Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
9. Januar 2005

Die Herrlichkeit des Herrn erscheint

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Vor wenigen Tagen begingen wir das Fest der Erscheinung des Herrn, Epiphanie. Damit ist gemeint das Sichtbarwerden, das Offenbarwerden seiner Herrlichkeit. Wir haben die verschiedenen Begebnisse erwähnt, in denen und an denen die Menschen die Herrlichkeit Gottes erkennen konnten. Und wir haben gesagt, dass alle Knie sich beugen müssen ob der Herrlichkeit Gottes, die in Jesus offenbar geworden ist.

Es bleibt uns eine zweite Frage zu stellen. Die erste Frage lautete, ob Gott uns erscheint, und die Antwort sind diese Begebnisse, von denen wir gesprochen haben. Aber jetzt kommt die zweite Frage, und die lautet, ob wir ihn erschauen, ob wir seine Erscheinung wahrnehmen, ob wir die Herrlichkeit des Herrn auch sehen, wie sie Johannes gesehen hat: „Wir haben seine Herrlichkeit gesehen“, so sagt er, „voll der Gnade und Wahrheit.“ Auch Petrus hat bekannt: „Wir haben geglaubt und erkannt, dass du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.“ Und sogar der heidnische Hauptmann unter dem Kreuze hat das Bekenntnis abgelegt: „Wahrhaftig, dieser Mann war Gottes Sohn!“ Aber was ist mit dem Judas? Warum hat Judas nicht sein Knie gebeugt vor dem, vor dem sich alle Knie beugen müssen? Und was ist mit den Hohenpriestern und Schriftgelehrten, die ihn als einen Missetäter und Betrüger bezeichneten? Was ist mit den Volksmassen, die riefen: „Hinweg mit ihm! Ans Kreuz mit ihm!“? Haben die alle seine Herrlichkeit nicht gesehen?

Und wir, meine lieben Freunde, wenn wir uns fragen: Was halten wir vom Menschensohn? Können auch wir sagen: Wir haben geglaubt und erkannt, dass du bist der Sohn Gottes? Und wenn wir den Glauben besitzen, was sagt unser Leben? Was sagt unser Erleben? Was sagen unsere Sinne? Werden sie antworten: Wir haben seine Herrlichkeit gesehen? Ist er auch uns sichtbar geworden, so dass wir eine wirkliche Epiphanie Gottes erleben konnten? Das Sichtbarwerden Gottes in dieser Welt, meine lieben Freunde, ist nicht so, dass wir die Gottheit schleierlos schauen dürfen. Wem der Sohn Gottes in sichtbarer Gestalt begegnete, der konnte doch immer noch nicht sagen, dass er die Gottheit selbst geschaut hatte. Er sah den Menschen Jesus von Nazareth. Er hat einen Leib gesehen, von dem der Sohn Gottes sagt: „Das ist mein Leib.“ Er hat Augen gesehen von wunderbarem Glanz, und Gott hat ihn aus diesen Augen angeschaut, aber es waren doch immerhin Menschenaugen. Er hat eine mächtige und milde und schaffende Hand gespürt, und es war die Hand des Allmächtigen. Aber es war nicht die Gottheit selbst, die er angerührt hat. Thomas durfte seine Hand in die Seitenwunde des Herrn legen, aber er hat doch nicht ins Innere der Gottheit selbst gegriffen.

Es sind also immer noch Schleier da. Es ist das Menschliche, es ist das Irdische, es ist das Geschaffene, es ist ein Leib, es ist eine Seele, es sind Geschöpfe Gottes. Aber das Ungeschaffene, das Göttliche, das kann man nicht sehen, nicht greifen und nicht berühren. Gott hat sich geoffenbart auch in allem, was Jesus tat, in seinen Wundern und Zeichen, in seinen Machttaten, in seinen Totenerweckungen, er offenbart sich in seiner Kirche, die ja nichts anderes ist als der fortlebende Christus, aber das alles unter menschlicher Gestalt. Gottes Herrlichkeit und Gnade ist in der Kirche, aber unter Schleiern verborgen, unter den Schleiern des Menschlichen und des Allzumenschlichen.

So sind auch die Epiphanien Gottes in unserem Innern. Gott spricht in unserer Seele, wenn wir nur hören wollen. Aber es klingt wie eine Stimme aus unserem eigenen Herzen. Gott leuchtet aus der Heiligkeit und aus der Güte eines Menschen, aber es ist doch immer dieser Mensch mit seiner Art und mit seinem Wesen, dem wir da begegnen. Und so ist es erst recht bei den Wundern Gottes in der Natur. Das Meer rauscht, aber es ist doch immer nur ein Schwall gewaltiger Wasser. Die Sterne funkeln, aber es ist doch nicht das Licht Gottes, es ist eine Fülle von glänzenden Gasen, die wir da sehen. Die Welt ist tief und unergründlich, und so tief wir auch graben, wir kommen niemals auf ihren göttlichen Grund. Niemals bleibt in unseren Experimenten und Berechnungen, in unseren Röhren und in unseren Messinstrumenten das Göttliche selbst als das letzte Ergebnis des Destillierens. Es sind immer nur Spiegelbilder und Rätselschriften.

Ist das zum Verzagen oder gar zum Verzweifeln, meine lieben Freunde? Nein, es kann gar nicht anders sein. Es muss so sein. Denn all unser Erkennen berührt ja niemals die Wirklichkeit selbst, sondern immer nur ein Erzeugnis unserer eigenen Seele, die Farben, die Töne, die Begriffe und die Systeme, hinter denen erst das Wirkliche steht. Kein Geringerer als Romano Guardini hat diese Tatsache in die schönen Worte gefasst: „Mein Endlichkeit selbst, ich selbst bin der Schleier, der Gott verbirgt.“ Mein Endlichkeit selbst, ich selbst bin der Schleier, der Gott verbirgt. Es müsste schon Gott unmittelbar in unsere Seele treten, damit wir ihn selbst erschauen und erleben können. Das wird ja einmal sein, das wird ja einmal an uns geschehen, es ist uns ja verheißen, und wir dürfen darauf hoffen, und wir dürfen darauf bauen. Aber das geschieht erst drüben und nicht hienieden. Hienieden bleibt unabänderlich, was Johannes der Evangelist feststellt: „Niemand hat Gott gesehen.“ Selbst wenn wir den eingeborenen Sohn Gottes schauen, die Schleier des Menschlichen, des Geschöpflichen werden uns nicht abgenommen. Der Dichter Rilke sagt: „Gott ist unser Nachbar geworden.“ Ja, das ist er, aber durch eine Wand von uns getrennt. So dünn die Wand auch sein mag, Gott ist durch eine Wand von uns getrennt.

Darum bleibt auch die Möglichkeit, dass Gott in dieser Welt übersehen werden kann. Es bleibt die Möglichkeit, zu zweifeln und zu verzweifeln. Es bleibt die Möglichkeit, Gottes Herrlichkeit zu verneinen und zu verleugnen, die Möglichkeit, zu sagen, wie der Tor es in seinem Herzen sagt: Es ist kein Gott. So sagt der Tor. Einen Tor nennt das Buch der Weisheit einen Menschen, der Gott leugnet, weil es ihm an Vollendung des Wesens und des Charakters fehlt. Um Gott zu erkennen, braucht es nicht nur Verstand, sondern es gehört dazu auch eine gewisse Reife des Charakters, eine Güte des Herzens, eine Bereitschaft des Willens, eine Empfänglichkeit und Aufgeschlossenheit der Seele, eine Sammlung und Vertiefung des inneren Menschen. Wer ganz ausgegossen lebt, wer nur auf der Oberfläche sich bewegt, wer nicht in die Tiefe schaut und nicht in die Weite blickt, der ist in Gefahr, Gott zu übersehen. Je mehr der Mensch aber er selber wird, je wertvoller und je reicher er an Charakter und Wesen und Kraft und Geist wird, um so leichter und deutlicher, um so leuchtender sieht er die Epiphanien Gottes in der Natur, in der Geschichte, in der Kirche. Es ist dann, als ob alle Dinge durchscheinend würden für Gott. Wir können das vergleichen, meine lieben Freunde, mit einem Blick in den Sternenhimmel. Man muss lange und aufmerksam zum Himmel schauen, wenn man die Sterne und die Sternbilder zusammenfügen will. Erst dem, der Geduld hat und den Horizont mit seinen Augen abwandert, erschließen sich die Herrlichkeiten des Sternenhimmels. Wer ein solcher Mensch ist, wer in dieser Weise zur Vollendung seines Wesens strebt, auch wenn er sie auf Erden nicht erlangt, einem solchen Menschen kommt Gott entgegen. Ihm schenkt er seine eigenen Epiphanien, die er anderen nicht gewährt. Es kann geschehen, dass er einem solchen aufmerksamen Menschen fast hörbar zu Herzen redet. Es kann geschehen, dass er einem solchen gesammelten und innerlichen Menschen auch sichtbar die Lebensgeschicke fügt und knüpft. Es kann geschehen, dass er einem solchen empfänglichen Menschen auch in greifbarer Wirklichkeit die Bittgebete erhört. Und es kann geschehen, dass er einem solchen ganz ergebenen und vertrauenden Menschen seine tatsächlichen Erweise wunderbarer Nähe gewährt. Während andere, weniger sehende Menschen klagend durch die Welt gehen und sagen: Wo ist mein Gott? Wo ist unser Gott?, da schmiegen sich diese wahrhaften Seher nicht nur an Gott, sondern auch an die Welt und an die Schöpfung und an Christus und an die Kirche. Ja, sie schmiegen sich auch an das Leid und an den Tod, und sie sagen, wie es ein Kind sagt, das sich an Vater und Mutter schmiegt und flüstert: Ich habe ihn gefunden, den meine Seele liebt. Ich halte ihn und lasse ihn nicht mehr los.

Amen.

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