkeit. Manche Menschen vertreten den Standpunkt, ein solcher Glaube an Gottes Vorsehung und die Sorge um das Reich Gottes an erster Stelle führe zur Lebensverneinung. Dieser Glaube, so sagen sie, verlege das Schwergewicht des Menschendaseins ins Jenseits und hindere die Diesseitsaufgaben des Menschen in Familie, Beruf und Volk. Nichts ist falscher als diese Ansicht. Freilich ist das Diesseits für den gläubigen Christen nicht der Höchstwert, aber der Christ weiß, dass das Dasein auf Erden eine Aufgabe ist, und dass er das Reich Gottes nur erwerben wird, wenn er diese Aufgabe gut und vorbildlich gelöst hat. Der Gedanke an das Reich Gottes mindert nicht den Einsatz auf Erden, er intensiviert ihn. Durch die Erfüllung der irdischen Pflichten gehen wir in das Himmelreich ein. Wir verneinen nicht das Leben, wir bejahen es. Aber wir bejahen es unter dem Höchstwert des Reiches Gottes. Wir suchen die Harmonie zwischen dem Schaffen und Wirken und Erwerben auf Erden und dem Sehnen und dem Arbeiten für das Reich Gottes. In einem Kirchengebet des Kirchenjahres flehen wir zu Gott: „Lass uns dich in allem und über alles lieben.“ „In allem“, d.h. wir müssen alles auf Gott beziehen, „über alles“, d.h. wir dürfen Gott nichts vorziehen. „Suchet zuerst das Reich Gottes, und alles andere wird euch dazugegeben werden.“

Amen.                   

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