Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
13. Januar 2002

Die dunklen Seiten der menschlichen Existenz

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Der Dichter Frenssen schildert in einem Buche eine alte, blinde Frau, die ganz einsam war. Wenn man sie trösten wollte, entgegnete sie: „Ich bin nicht einsam. Mein Leben ist ein großes, dunkles Buch. Es hat einen dunklen Einband, und fast auf jeder Seite steht ein Kreuz, und am Ende, auf der letzten Seite, hoffe ich, eine Krone. In dem Buche muß ich immer lesen.“ Wahrhaftig, unser Leben ist ein Buch, und die weise sind, wissen, daß sie dieses Buch nur einmal lesen. Sie lesen es nicht nur, sondern sie verfassen es auch, und es kommt darauf an, was in diesem Buche steht, was wir hineingeschrieben haben und was wir noch hineinschreiben sollen.

Das Buch hat einen dunklen Einband. Warum ist der Einband so dunkel? Weil in diesem Buche so viel schwer zu verstehen und so viel schwer zu tragen ist. Deswegen ist der Einband dunkel. In unserem Lebensbuche ist vieles schwer zu verstehen. Wir wissen, daß die Welt uns Rätsel aufgibt, die Meere und das Land, die Evolution und der Feuerbrand, der vielleicht am Ende stehen wird. Es gibt Weltträtsel, und es ist schwer, sie zu enträtseln. Wenn wir irgendwo eine Entdeckung machen, finden wir, daß dahinter wieder neue Fragen aufstehen.

Ein Rätsel anderer Art sind die Menschen. Die Menschen, mit denen wir zusammen sind, die wir getroffen haben in unserem Leben und die wir noch treffen werden. Je mehr man sich mit den Menschen befaßt, ein um so größeres Rätsel werden sie. „Wie können Menschen so sein?“ Wie oft hat das einer schon gesagt! Der schottische Dichter Bruce Marshall wundert sich darüber, daß Gott alle Menschen lieben kann. Er wundert sich darüber, weil er meint, es seien eben viele unliebenswürdige, nicht liebenswerte unter ihnen. Wahrhaftig, die Menschen sind ein Rätsel! Auch unsere eigenen Lebenswege sind rätselhaft. Wir haben schon manches Mal gefragt: Warum mußte das so sein? Warum mußte das kommen? Warum mußte mir dieses Hindernis in den Weg geworfen werden? Warum konnten meine berechtigten Wünsche nicht in Erfüllung gehen? Wir entdecken, wenn wir in die Vergangenheit schauen, Umwege und Abwege und vielleicht auch Irrwege. Unsere Lebenswege sind ein Rätsel. Wir wissen nicht, was noch alles über uns kommen kann. Wir wissen nicht, ob wir das schaffen werden, was uns von Gott auferlegt werden wird. Ich kann manche Leute verstehen, die sagen: „Ich wäre zufrieden, wenn ein Ende wäre; denn ich weiß nicht, was noch aus mir wird.“ Ein Rätsel ist unsere Seele. Was da im Inneren aufsteigt an Wildheit, an Abwegigkeit, was wir da spüren im Unterbewußtsein an Regungen, die wir nicht ins helle Tageslicht lassen möchten: Unsere eigene Seele ist ein Rätsel. Wir fragen manchmal: Wie konnte ich so sein? Wie konnte ich das sagen? Wie konnte ich das tun?

Ein Rätsel kann uns auch Gott werden. In den Psalmen, die wir Priester ja jede Woche vom ersten bis zum letzten durchbeten, erhebt sich so manchmal die Frage: „Wo ist mein Gott?“ Das heißt: Wo ist der Gott, der sich meiner annimmt, der für mich sorgt, auf den ich vertraut habe? Wo ist mein Gott? So betet der fromme Psalmist: Wo ist mein Gott? Dann dürfen wir es auch sagen. Wir dürfen fragen: Wo ist unser Gott? Vor einiger Zeit schrieb mir ein Priester: „Ich habe die Kirche in meinem ganzen Priesterleben nur im Niedergang erlebt.“ Ja, wo ist der Gott, der diese Kirche geschaffen hat? Ein anderer Priester aus der Würzburger Diözese fragte mich wiederholt am Telefon: „Ja, hat Gott denn Freude daran, wenn er seine Kirche zugrunde gehen sieht?“ Rätsel über Rätsel in unserem Leben. Deswegen ist das Buch unseres Lebens so dunkel eingebunden.

Der dunkle Einband rührt aber auch davon her, daß nicht nur vieles schwer zu verstehen, sondern auch vieles schwer zu tragen ist. In unserem Lebensbuche sind Aufgaben, finden sich Verantwortungen, die wir meinten, nicht auf uns nehmen zu können. Wir standen oft vor Situationen, wo wir sagten: Das kann ich nicht; das schaffe ich nicht; das vermag ich nicht zu vollbringen. Und doch hat sie Gott uns auferlegt. Wir wissen, daß Erwartungen über unserem Leben stehen, Erwartungen des Himmels und Erwartungen der Erde, Erwartungen unserer Vorgesetzten und unserer Untergebenen, Erwartungen der Menschen, die uns kennen. Und wie oft, wie oft, meine lieben Freunde, haben wir diese Erwartungen enttäuscht! Manchmal ist uns gesagt worden mit dürren Worten: „Das hätte ich nicht erwartet von dir.“ Und noch öfter haben wir selbst an die Brust geschlagen und gedacht: Wie habe ich doch in dieser Lage versagt! Es ist so viel in unserem Leben, was schwer zu tragen ist.

Das gilt vor allem für das Leid. In jedem Leben gibt es Leid. Es gibt keinen Menschen, der nicht leidet. Es ist ausgeschlossen, daß es einen Menschen gibt, der kein Leid trägt. Und wenn es Jahre oder Jahrzehnte lang ferngeblieben ist, so wird es mit Sicherheit kommen. Es kommt die Stunde, wo das Leid jeden Menschen trifft. Keiner ist ausgenommen, keinem ist Verschonung von dem Leid gewährt. „Auf jeder Seite“, sagt die alte, blinde Frau, „fast auf jeder Seite steht ein Kreuz.“ Und diese Leiden sind oft rätselhaft: Warum muß gerade ich dieses Leid tragen? Warum bin ich nicht verschont geblieben? Warum jetzt? Warum nicht zu einer anderen Stunde, wo ich mehr Kraft hatte? Warum gerade im Alter, wo meine Kräfte nachlassen?

Das Buch unseres Lebens ist deswegen so dunkel eingebunden, weil fast auf jeder Seite ein Kreuz steht. So hat diese alte, blinde Frau gesagt. Das Leid kann man nur bewältigen, indem man es anerkennt und annimmt, anerkennt, das heißt, daß man seine Notwendigkeit begreift, und annimmt, das heißt, es tapfer trägt, es auf sich nimmt, es nicht abzuschütteln versucht. „Wenn du ein Kreuz abschüttelst, gewaltsam abschüttelst, wirst du gewiß ein anderes finden, und das ist vielleicht schwerer als das, welches du abgeworfen hast“, so mahnt das Buch von der Nachfolge Christi. Wenn du ein Kreuz abwirfst, gewaltsam abwirfst, wirst du gewiß ein anderes finden, und das ist vielleicht schwerer als das, welches du abgeworfen hast.

Aber auf der letzten Seite, sagt die alte, blinde Frau, auf der letzten Seite ihres Lebensbuches, da hofft sie, steht eine Krone. Die Krone als Zeichen des Sieges, die Krone als Zeichen der Vollendung. Auf der letzten Seite kann, soll eine Krone stehen. Das heißt, unser Leben kann gut ausgehen, es kann trotz aller Dunkelheit und trotz aller Rätsel, trotz allen Leides ein gutes Ende finden. Es soll gut ausgehen; nach Gottes Willen soll es gut ausgehen. Es mag ein Weg durch das Dunkel sein, aber am Ende steht das Licht. Es mag ein Pfad sein, der durch die Finsternis führt, aber am Ziele, da glänzt der Sonnenschein. Es geht aufwärts, es geht vorwärts, es geht himmelwärts, es geht heimwärts. Am Ende unseres Lebens kann und soll eine Krone stehen, die Krone des ewigen Lebens. „Sei getreu bis in den Tod, und ich will dir die Krone geben.“

Es ist immer wieder erschütternd zu erfahren, wie viele Menschen von der Angstkrankheit erfüllt sind – Angst vor sich selbst, Angst vor den Menschen, Angst vor der Vergangenheit, Angst vor der Zukunft, Angst vor dem Tode, Angst vor Gott. Die Angstkrankheit ist geradezu eine Epidemie, welche die Menschen ergreift und durchzieht. Wir wollen heute und an den kommenden Sonntagen uns bemühen, unser Lebensbuch zu durchblättern. Wir wollen uns bemühen, auch die dunklen Seiten, die Rätsel und das Leid zu betrachten. Wir wollen versuchen, die Angst zu überwinden durch die Freude, denn was braucht ein Mensch dringender als Freude? Die Freude ist der Fittich zu großen Taten. Freudlose Menschen können keinen Segen spenden. Freudlose Menschen können anderen nicht von der Herrlichkeit Gottes künden. Es muß Freude in uns sein. Trotz allem muß Freude in uns sein. Und wir wollen versuchen, zu den Quellen dieser Freude vorzudringen.

Auch unser Leben ist ein dunkles, großes Buch. Es ist dunkel eingebunden, weil so vieles rätselhaft ist, weil so viel Leid sich in unserem Leben eingefunden hat. Aber auf der letzten Seite, auf der letzten Seite, da soll es licht werden, da soll eine Krone stehen, da soll die ewige Freude anbrechen. Nach diesem Ziel, meine lieben Freunde, wollen wir an den kommenden Sonntagen ausschauen.

Amen.

 

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