Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
11. März 2012

Die Evangelien: Mythos oder Geschichte?

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts lehrte in Tübingen ein evangelischer Theologe namens David Friedrich Strauss. In den Jahren 1835/36 ließ er ein Buch in zwei Bänden erscheinen „Das Leben Jesu“. Dieses Buch löste einen Sturm der Entrüstung aus. Denn in diesem Buche vertritt David Friedrich Strauss konsequent die mythologische Auslegung des Evangeliums. Das heißt, was die Evangelien berichten, das ist nach seiner Meinung zum größten Teil unhistorisch. Was in diesen Evangelien geschrieben steht, das sind poetische Gedanken, die man in Geschichte umgesetzt hat. Ideen, die man als Geschichte ausgibt. Geschichtsartige Einkleidungen von Gedanken, welche sich die Urgemeinde von Jesus gebildet hat. Es handelt sich bei den Evangelien um die absichtslos dichtende Sage, befestigt an der historischen Person Jesu von Nazareth. Die Erzählungen der Evangelien sind nach Strauss Erzeugnisse einer verklärenden Einbildung. Das Leben Jesu, wie es dort erzählt wird, zieht seine Nahrung aus der alttestamentlichen Prophetie, und die Messiashoffnung hat sich um den geschichtlichen Jesus gerankt. Was bleibt, ist der Mensch Jesus, der nach seinem Tode Gegenstand der Verehrung seiner Anhänger wird. Der Jesus der Geschichte hat mit dem Christus des Glaubens nichts zu tun.

Es ist offensichtlich, dass mit dieser Konstruktion der christliche Glaube bis ins Mark getroffen wird. Entsprechend heftig war die Reaktion. Strauss wurde vom Lehramt entfernt und lebte fortan als freier Schriftsteller. Das Jahr 1835 ist das Schicksalsjahr, ja das Revolutionsjahr der modernen Theologie. Sie werden fragen, weshalb ich Sie mit einem protestantischen Autor aus dem 19. Jahrhundert behellige. Meine lieben Freunde, die Antwort lautet: Weil die Ansichten von Strauss heute genau so aktuell sind wie vor knapp zweihundert Jahren. Viele protestantische Theologen haben sie mehr oder weniger übernommen und, Gott sei es geklagt, es scheint, dass auch manche katholische Theologen ihnen anhängen. Was Strauss erfunden hat, das wird heute in den Lehrsälen der Theologie ungehindert vorgetragen. Das nehmen die künftigen Priester und Religionslehrer auf. Das geben sie an die Gemeinden und an die Jugend weiter. Es braucht sich niemand über den Glaubensstand in unserem christlichen Volk zu wundern. Die Menschen sind voll Unsicherheit und Unentschiedenheit in Bezug auf die Religion erfüllt. Die Ansichten von Strauss sind in das gläubige Volk abgesunken.

Meine lieben Freunde, was sagen wir gläubigen Christen, was sagen wir gläubigen Theologen zu diesen Aufstellungen? Nun an erster Stelle: Mythos und Geschichte sind ohne jede Brücke voneinander getrennt. Mythos und Geschichte, Mythos und Offenbarung, können sich nicht miteinander vertragen. Der Mythos ist Dichtung, die Offenbarung ist Geschichte. Im Mythos werden Naturvorgänge, wie der Aufgang und der Untergang der Sonne, das Kommen und Gehen der Jahreszeiten, ins Göttliche verklärt. In der Offenbarung tritt Gott in geschichtlicher Stunde in diese Erde ein und verlässt seine Verborgenheit. Mythos und Offenbarung verhalten sich wie Ahnung und Erfüllung, wie Traum und Wirklichkeit, wie Andeutung und Ausführung. Die Gestalten des Mythos sind ein Bestandteil dieser Welt, sie sind aus der Erde genommen. Die Person des Offenbarers hat übernatürlichen Charakter. Der Mythos entsteht im Gehirn von Menschen. Die Offenbarung geschieht in der Macht Gottes. Die Autoren des Neuen Testamentes lassen keinen Zweifel daran, dass sie um den Unterschied von Mythos und Geschichte wissen. Der Apostel Paulus warnt in seinem ersten Brief an Timotheus davor, sich an Fabeln, Mythen zu halten. In seinem zweiten Brief wiederholt er die Warnung, sich Fabeln auszuliefern. Petrus erinnert seine Leser in seinem zweiten Brief: „Wir haben euch nicht als Anhänger von ausgeklügelten Fabeln die Macht und die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus kundgemacht, sondern weil wir Augenzeugen seiner Größe waren.“ Fabeln sind mythische Vorstellungen, wie sie in der damaligen Welt umliefen, in orientalischen Religionen, im Hellenismus, auch bei den Germanen. Die Offenbarung ist das Gericht über den Mythos. Die Götter der Mythen sind ein Bestandteil dieser Welt. In sie haben die Menschen ihre eigenen Vorstellungen, Gedanken, Befürchtungen und Hoffnungen hineinprojiziert. Der Gott der Offenbarung ist über die Welt erhaben, er ist transzendent – das ist das entscheidende Wort, er ist überweltlich, er hat mit der Welt nichts zu tun. Er ist der ganz andere. Die Mythen spiegeln Naturvorgänge wieder, ein ewiges Kommen und Gehen, die Wiederkehr von Entstehen und Vergehen. Die Offenbarung ist einmalig. Wenn von den Mythen gilt: immer wieder und niemals, dann gilt von der Offenbarung „Ephapax“, so heißt das griechische Wort, „ein für alle mal“ – „Ephapax“.

Strauss hat in seinem Buche – ich habe es gelesen – Strauss hat in seinem Buche dann behauptet, dass die Anhänger Jesu die Lebensgeschichte des Herrn erst nachträglich dem Messiasideal des jüdischen Volkes entsprechend idealisiert haben. Das stimmt nicht. Der Messias, den das jüdische Volk in seinen Hoffnungen in sich trug, ist von dem Messias, der in Christus erschienen ist, völlig verschieden. Die Juden hofften auf einen glorreichen Herrscher, der die Besatzungsmacht aus dem Lande treibt, der ein großes jüdisches Reich errichtet. Jesus entsprach diesem Messiasbild in keiner Weise. Gerade das Gegenteil ist der Fall: Ein gekreuzigter Messias war für die Juden unverständlich, unbegreiflich, unmöglich. „Den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit“, schreibt Paulus im ersten Korintherbrief. Das postulierte Messiasideal ist auf Jesus nicht übertragbar. Das Evangelium bietet keine Anhaltspunkte für eine vorsätzliche Idealisierung Jesu. Jesu Messianität war von dem jüdischen Ideal so weit entfernt, wie man sich nur vorstellen kann. Strauss kommt dann zu sprechen auf die Entstehung der Mythen. „Ja“, sagt er, „die Mythen sind in der apostolischen Zeit in die kirchliche Überlieferung übernommen worden. Am Ende des ersten Jahrhunderts waren alle Apostel gestorben. Dann haben die sogenannten Evangelisten fragmentarische Aufzeichnungen der Apostel mit eigenen erfundenen Geschichten kontaminiert, vermischt und schriftlich frisiert.“ Die Idealisierung des Lebens Jesu ist nach Strauss in der Zeit nach den Aposteln vollzogen worden.

Meine lieben Freunde: In der Zeit der apostolischen Väter waren die Evangelien längst geschrieben. Sie wurden ja bei der Gottesdienstfeier vorgelesen, wie wir wissen. Ein Eindringen von Erzählstoff aus nichtapostolischer Zeit war ganz unmöglich. Die vier unverfälschten Evangelien hatten bereits um die Mitte des zweiten Jahrhunderts weite Verbreitung und allgemeine Anerkennung gefunden. Ihre Entstehung ist viel früher, als Strauss zugeben mag. Es ist von vornherein wahrscheinlich, dass sogleich nach der Himmelfahrt des Herrn Aufzeichnungen seines Lebens vorgenommen wurden. Man wollte doch die Christen, die werdenden Christen, unterrichten von dem, was die Augenzeugen erlebt hatten. Es ist doch selbstverständlich, dass die Augenzeugen größten Wert darauf legten, das festzuhalten, was sie gesehen und gehört hatten. Die Evangelien verarbeiteten Zeugnisse der ersten Generation. Man hat nicht gewartet, bis die Augenzeugen gestorben sind. Die Spätdatierung der Evangelien ist nicht zu halten, sowohl aus inneren wie aus äußeren Gründen. Die textgeschichtlichen und historischen Anzeichen sprechen für die Entstehung der Evangelien im Zeitalter der Augenzeugen, vor der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. Sie sind wahrscheinlich entstanden in den vierziger und fünfziger Jahren des ersten Jahrhunderts. Die späte Datierung achtzig bis hundert n. Chr. ist falsch. Sie wird von einer Ideologie eingegeben, nämlich von der Ideologie, dass Jesus keine Weissagungen gemacht haben kann, also auch nicht die Zerstörung Jerusalems angekündigt haben kann.

Im Jahre 1955 hat man in einer Qumranhöhle in Palästina ein Bruchstück des Markusevangeliums gefunden, das mit Sicherheit datiert wird auf die Jahre vor 68. Ein Papyruskodex, der in Ägypten gefunden wurde, stammt aus der Zeit vor 70. Wenn es der Kirche darauf angekommen wäre, noch so viele Äußerungen über die Person und das Wirken Jesu vorzulegen, dann hätte sie sich an die zahlreichen nichtapostolischen, nicht als echt anerkannten apokryphen Schriften halten können. Solche liefen in großer Zahl um. Sie behandelten mit Vorliebe die Zeitabschnitte Jesu, über die die Evangelisten schweigen, seine Jugendjahre, seine Lehrtätigkeit und seine Lehre nach seiner Auferstehung. Für die historische Kenntnis Jesu bieten diese Schriften nichts. Die Kirche hat sie verworfen. Ihre Botschaft beruht nicht auf Phantasien, sondern auf Tatsachen.

Strauss geht dann auf einzelne Probleme der Geschichte Jesu ein. Er bestreitet zum Beispiel die Tatsache der Volkszählung zur Zeit der Geburt Jesu. Womit bestreitet er sie? Der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus hätte eine solche Aktion nicht unerwähnt gelassen. Er bedient sich also des „argumentum esilentio“, also des Beweismittels des Schweigens: Weil etwas nicht berichtet wurde, ist es nicht geschehen. Ja, meine lieben Freunde, das ist das unsicherste Beweismittel, das es überhaupt gibt! Es könnte nur dann herangezogen werden, wenn ein Geschichtsschreiber etwas hätte berichten müssen und es nicht berichtet hat. Dann wäre das Argument durchschlagend. Aber das ist hier nicht der Fall. Flavius Josephus bietet Ausschnitte aus den Geschehnissen seiner Umgebung. Und wir wissen aus anderen Quellen, dass solche Aufschreibungen, solche Volkszählungen, stattgefunden haben. Sueton – das ist der Geschichtsschreiber der Römischen Kaiser – Sueton berichtet, dass Augustus nach den langen Bürgerkriegen wieder Volkszählungen abhalten ließ. Wir haben auch Papyri in Ägypten gefunden, die zeigen, dass sich die Bevölkerung Ägyptens, das ja zum Römischen Reich gehörte, alle 14 Jahre einem Zensus unterwerfen musste. In diesen Papyri steht auch geschrieben, dass die verheirateten Frauen mit ihrem Manne zu diesem Zensus erscheinen mussten. Auch das passt zur evangelischen Geschichte.

Strauss wendet sich dann dem Kindermord in Bethlehem zu. Auch das, sagt er, ist unhistorisch, denn Flavius Josephus, der jüdische Geschichtsschreiber, berichtet davon nichts. Aber er berichtet von der Gewissenlosigkeit des Herodes. „Er war ein Mann“, schreibt Josephus, „der gegen alle ohne Unterschied mit gleicher Grausamkeit wütete, im Zorn kein Maß kannte und sich über Recht und Gerechtigkeit erhaben dünkte.“ Der Kindermord von Bethlehem war dagegen eine Bagatelle. Herodes hat zwei seiner Söhne umbringen lassen. Die Geschichte vom Kindermord in Bethlehem passt ausgezeichnet zum Charakterbild des Herodes.

Strauss bezweifelt natürlich auch die Geschichte von dem wandernden Stern, der die Weisen aus dem Morgenland nach Bethlehem geführt hat. „Wie hätten“, so schreibt er, „wie hätten heidnische Sterndeuter aus dem fernen Persien von der Geburt eines jüdischen Königs in Bethlehem erfahren sollen. Was hätte sie veranlassen können, deshalb eine so weite Reise zu unternehmen, um ihm ihre Verehrung zu erweisen?“ – Meine lieben Freunde: Der Stern von Bethlehem war ein außergewöhnliches Naturereignis. Die Astrologen der damaligen Zeit verbanden mit einem so seltenen Phänomen von vornherein die Geburt eines bedeutenden Herrschers. Die Sterndeuter des Altertums hatten die Erdoberfläche entsprechend den 24 Sternbildern in ebenso viele Sektoren unterteilt. Und deshalb konnte man – je nachdem, in welchem Sternbild eine auffällige Konstellation zu beobachten war – ermitteln, für welche Gegend der Welt dieses Himmelszeichen von Bedeutung war. Und in diesem Falle war es eben Palästina. Und die Weisen nahmen diese weite Reise auf sich, weil sie einen Beweis für die Richtigkeit ihrer Theorie haben wollten. Der Stern führte sie ins Land der Juden, und dort erkundigten sie sich nach dem Ort, wo der Messias geboren werden sollte, und das war Bethlehem. Und so zogen sie nach Bethlehem und fanden, was sie suchten. Es besteht nicht der geringste Anlass, die Historizität dieser Angelegenheit zu bezweifeln.

Strauss gründete dann seine Angriffe gegen die Geschichtlichkeit der Evangelien auf angebliche Widersprüche. So berichtet Matthäus, dass Josef und Maria mit dem Jesuskind von Bethlehem nach Ägypten geflohen sind, um der Verfolgung durch Herodes zu entgehen. Nach dem Tode des Herodes kehrten sie in ihre Heimatstadt Nazareth zurück. Lukas dagegen erzählt, dass die Eltern Jesus zur Darstellung in den Tempel brachten, als die Tage der Reinigung vorüber waren. Im Tempel sollte man nach vierzig Tagen erscheinen. „Wenn Josef mit Frau und Kind“, so sagt Strauss, „wenn Josef mit Frau und Kind nach Ägypten geflohen ist, wie kann er dann nach Jerusalem ziehen, vierzig Tage nach der Geburt?“ Meine lieben Freunde, der Hass sieht scharf, aber er sieht nicht scharf genug. Strauss hat die Evangelien nicht sorgfältig genug gelesen. Wieviel Zeit ist seit der Geburt Jesu vergangen, als die Magier kamen? Die Ankunft der Magier fällt in eine erheblich spätere Zeit als die Geburt Jesu. Das ist schon daraus zu erkennen, dass die Heilige Familie sich nicht mehr in der Geburtsgrotte, sondern in einem Hause befand. Sie waren umgezogen. Es ist gar keine Schwierigkeit, die Darstellung Jesu im Tempel vierzig Tage nach der Geburt festzuhalten, denn die Flucht der Heiligen Familie liegt natürlich nach der Ankunft der Magier, also auch lange Zeit nach der Darstellung im Tempel. Ich sage noch einmal: Der Hass sieht scharf, aber nicht scharf genug!

Weitere Gegensätze meint Strauss zu finden, wenn er auf die Unterschiede zwischen den Synoptikern, also den drei ersten Evangelien, und Johannes hinweist. „Die drei ersten Evangelien“, sagt er, und das ist ihm auffällig, „beschäftigen sich vor allem mit Vorgängen in Galiläa, während Johannes größtenteils von Geschehnissen in Judäa und Jerusalem erzählt. Johannes berichtet von drei Besuchen Jesu in Jerusalem, die Synoptiker nur von einem.“

Meine lieben Freunde, das sind Unterschiede, aber keine Widersprüche. Es trifft nicht zu, dass Johannes die galiläische Wirksamkeit Jesu kaum berücksichtigt. Die Kapitel 4 und 6 sind voll damit. Sie befassen sich eben mit der galiläischen Wirksamkeit. Er berichtet aus dieser Zeit die Wunder der Brotvermehrung und des Seewandelns, und auch nach seinem ersten Besuch in Jerusalem kehrte Jesus nach Galiläa zurück. Danach wirkt er in Judäa, in Jerusalem, im Ostjordanland und in Bethanien. Man kann annehmen, dass Johannes, der doch höchstwahrscheinlich sein Evangelium als letzter schrieb, dass Johannes die Berichte der anderen Evangelien ergänzen, auffüllen wollte. Die drei ersten Evangelien begnügen sich damit, nur von einem Aufenthalt in Jerusalem zu berichten. Aber es gibt Stellen, die zeigen, dass sie auch von mehreren Aufenthalten wissen, denn die Synoptiker bringen ein Wort Jesu, in dem es heißt, „Jerusalem, Jerusalem, wie oft wollte ich deine Kinder sammeln.“ Also nicht nur einmal. Auch sie wissen von mehreren Aufenthalten Jesu in Jerusalem.

Natürlich sind die Wunder Jesu erfunden nach Strauss. Was heute nicht mehr passiert, das kann damals auch nicht passiert sein. Das ist ungefähr das Dogma, dem er anhängt. Meine lieben Freunde: Wundertaten bilden nach allen vier Evangelien einen wesentlichen Bestandteil des öffentlichen Wirkens Jesu. Es hat nie eine Überlieferung von Jesus gegeben, die ohne Wunder ausgesagt worden wäre. Wir kennen Jesus als Wundertäter oder wir kennen ihn überhaupt nicht. Seine Lehrtätigkeit und seine Wunder bilden eine untrennbare Einheit. Jesus zog durch alle Dörfer und Städte, lehrte in ihren Synagogen, verkündigte die Frohbotschaft vom Reiche Gottes, heilte jegliche Krankheit und jegliches Gebrechen. Jesus selbst weist in seinen Reden immer wieder auf die Wunder hin als Beglaubigung seiner Sendung. „Wenn ihr meinen Worten nicht glaubt, so glaubt doch meinen Taten!“ Das Argument ist ja sinnlos, wenn er keine Wunder gewirkt hätte. Die Gegner Jesu leugnen auch nicht die Wunder Jesu. Wir haben es eben im Evangelium gehört: „Er treibt durch Beelzebul den Teufel aus!“ Sie verdächtigen nur seine Wunder. Sie verdächtigen ihn des Bündnisses mit dem Satan. Sie leugnen seine Wunder nicht. Das machen nur moderne Exegeten, wie der Herr Strauss. Manche Reden Jesu sind überhaupt ohne die Voraussetzung der Wunder nicht zu verstehen. Man kann auch die Wunderberichte nicht psychologisch deuten, etwa durch eine psychogene, suggestive Heilmethode. Wie kann man Aussatz oder Lähmung mit Suggestion heilen? Manchmal ist es gar nicht der Glaube des Gelähmten, sondern der Glaube anderer, der Jesus zu einem Wunder veranlasst. „Als er ihren Glauben sah“, heißt es bei dem Gelähmten, als er ihren, also der Umstehenden Glauben sah. In manchen Fällen ist das Wunder aus der Ferne gewirkt worden. Jesu war gar nicht anwesend, als das Wunder geschah.

Selbstverständlich gibt es auch wenigsten einen Wunderbericht, der uns merkwürdig vorkommt. Es ist der Gerasener, der Mann aus Gerasa, er wohnte in den Höhlen und schlug sich mit Steinen, hatte also eine schlimme Besessenheit in sich. Jesus lässt sich auf ein Zwiegespräch mit ihm ein. Er fragt ihn „Wie heißt du?“ Die Antwort ist: „Legion.“ Also in ihm waren mehrere Dämonen. Die Dämonen bitten, in die Schweineherde fahren zu dürfen. Jesus gewährt es ihnen. Die Schweine stürzen einen Abhang hinunter. Ein Riesenverlust für die Hirten. Und dazu passt es auch, dass sie sagen, Jesus möge schnell weiterziehen. Meine lieben Freunde. Diese Begebenheit mag als anstößig empfunden werden, aber für mich ist es Beweis für die Zuverlässigkeit der Evangelisten, dass sie selbst dieses Begebnis erzählen. Sie hätten es ja weglassen können. Dann wäre das Anstößige vermieden worden. Aber nein – sie berichten es, weil sie wahrhaftige Zeugen vom Leben und Wirken des Heilandes sein wollen.

Selbstverständlich haben für Strauss die Totenerweckungen niemals stattgefunden. Er sagt: „Man kann eine Steigerung in den Totenerweckungen beobachten. Erste Erweckung: Jesus holt die Tochter des Jairus auf dem Sterbelager ins Leben zurück. Zweite Erweckung: Jesus erweckt den Jüngling zu Naim auf dem Wege zum Grab. Dritte – letzte Steigerung: Lazarus wird aus dem Grabe geholt, in dem er schon mehrere Tage liegt.“

Meine lieben Freunde: Von einer Steigerung könnte nur dann die Rede sein, wenn die drei Totenerweckungen in ein und demselben Evangelium aufträten, das ist aber nicht der Fall. Die Erweckung des Jünglings von Naim steht nur bei Lukas und die Erweckung des Lazarus steht nur bei Johannes. Außerdem ist selbst bei Lukas, der ja die Erweckung des Töchterleins des Jairus berichtet, gar keine Steigerung im Sinne von Strauss festzustellen, denn bei ihm wird zuerst der Jüngling von Naim auferweckt und dann erst das Töchterlein des Jairus. Also die Steigerung, die Strauss behauptet, ist nicht zu finden.

Genug! „Das Leben Jesu“ von David Friedrich Strauss ist ein Werk, welches die Fundamente des christlichen Glaubens zerstört. Die Aufstellungen von Strauss sind die eines Mannes, der den christlichen Glauben verloren hat, aber zunächst an dem Christentum noch festhalten wollte. Erst im Laufe der Entwicklung ist er weitergeschritten auf dem Wege des Abfalls. 1872 – also Jahrzehnte später – vollzog er die völlige und förmliche Absage an das Christentum. Seine Weltanschauung war jetzt auf Humanität, Genuss von Musik und Literatur, Darwinismus und Bürgerlichkeit gegründet. Er hatte selbst den Glauben an Gott verloren. An Strauss ist zu beobachten, was geschieht, wenn man aus dem Gebäude des Glaubens einen Stein herausreist. Der Zerfall setzt sich fort. Es folgen Einbrüche, bis zum Schluss das ganze Gebäude einstürzt. Auf die Frage, ob wir noch Christen sein können, hat Strauss klipp und klar geantwortet: „Nein!“ Die Bestreitung der Geschichtlichkeit der Evangelien lässt redlicherweise ein Christentum nicht mehr zu. Auf Umdeutungen der biblischen Geschichte lässt sich das Christentum nicht gründen.

Sie, meine lieben Freunde und Ihre Kinder, sind den Angriffen des Unglaubens ausgesetzt. Lassen Sie sich nicht irre machen. Die Auflöser und Zersetzer der christlichen Heilsbotschaft haben nicht Recht. Die gläubigen Theologen sind um Argumente, die sie ihnen entgegenhalten können, keineswegs verlegen. Es gibt keine unüberwindlichen Schwierigkeiten, Probleme der Interpretation so zu lösen, dass der Glaube davon unberührt bleibt. Die Heilige Schrift enthält genug Klarheit, um die Auserwählten zu erleuchten, und genug Dunkelheit, um sie demütig zu machen. Sie enthält auch genug Dunkelheit, um die Verstockten zu verblenden, und genug Klarheit, um sie zu verdammen und unentschuldbar zu machen. Unser Glaube beruht auf Tatsachen, nicht auf Märchen. Die Gewährsmänner unseres Glaubens sind wahrhaftige Augenzeugen. Wer nicht von Vorurteilen befangen ist, der nimmt ihr Zeugnis an.

Amen.

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