Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
21. November 2010

Geistliche Zurechtweisung – Werk der Barmherzigkeit

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Sie haben alle schon von den Werken der Barmherzigkeit gehört. Die Kirche unterscheidet Werke der leiblichen und der geistlichen Barmherzigkeit. Die Werke der Barmherzigkeit zusammengefaßt sind die praktischen Äußerungen der Nächstenliebe, und wer sie übt, der kann gewiß sein, dass er seinen Nächsten im Sinne des Herrn liebt.

Die Werke der geistlichen Barmherzigkeit sind von besonderer Art. Sie lauten: Die Sünder zurechtweisen, die Unwissenden lehren, den Zweifelnden recht raten, die Betrübten trösten, Unrecht geduldig leiden, Beleidigungen gern verzeihen, für die Lebenden und für die Verstorbenen beten. Wir wollen am heutigen Sonntag uns mit einem einzigen dieser geistlichen Werke der Barmherzigkeit befassen, nämlich mit der geistlichen Zurechtweisung. Die Zurechtweisung ist das Aufmerksammachen eines anderen auf einen Fehler, auf eine Sünde. Wir unterscheiden die brüderliche und die autoritative Zurechtweisung. Brüderliche Zurechtweisung, zu der wir alle gerufen sind, autoritative Zurechtweisung, die den Oberen, den Vorgesetzten obliegt. Wir unterscheiden auch die Zurechtweisung als Pflicht und als Empfehlung. Die Pflicht ist selbstverständlich strenger, die Empfehlung ist nicht so streng.

Die Heilige Schrift weist an vielen Stellen auf die brüderliche und auf die autoritative Zurechtweisung hin. Schon im Alten Bunde heißt es: „Wenn du den Freund zurechtweisest, dann tue es, weise ihn zurecht, damit er nicht ohne Einsicht bleibe und sage: Ich habe es nicht getan. Oder wenn er es getan hat, dass er es nicht wieder tut.“ An einer anderen Stelle heißt es: „Weise deinen Bruder zurecht! Du sollst ihn nicht im Herzen hassen, sondern weise ihn zurecht, so dass du seinetwegen keine Sünde auf dich lädst“– auf dass du seinetwegen keine Sünde auf dich lädst. Wir sehen, die Pflicht zur Zurechtweisung kann so ernst sein, dass man schuldig wird, wenn man sie unterläßt. Zurechtweisung kann Pflicht sein.

Im Evangelium ist immer wieder von dieser Verpflichtung zur Zurechtweisung die Rede. „Wenn dein Bruder wider dich gefehlt hat, so weise ihn zurecht zwischen dir und ihm allein. Wenn er dich hört, so hast du deinen Bruder gewonnen. Wenn er dich aber nicht hört, dann nimm noch einen oder zwei mit dir und weise ihn so zurecht, dass es durch den Mund zweier oder dreier Zeugen feststehe, dass du ihn zurechtgewiesen hast. Wenn er auch diese nicht hört, dann sage es der Kirche“, also den Vorgesetzten. „Hört er aber auch die Kirche nicht, dann soll er sein wie ein Sünder und Zöllner und wie ein Heide.“ Das Evangelium bietet einen ergreifenden Fall einer Zurechtweisung. Am Kreuze hingen neben dem Heiland zwei Verbrecher. Der eine von ihnen lästerte den Herrn. Das war dem anderen gar nicht recht. Er sagte zu ihm: „Bist du recht bei Troste?“ Der andere hatte nämlich gesagt zum Heiland: „Wenn du der Messias bist, dann hilf dir und uns!“ Der rechte Schächer sagte zu ihm: „Fürchtest auch du Gott nicht? Wir leiden, was wir verdient haben, aber dieser hat nichts Böses getan.“ Das war eine Zurechtweisung im Angesichte des Todes.

Auch beim heiligen Paulus findet sich die doppelte Weise der Zurechtweisung, nämlich die brüderliche und die autoritative. Er schreibt einmal im ersten Korintherbrief: „Wenn ein Glied gefährdet ist, dann leiden alle mit“, sind also besorgt um sein Heil. An anderer Stelle schreibt er an Timotheus, der ja Bischof war in Ephesus: „Weise die Sünder zurecht im Angesichte aller, damit auch die übrigen sich fürchten.“ Und im Brief an die Thessalonicher heißt es noch einmal: „Weiset die Unordentlichen zurecht!“ Die alte Kirche hat die Pflicht zur Zurechtweisung sehr ernst genommen. In der Zwölfapostel-Lehre aus dem 2. Jahrhundert heißt es: „Weiset einander zurecht, nicht im Zorn, sondern im Frieden!“ Die Notwendigkeit der Zurechtweisung läßt sich leicht begreifen. Es wäre ein grausamer Mensch, der einen Blinden, der am Rande eines Abgrundes steht, nicht zurückreißt. Es ist unsere Verantwortung für den Bruder und für die Schwester, die uns zwingt, Zurechtweisung zu üben. Wer etwas bessern will und es vernachlässigt, den anderen zurechtzuweisen, der hat Anteil an seiner Sünde.

Die Voraussetzungen zur Zurechtweisung sind die folgenden. Im allgemeinen besteht die Pflicht zur Zurechtweisung nur bei Sünden. Aber nicht nur bei schweren Sünden. Auch läßliche Sünden können sich auswachsen und zu schweren Sünden werden. Deswegen meine ich, wir sind, jedenfalls unter bestimmten Umständen, auch verpflichtet, bei läßlichen Sünden Zurechtweisung zu üben. Wie, das werden wir noch sehen. Aber die Zurechtweisung kann eine Pflicht sein, nicht nur bei schweren, sondern auch bei läßlichen Sünden. Als Empfehlung geht die Zurechtweisung viel weiter. Sie ist eine notwendige Maßnahme der Erziehung. Wie soll denn jemand erzogen werden, ohne dass er zurechtgewiesen wird? Also auch wo keine Sünde vorliegt, bedürfen die Menschen der Zurechtweisung. Man denke an die Tischsitten, an die Körperpflege, an die Kleidung, an den Umgang mit den Menschen. Träger der Zurechtweisung ist jeder Mensch ohne Ausnahme. Alle sind wir gehalten, Zurechtweisung zu üben. Allerdings in einer bestimmten Reihenfolge. Es gibt Menschen, die uns mehr anvertraut sind als andere: Mann und Frau, die Kinder, die Eltern, die Verwandten, die Freunde, die Arbeitskollegen, die Landsleute, die uns zur Erziehung Anvertrauten. Das alles sind Menschen, denen wir die Zurechtweisung schulden. Vor allem aber sind die Vorgesetzten aufgerufen, Zurechtweisung zu üben. Sie dürfen sich nicht mit der brüderlichen Zurechtweisung begnügen, sie müssen die väterliche Zurechtweisung üben und die autoritative Zurechtweisung. Die Unterlassung der Zurechtweisung ist die spezifische Versuchung der Vorgesetzten. Warum? Alle Menschen wollen beliebt sein. Durch Zurechtweisung wird man nicht beliebt, macht man sich unbeliebt. Durch Zurechtweisung erwirbt man sich keine Freunde. Die Menschen wollen aber Freunde haben. So liegt die Versuchung nahe, die Zurechtweisung zu unterlassen. Auf diese Weise wird man beliebt und scheint man sich Ruhe zu verschaffen. Aber dagegen erhebt der heilige Augustinus Einspruch, wenn er sagt: „Alles schleifen lassen und allem durch die Finger sehen, ist nicht Liebe, sondern Feigheit.“

Eine weitere Bedingung zur Zurechtweisung ist, dass die Sünde des anderen moralisch gewiß ist. Was heißt das: moralisch gewiß? Nun, es darf kein vernünftiger Zweifel daran bestehen. Man muss die Sünde so kennen, dass man überzeugt ist: Jawohl, sie liegt tatsächlich vor. Als Privatperson braucht man nicht nachzuforschen, aber als Autoritätsperson muss man nachforschen, muss man Aufsicht üben, muss man Kontrollen vornehmen. Weil die Vorgesetzten in unserer Kirche jahrzehntelang die Aufsicht und die Kontrollen haben schleifen lassen, weil sie es jahrzehntelang versäumt haben, Zurechtweisung zu üben, deswegen ist es zu der Auflösung und Zersetzung gekommen, die wir jetzt beklagen. Willkürlichkeit in der Liturgie, Unterlassung der Spendung und des Empfanges des Bußsakramentes, unzulässige gottesdienstliche Gemeinschaft mit Nichtkatholiken, das alles sind Fehler, die nicht gerügt wurden. An der Universität Saarbrücken, meine lieben Freunde, bestand eine Sektion „Katholische Theologie“. Dort sollten mehrere Professoren den Glauben vertreten, aber einige haben den Unglauben vertreten. Der Bischof von Trier, Spital,  wurde wiederholt aufmerksam gemacht auf diese Vorgänge. Er hat nichts unternommen! Jetzt ist der eine von diesen Professoren aus der Kirche ausgetreten.

Im allgemeinen braucht man die Zurechtweisung nur vorzunehmen, wenn auf einen Erfolg zu hoffen ist. Wenn es ganz aussichtslos ist, sind wir nicht verpflichtet, die Zurechtweisung vorzunehmen, aber wir dürfen sie vornehmen. Es ist eine Empfehlung, sie besteht weiter. Aber die Pflicht zessiert wohl, jedenfalls nach der Meinung der meisten Moraltheologen, wenn kein günstiger Erfolg zu erhoffen ist.  Das gilt aber nur für die private Zurechtweisung. Vorgesetzte müssen die Zurechtweisung auch dann üben, wenn kein Erfolg zu hoffen ist, denn die Zurechtweisung gehört zu den Pflichten des Amtes. Es gibt auch eine Pflicht, Schuldige unentschuldbar zu machen. Jawohl, die gibt es, eine Pflicht, Schuldige unentschuldbar zu machen. Das steht sogar in der Heiligen Schrift. Im Römerbrief weist der heilige Paulus an zwei Stellen darauf hin, dass Gott sich den Menschen durch seine Naturoffenbarung gezeigt, geoffenbart hat und dass er sie dadurch unentschuldbar macht. Sie können nicht sagen, sie haben nichts von ihm gewußt. Er hat sich ihnen geoffenbart. Menschen, die Kirche, müssen an dieser Aufgabe teilnehmen, Gottes Herold sein, und Menschen, die schuldig geworden sind, unentschuldbar zu machen. Als der Bischof von Münster, Graf von Galen, im Jahre 1941 seine Stimme erhob gegen die Tötung von Geisteskranken, da konnte er auf Erfolg seiner öffentlichen Anklage kaum hoffen. Und doch hat er sie nicht unterlassen. Tatsächlich ging auch die Aktion weiter, nur dann im geheimen. Es wurden weiter Geisteskranke gemordet. Aber Galen hat den Unschuldigen eine Stimme verliehen, und er hat die Schuldigen unentschuldbar gemacht.

Damit die Zurechtweisung zur Pflicht wird, muss die Notwendigkeit des brüderlichen Einschreitens zum Zweck der Besserung vorhanden sein. Wenn der Fehlende selbst auf seine Fehler aufmerksam wird, oder wenn andere diese Aufgabe übernehmen, dann dürfen wir uns davon entschuldigt halten. Wenn Personen, die näher stehen, diese Aufgabe übernehmen, die ja ebenso wie wir und noch mehr zur Mahnung gerufen sind, dann dürfen wir die Zurechtweisung unterlassen. Aber häufig ist niemand da, der die undankbare Aufgabe der Zurechtweisung auf sich nimmt. Man will sich mit niemand anlegen, man möchte friedlich und harmonisch mit allen zusammenleben. Und um das zu erreichen, schweigt man zu Fehlern und Fehltritten des anderen. Deswegen stellt sich für den katholischen, für den gewissenhaften katholischen Christen häufig die Pflicht, die Notwendigkeit zur Zurechtweisung.

Die Moraltheologen sagen auch noch, dass nur dann eine Pflicht zur Zurechtweisung besteht, wenn die Zurechtweisung moralisch möglich ist. Was heißt das, moralisch möglich? Das heißt: Sie muss zumutbar sein, sie darf für den Zurechtweisenden nicht eine allzu schwere Last sein, sie darf ihn nicht zu viel kosten. Sie verpflichtet ihn nicht zu außerordentlichen Opfern, aber die Entschuldigung darf auch nicht zu weit gehen, denn eine gewisse Peinlichkeit und Scheu ist bei jeder Zurechtweisung vorhanden. Was von dem Einzelnen gilt, das gilt nicht von den Vorgesetzten. Vorgesetzte müssen tadeln, mahnen, warnen, auch wenn dies zu ihrem Schaden ausschlägt. Die Machthaber bedrohen ja diejenigen, die sie zurechtweisen. Johannes der Täufer büßte seine Zurechtweisung mit dem Tode.

Wer Zurechtweisung vornimmt, sollte auch geneigt sein, sie anzunehmen. Niemandem ist eine Zurechtweisung angenehm. Jedem ist sie peinlich, schmerzlich. Aber es ist notwendig, Zurechtweisungen anzunehmen. Wir müssen uns dazu stellen, wir brauchen die Einsicht, dass Zurechtweisungen notwendig sind. Sie schützen uns vor Nachlässigkeit, vor dem Sichgehenlassen. Wer uns zurechtweist, tut uns etwas Gutes. In der Heiligen Schrift des Alten Bundes heißt es: „Ein kluger und gesitteter Mann murrt nicht, wenn er zurechtgewiesen wird.“ Ein kluger und gesitteter Mann murrt nicht, wenn er zurechtgewiesen wird. An einer anderen Stelle: „Wer Zurechtweisung haßt, wandelt in den Spuren des Sünders. Wer aber Gott fürchtet, nimmt sie sich zu Herzen.“ Wir haben im Alten Bunde ein hervorragendes Beispiel der angenommenen Zurechtweisung. König David hatte die Begierde nach einer schönen Frau, die aber einem anderen gehörte, dem Urias. Der Urias stand im Felde, und der David war zu Hause. Er ließ die Frau kommen, er verging sich mit ihr, sie wurde schwanger. Jetzt bekam er es mit der Angst zu tun. Er ließ den Offizier Urias aus dem Felde zurückrufen und befahl ihm, er solle in seine Gemächer gehen, mit seiner Frau schlafen. Weit gefehlt. Der Urias sagte: „Meine Soldaten draußen liegen im Felde, und ich soll ins Gemach gehen? Das tue ich nicht.“ Der Versuch des Königs, seine Sünde zu verdecken, war also gescheitert. Da griff er zu einem anderen Mittel. Er befahl dem Feldherrn Joab, er solle den Urias an eine gefährliche Stelle des Kampfes stellen, und dann solle man ihn allein lassen, damit die Feinde ihn töten. So geschah es. David war also schuldig an dem Tode dieses Mannes. Da kam anderen Tages der Prophet Nathan zu ihm und fragte, ob er ihm etwas unterbreiten dürfe. „Ja“. „Es war ein Mann“, sagte er, „der hatte viele Schafe, und ein anderer, der hatte nur ein einziges Schäflein, mit dem er schlief und es war bei ihm in seiner Wohnung. Als der reiche Mann einen Besuch bekam, da nahm er dem armen Mann das Schaf weg, um es dem Besuch vorzusetzen.“ Der König war empört. „Wer ist dieser Mann?“ „Das bist du!“ Und dann hielt er ihm sein Verbrechen vor. Das war Zurechtweisung durch den Propheten Nathan. Der König ging in sich und sagte: „Ich habe gesündigt.“ Die Zurechtweisung hatte gefruchtet.

Wenn wir Zurechtweisung üben, müssen wir es in der rechten Ordnung tun, also gewöhnlich zuerst unter vier Augen. Zur vorgesetzten Stelle dürfen wir nur gehen, wenn wir überzeugt sind, dass es unbedingt notwendig ist, etwa um einem Verbrecher das Handwerk zu legen. Die rechte Ordnung beginnt damit, dass man einen anderen unter vier Augen zurechtweist. Und die Zurechtweisung muss in einer bestimmten Art erfolgen, nämlich in Sanftmut und Geduld, in Demut und in der Kenntnis der eigenen Schwäche, in kluger Wahl des geeigneten Augenblickes. Niemand hat so gut die Weise der Zurechtweisung beschrieben wie eine große Frau in unserer Kirche, nämlich die heilige Theresia von Avila. Sie war ja selbst eine Vorgesetzte. „Bist du über andere gesetzt“, so schreibt sie, „so weise niemand im Zorne zurecht, sondern erst, wenn der Zorn vorüber ist.“ Wer aus Zorn zurechtweist, der weckt eher Rache als Reue. Auch die bittersten Wahrheiten können im Ton der Liebe gesagt werden. „Weise niemand zurecht ohne Bescheidenheit, Demut und Selbstbeschämung.“ Das letzte ist vielleicht das wichtigste. Damit ein Verweis Nutzen bringt, muss es den Vorgesetzten etwas kosten, ihn zu erteilen. Man muss die Zurechtweisung geben, ohne dabei im Herzen auch nur den Schatten einer Leidenschaft zu haben. Der herbste Tadel läßt sich ertragen, wenn man fühlt, dass derjenige, der tadelt, lieber loben möchte.

Es empfiehlt sich, vor der Zurechtweisung zu beten, zu beten, damit unser Mund und das Herz des anderen von Gott, durch Gottes Gnade bereitet werden. Die Pflicht und die Empfehlung der Zurechtweisung sind unaufgebbare Bestandteile der katholischen Moral. Sie sind Mitarbeit am Seelenheil des anderen. Und das ist das göttlichste aller göttlichen Werke, mit Gott mitzuarbeiten am Seelenheil des Menschen.

Amen.

Schrift
Seitenanzeige für große Bildschirme
Anzeige: Vereinfacht / Klein
Schrift: Kleiner / Größer
Druckversion dieser Predigt