Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
23. August 2009

Vom Buchstaben und vom Geist des Gesetzes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Paulus war ein kühner Denker, ja manchmal ein gefährlicher Denker. Das Wort in der heutigen Epistel ist ein gefährliches Wort, nämlich: „Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.“ Jedes Gebot, jedes Gesetz besteht aus Buchstaben, und der Buchstabe ist unbedingt notwendig, um ein Gesetz, um ein Gebot zu fixieren. Ohne Buchstaben kommt kein Gesetz und kein Gebot aus. Jede sittliche Weisung und jedes Rechtsgebot bedarf der Buchstaben. Die Treue zum Buchstaben, also zum Gesetzestext, ist für den Juristen wie für den Lehrer der Moral die erste Pflicht. Der Buchstabe des Gesetzes ist der Ausgangspunkt jeder Auslegung. Wer nicht vom Buchstaben ausgeht, der ist in der Gefahr, nicht das Gesetz auszulegen, sondern seine Vorstellungen in das Gesetz hineinzulesen. Das erleben wir ja heute dauernd. Man spricht vom „Geist des Konzils“. Gewöhnlich ist damit gemeint, dass alles, was lästig und beschwerlich ist am Christentum, überholt sei. Ich gab einmal einer Dame, die ich seit meiner Kindheit kenne, eine Sammlung meiner Predigten. Und was war ihre Antwort? „Was Sie sagen, oder was Du sagst, das ist alles überholt.“ Der Geist des Konzils!

Der Geist des Konzils ist aber nicht eine Zusammenfassung subjektiver Vorstellungen und Wünsche. Der Geist des Konzils kann nur aus den Texten des Konzils erhoben werden. Der Geist des Konzils kann nur angerufen werden, wenn er durch Texte des Konzils gedeckt ist. Der Geist des Konzils kann vor allem nicht gegen den Buchstaben des Konzils ins Feld geführt werden. Wenn also das Konzil erklärt: „Der Gebrauch der lateinischen Sprache ist beizubehalten“, dann kann man nicht herkommen und behaupten, das Konzil habe die Abschaffung der lateinischen Messe befohlen. Die Ächtung der lateinischen Sprache ist mit dem Geist und Buchstaben des Konzils nicht zu vereinbaren. Es ist auch nicht Geist des Konzils, wenn der Priester sich heute wie ein Schankwirt der versammelten Gemeinde zuwendet, statt, mit dieser ausgerichtet auf den Herrn, eine Opfergemeinschaft zu bilden. Kein Wort des Konzils verlangt, dass der Priester hinter dem Altar statt vor dem Altare steht, und schon lange nicht, dass die Opferfeier zugunsten einer Veranstaltung, die der Unterhaltung dient, umfunktioniert wird. Die Treue zum Gesetzestext ist unentbehrlich.

Aber freilich, sie hat auch eine Grenze. Der Buchstabe darf nicht zum Gefängnis des Geistes werden. Der Buchstabe darf nicht den Sinn des Gesetzes verdecken. Der Buchstabe ist eine Hilfe, aber er darf nicht zu einer Last werden. Die Gesetze sind nach ihrem Sinn zu erfüllen, und in diesem Sinne hat Paulus natürlich recht, wenn er sagt: „Der Buchstabe tötet, der Geist ist es, der lebendig macht.“ Wer am Buchstaben klebt, kann leicht am Sinn des Gesetzes vorbeigehen. Ein Beispiel: An manchen Bäckereien und Fleischereien ist ein Schild zu lesen, auf dem zu lesen steht: „Hunden ist der Zutritt verboten.“ Jetzt hat aber jemand einen zahmen Fuchs zu Hause, oder ein anderer hat vielleicht einen gezähmten Schakal in seiner Wohnung. Ja, darf er mit dem Fuchs oder mit dem Schakal in die Fleischerei und in die Bäckerei gehen? Er könnte sagen, hier steht doch nur: „Den Hunden ist der Eintritt verboten.“ Da sehen wir: Es ist falsch, allein auf den Buchstaben zu schauen. Man muss den Sinn des Verbotes beachten, und der Sinn der Schrift „Hunden ist der Zutritt verboten“ ist natürlich: Tiere dürfen in Lebensmittelhandlungen nicht mitgebracht werden. Der Hund ist nur als Beispiel allgemein für Tiere angegeben.

Warum kleben manche Menschen am Buchstaben von Geboten und Gesetzen? Zwei Gründe: Einmal ist es bequem, sich an den Buchstaben zu halten. Man braucht nicht nachzudenken, man tut einfach das stur, was da geschrieben ist, und fragt weiter nicht nach. Der andere Grund ist Ängstlichkeit. Man will auf keinen Fall etwas am Gebote übertreten, und so meint man, am sichersten kommt man zu diesem Ziel, wenn man den Buchstaben beachtet. Der Heiland ist anderer Ansicht. Er hält den Pharisäern vor: „Ihr zahlt pünktlich eure Abgaben an den Tempel, ihre gebt Opfergaben, aber eure Eltern, die laßt ihr darben.“ Ein andermal muss er die Jünger in Schutz nehmen, als sie durch die Felder gingen und Ähren rauften. Sie hatten Hunger, und in der Hungerslage haben sie sich ein paar Ähren gegriffen, um ihren Hunger zu stillen. Der Herr verteidigt sie. Er weist darauf hin, dass im Alten Bunde der König David die Schaubrote gegessen hat, als er Hunger hatte, die Schaubrote, die nur für die Priester bestimmt waren.

Da haben wir ein Beispiel, wo das gebildete Gewissen sagt: Die Gesetzesverpflichtung besteht, aber es ist unmöglich, sie in diesem Falle zu erfüllen. Die Unmöglichkeit der Erfüllung befreit von der Verpflichtung, ein Gesetz zu erfüllen. Dabei ist aber zu unterscheiden: Die absolute physische Unmöglichkeit entschuldigt stets von der Beobachtung des Gesetzes. Was ist das, absolute physische Unmöglichkeit? Nun, sie liegt dann vor, wenn es auch bei äußerster Anspannung der Kräfte und unter Benutzung aller Mittel nicht möglich ist, dem Gesetze nachzukommen. Ein Todkranker kann nicht zur Arbeit gehen, obwohl er die Arbeitspflicht hat. Daneben gibt es die moralische Unmöglichkeit. Sie besteht darin, dass mit der Beobachtung des Gesetzes zufällig eine besondere Schwierigkeit verbunden ist, eine solche Schwierigkeit, dass dem einzelnen die Anstrengung nicht zugemutet werden kann, die notwenig wäre, um diese Schwierigkeit zu überwinden. Hier spielt also der Begriff der Zumutung eine Rolle. Und das ist ein gefährlicher Begriff, denn die Menschen sind allzu leicht geneigt, zu sagen: Das kann ich mir nicht zumuten. Das kann man mir nicht zumuten. Wann darf man die Zumutung anrufen? Im Falle des Notstandes. Das Sprichwort erklärt richtig: „Not kennt kein Gebot.“ Notstand ist ein Zustand, der die körperliche und seelische Lage, der die körperlichen und seelischen Lebensbedingungen bedroht, gefährdet.

Während der Französischen Revolution führte die Regierung eine neue Religion ein, die Theophilanthropie, eine Art Deismus, und sie verordnete, dass in allen katholischen Kirchen auch diese Religion praktiziert werden müsse. Nun sind aber katholische Kirchen nur für den katholischen Kult zu benutzen; dafür sind sie geweiht. Die Priester der damaligen Zeit ´gerieten also in Konflikt. Wie haben sie sich entschieden? Sie sagten: „Um unseren Gottesdienst nicht zugefährden, um ihn nicht ausfallen zu lassen, müssen wir dulden, dass auch die Theophilanthropen ihren sogenannten Gottesdienst in unseren Kirchen halten.“ Das war Notstand. Die Berufung auf schweren Nachteil, der bei Erfüllung eines Gesetzes eintritt, ist und bleibt  aber eine gefährliche Sache; denn der Mensch ist geneigt, sich allzu leicht und allzu rasch von der Beobachtung des Gesetzes entbunden zu halten. Man sagt: Das ist ein Nachteil, wenn ich das erfülle. Ich bin immer wieder erstaunt, wie leicht und wie schnell katholische Christen dabei sind, sich der Verpflichtung zum Besuch des Sonntagsgottesdienstes zu entschlagen. Bei geringfügigen Anlässen unterlassen sie die Sonntagsmesse und meinen, das sei in schwerer Nachteil, wenn sie die Sonntagsmesse besuchen.

Die Berufung auf die Zumutbarkeit eines Gesetzes muss immer den Rang und die Bedeutung des Gesetzes und das Gewicht des Entschuldigungsgrundes ins Auge fassen. Außerdem gibt es Fälle, wo das Prinzip der Zumutbarkeit unanwendbar ist. Einmal ist die Berufung auf Zumutbarkeit nicht zulässig, wenn das Gesetz eine in sich schlechte Handlung verbietet. In sich schlechte Handlungen sind solche, die durch keinen Umstand und durch keinen Zweck gebilligt werden können, die also unter allen Umständen verboten sind, z.B. Gotteslästerung. Es gibt keinen Grund, eine Gotteslästerung zu begehen, und es kann keinen Grund geben. Um solche Handlungen zu vermeiden, muss man jeden Nachteil in Kauf nehmen. In Auxerre bemächtigten sich in der Französischen Revolution die Revolutionäre des Altarkreuzes aus der Kirche. Einer trug das Altarkreuz mit dem Kopf nach unten unter die Menschen und forderte sie auf, es anzuspucken. Ein Arbeiter weigerte sich, das zu tun. Er erhielt einen Hieb mit dem Säbel, der ihm die halbe Nase abriß. So mußte er handeln. Er durfte nicht anspucken, obwohl er gewärtig sein mußte, dafür mißhandelt zu werden.

Die Berufung auf schweren Nachteil ist auch dann nicht zulässig, wenn die Übertretung des Gesetzes zur Verachtung des Glaubens, zur Verächtlichmachung der kirchlichen Autorität oder zum Schaden des Seelenheils ausschlagen würde. Noch einmal: In der Französischen Revolution forderten die Revolutionäre von den Priestern die Auslieferung ihrer Weihezeugnisse. Wer sein Weihezeugnis abgab, der schien dem Priestertum den Abschied gegeben zu haben. Diese Auslieferung der Weihezeugnisse war aber eine Forderung, die zur Geringschätzung des Glaubens führen mußte; denn die Gläubigen mußten unweigerlich denken: Der sagt dem Priestertum und damit dem Glauben der Kirche ab.

Das Gesetz muss sein. Dem Gesetz muss man Gehorsam leisten. Aber es gibt Fälle, in denen Normen zusammenstoßen. In bestimmten Fällen treten zwei Normen zusammen auf, und man kann nur eine erfüllen. Wie hat man sich dann zu verhalten? Die heilige Hildegard kann es uns sagen. Von ihr wird berichtet, dass sie dem pflichtmäßigen Gottesdienst fernblieb, um Schwerkranken beizustehen. Beides war nicht möglich, den Gottesdienst besuchen und den Schwerkranken helfen. Sie hat es vorgezogen, den Schwerkranken zu helfen, Hildegard von Bingen. Als Regel gilt: Man muss die Norm befolgen, welche die wichtigere ist, und die wichtigere Norm ist häufig die dringendere.

Ein besonderer Fall ist gegeben, wenn der Zweck eines Gesetzes entfällt. Der Zweck ist ja die Seele des Gesetzes. Jedes Gesetz hat einen Zweck, auf den hin es erlassen ist. Nun kann aber der Zweck des Gesetzes wegfallen. Er kann ganz wegfallen oder nur zum Teil. Wenn der Zweck des Gesetzes ganz wegfällt, ist das Gesetz hinfällig. Wenn er nur zum Teil wegfällt, ist das Gesetz weiterbestehend. Der andere Teil, der erfüllt werden kann, fordert die Erfüllung. Eine Entpflichtung kommt also nur in Frage bei gänzlichem Wegfall des Gesetzeszweckes. Nun ist beim gänzlichen Wegfall des Gesetzeszweckes wiederum eine Unterscheidung notwendig, nämlich der Gesetzeszweck kann so entfallen, dass er nicht erfüllt wird, dann bleibt die Verpflichtung bestehen, denn die Gesetze dienen dem Gemeinwohl, nicht dem Privatwohl, und wenn der Gesetzeszweck für den einzelnen entfällt, dann entfällt er noch nicht für die Gemeinschaft. Beispiel: Das Verbot des Fleischessens am Freitag. Manche sagen: Mir liegt gar nichts am Fleisch, ich esse viel lieber Fisch. Trotzdem hat er sich an das Gebot zu halten, denn das Gebot hat seinen guten Sinn für die Masse der Menschen. Er darf sich hier nicht entbunden fühlen, weil er meint: Das Opfer ist für mich größer, wenn ich Fleisch esse. Oder ein anderes Beispiel. Der Staat darf Steuern erheben. Die Bürger sind verpflichtet, Steuern zu zahlen. Die Aufgaben des Staates müssen mit den Steuern erfüllt werden. Es ist aber die Frage, ob es zu den Aufgaben des Staates gehört und ob dafür Steuergeld eingesetzt werden darf, um einer Ministerin eine gepanzerte Limousine in den Urlaubsort nach Spanien zu schicken, damit sie dort privaten und angeblich auch dienstlichen Zwecken dienen kann. Man kann der Meinung sein, dass hier ein Mißbrauch der Steuern vorliegt. Dadurch wird natürlich der Zweck des Gesetzes, das gebietet, Steuern zu zahlen, nicht aufgehoben. Diese einzelne Verirrung, zu der freilich vielleicht andere kommen können, macht das Gesetz nicht hinfällig. Das Gesetz, Steuern zu zahlen, bleibt bestehen. Anders ist es dagegen, wenn der Gesetzeszweck so entfällt, dass die Beobachtung des Gesetzes zu Unrecht oder zu schwerem Schaden führt. In diesem Falle entfällt der Gesetzeszweck so, dass das Gesetz für den einzelnen unvernünftig wird; es fehlt die Seele des Gesetzes. Ein Beispiel aus unserer Zeit, meine lieben Freunde. Es ist keine Frage, dass christliche Eltern verpflichtet sind, ihre Kinder christlich zu erziehen. Dazu gehört auch, dass sie sie in den schulischen Religionsunterricht schicken. Wenn aber feststeht, dass dieser Unterricht im konkreten Falle den Glauben nicht aufbaut, sondern zerstört, gilt die Verpflichtung, die Kinder dem schulischen Religionsunterricht anzuvertrauen, nicht mehr. Dann würde die Beobachtung dieser Verpflichtung zu schwerem Schaden führen. Das hat kein anderer festgestellt als der Erzbischof von Köln, Kardinal Höffner. Er hat vor Jahren erklärt: „Wenn in einem Religionsunterricht der Glaube zerstört wird, dann haben die Eltern das Recht und die Pflicht, ihre Kinder aus dem Religionsunterricht zu nehmen.“

Meine lieben Freunde, wer das Gesetz richtig versteht, der begreift, dass er verpflichtet sein kann, nicht nur den Buchstaben zu beobachten, sondern auch über den Buchstaben hinauszugehen. Sie kennen das Kirchengebot: Du sollst wenigstens einmal im Jahr deine Sünden beichten. Wenigstens einmal. Ja, aber wenn einer mehrfach in Todsünde fällt, soll er dann warten bis zum nächsten Ostern? Das ist ja eine höchst gefährliche Sache. Da muss er sogleich bereuen und so bald wie möglich zur Beichte gehen. Also diese Verpflichtung, wenigstens einmal zu beichten, gilt für den, der normalerweise keine schwere Sünde begeht. Aber wer in der schweren Sünde lebt, der darf nicht warten, bis er sich von dieser Sünde befreit.

Der Buchstabe ist der Ausgangspunkt des Gesetzes, aber nicht der Inbegriff. Der Buchstabe allein kann töten, der Geist kann lebendig machen. Ich will Ihnen zum Schluß noch eine Geschichte erzählen aus meinem ersten Priesterjahr, im Jahre 1951. Ich war an einem Ort, wo ein Kohlebergwerk war, ein Steinkohlebergwerk. Eines Tages kam ein braver Bergmann zu mir: „Ach, Herr Kaplan“, sagte er, „ich habe manchmal Nachtschicht von Samstag zu Sonntag, und ab 12 Uhr darf ich ja nach dem Nüchternheitsgebot nichts mehr essen und trinken. Aber wie soll ich diese 6 Stunden bis früh durchhalten, ohne zu trinken? Es ist doch heiß und staubig im Bergwerk,“ Ich sagte zu ihm: „Lieber Freund, in diesem Falle sind Sie an das Nüchternheitsgebot nicht gebunden. Sie können essen und trinken, was zur Erhaltung ihrer Arbeitskraft und Ihrer Gesundheit notwendig ist und dann am Morgen doch zur heiligen Kommunion gehen.“

Amen.

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