Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
31. Oktober 1999

Die Vereinbarkeit des Leides mit der Vorsehung

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Gegen die Vorsehung Gottes erhebt sich der Einwand, daß doch so unendlich viel Leid auf Erden besteht. Wie ist das Leid in dieser Welt mit der Vorsehung des allweisen, allgütigen, allmächtigen Gottes zu vereinbaren? Das ist eine Frage, die nicht zur Ruhe kommen will.

Beim Leid unterscheiden wir die Naturübel und die sittlichen Übel. Die Naturübel sind jene, die sich als Krankheit, Tod, Unfälle, als Zerstörungen und Katastrophen in der großen und kleinen Welt darstellen. Wie sind die Naturübel mit der Vorsehung Gottes zu vereinbaren? Als Antwort wird man an erster Stelle darauf hinweisen müssen, daß alle Geschöpfe endlich sind. Sie sind als endliche geschaffen; sie haben also ein Ende, sie verbrauchen sich. Sie sind nicht unendlich wie Gott, sondern sie sind endlich, und darum muß es mit ihnen ein Ende geben. Man muß weiter darauf hinweisen, daß die Welt einen Stufenbau darstellt, und die jeweils niedere Stufe dient der höheren. Wenn wir also beobachten, wie ein Mäuschen von der Katze gefangen und gefressen wird, dann ist das eben von Gott so gewollt, weil das eine Lebewesen dem anderen zu seinem Unterhalt dient. Es gibt einen Stufenbau in der Welt, wonach der Tod des einen das Leben des anderen bedeutet.

Die Naturübel sollten ursprünglich von den Geschöpfen ferngehalten werden. Gott hat die Welt, vor allem den Menschen, aber auch die außermenschliche Natur so geschaffen, daß das Leid ursprünglich ferngehalten werden sollte, aber dieser Zustand der Leidlosigkeit ist durch den Menschen selbst zerstört worden. Seine Sünde hat die göttliche Absicht gewissermaßen vereitelt, das Leid von dieser Welt fernzuhalten. Die von Gott ursprünglich hintangehaltene Endlichkeit und Verbrauchbarkeit der Geschöpfe wurde durch das Sündigen des Menschen gelöst. Und so ist die Sünde der Auslöser für die Auswirkung des Verbrauchtwerdens und des Verbrauchens.

Nun hat aber Christus den ursprünglichen Zustand grundsätzlich wiederhergestellt. Er hat ja, wie wir sagen, die ganze Welt erlöst. Das Leid aber ist nicht verschwunden; es hat jedoch eine andere Qualität gewonnen. Es ist jetzt der Anteil an den Leiden Christi. Die Kreuze, die heute überall aufgerichtet werden, sind eine Auswirkung des Kreuzes Christi. Das Leid, das wir überall beobachten, ist Anteil am Leide Christi. Wir müssen ergänzen, was an den Leiden Christi noch aussteht. So ist also das Leid zwar nicht verschwunden, aber es ist verwandelt worden. Es dient jetzt dazu, den heiligen Gott und den sündigen Menschen zu verkündigen. Es erinnert an das Grauen, dem wir durch Christi Erlösertat entronnen sind. Es hat den Zweck, den Menschen von seiner Ichhaftigkeit und Welthaftigkeit zu befreien. Es ist ein Anruf Gottes an uns, uns von der Verlorenheit an die Welt und an das Selbst zu befreien. „Trifft dich ein Schmerz, so halte still und frag‘ dich, was er von dir will. Der liebe Gott, er schickt dir keinen nur darum, daß du solltest weinen.“ Wahrhaftig, so ist es. Die Leiden die uns treffen, sind ein Anruf Gottes und eine Gelegenheit, uns von der Ichhaftigkeit und von der Welthaftigkeit, von der Ichverlorenheit und von der Weltverlorenheit zu befreien.

Die sittlichen Übel nennen wir die Sünde. Sie sind von Gott weder direkt noch indirekt gewollt. Wie erklären sich die sittlichen Übel? Wie erklärt sich die Sünde? An erster Stelle ist hinzuweisen auf die Freiheit des Menschen. Der Mensch hat die Wahlfreiheit; er kann Gutes und Böses wählen. Gott wollte den Menschen als einen, der nicht eine Marionette ist, sondern der sein Schicksal selbst entscheidet. Er wollte ihm Anteil geben an dem höchsten natürlichen Wert, und das ist die Freiheit. Die Freiheit ist deswegen der höchste natürliche Wert, weil sie gleichsam ein Stückchen von Gottes Herrlichkeit ist. Gott wollte dem Menschen Anteil an seinem Herrsein geben; darum gab er ihm die Freiheit. Freilich könnte man fragen, warum ihm Gott die Freiheit so gegeben hat, daß er auch sündigen kann, denn die Engel und die Heiligen des Himmels sind auch frei, aber sie können nicht mehr sündigen. Ihre Freiheit schließt das Sündigenkönnen aus. Es ist ein unlösbares Rätsel, warum Gott dem Geschöpf die Freiheit in einer Weise gab, die auch zum Aufstand gegen Gott befähigt.

Ein zweiter Grund, warum Gott die sittlichen Übel zuläßt, ist darin gelegen, daß Gott auch aus dem Bösen Gutes entstehen lassen kann. Wir haben schon manchmal die Erfahrung gemacht, daß es tatsächlich so etwas gibt, was die Kirche die glückliche, die selige Schuld nennt. Durch die Sünde, die einer begangen hat, wird er aufgerüttelt, die Sünde ist ihm Anlaß zur Bekehrung. Er schaut mit Grauen zurück auf das, was er einmal war, nämlich ein verlorener Sünder, und er strengt sich viel mehr als vorher an, die Sünde zu meiden und ein gottgefälliges Leben zu führen. Die Sünde offenbart eben Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit; seine Gerechtigkeit, indem der Sünder gestraft wird, seine Barmherzigkeit, indem er den reuigen Sünder aufnimmt. Gott kann aus Bösem Gutes entstehen lassen. Das war wohl der zweite Grund, warum Gott das sittlich Böse, das er vorausgesehen hat, zuließ.

Man muß freilich noch hinzufügen: Leid und Sünde werden auf das Wirken einer bösen Macht zurückgeführt, die wir den Satan nennen. Der Teufel ist der Herr der Welt, so steht es in der Heiligen Schrift. Er ist der Herrscher der Mächte in der Luft; der Teufel besitzt Macht. Freilich hat Christus diese Macht gebrochen, aber sie ist nicht verschwunden. Der Teufel vermag immer noch die in Christus Gerechtfertigten anzufeinden und zu versuchen. Darum kann es immer wieder zum Fall kommen. Im Menschen schlummert die Neigung zum Bösen, die wir die Konkupiszenz nennen, und da setzt der Satan an. Er reizt die Konkupiszenz, daß sie den Menschen zur Sünde verführt. Dennoch ist Gott auch der Herr dieses Herrn, und einmal wird er ihn so fesseln, daß er keine Wirkung mehr entfalten kann. So haben wir die Zuversicht, daß wir über die Sünde einmal Herr werden können. Mag der Satan durch Leid und Sünde die Menschen zu quälen versuchen, wir dürfen durch den Vorhang von Tränen hindurch mit dem heiligen Hiob sprechen: „Ich werde an ihn glauben, auch wenn er mich tötet.“

Es gibt auch noch eine andere Möglichkeit, mit dem Leid in der Welt fertigzuwerden. Wir beobachten, wie Leistung und Anerkennung, Mühe und Erfolg, Sittlichkeit und Seligkeit auf dieser Erde oft auseinandergehen. Wir erleben die Gezweiung und die Zwiespältigkeit von Frömmigkeit und irdischen Gütern. Wir erleben den Zwiespalt zwischen naturhaften und geistigen Mächten. Um diese Zwiespältigkeit zu erklären, muß man darauf verweisen, daß uns die innere Verfassung des Menschen nicht bekannt ist. Wir wissen nicht, was letztlich im Menschen ist; wir durchschauen den Menschen nicht. Es kann einer äußerlich sehr fromm erscheinen, und innerlich ist er ein eigennütziger, selbstsüchtiger Mensch. Und umgekehrt kann einer wie ein verlorener Sünder aussehen, und doch ist er auf dem Wege zur Buße. Der Zöllner im Evangelium wurde als ein Ungerechter angesehen, aber er ging gerechtfertigt nach Hause. Der Pharisäer, der fromme, der sich seiner Taten rühmte, ging nicht gerechtfertigt nach Hause. Diese Begebenheit kann uns warnen, die Menschen nach dem Augenschein zu beurteilen. Wir sehen nicht ins Herz, und wir wissen nicht, warum Gott dem einzelnen Freude oder Leid zumißt.

Dennoch kann man angeben, warum es ein Glück des Bösen und ein Unglück des Guten geben kann. Warum kann es ein Glück des Bösen geben? Nun, zunächst einmal tut ja auch der Böse natürlich Gutes. Man wird nicht sagen können, daß ein Mensch überhaupt nichts Gutes tut. Und wenn er natürlich Gutes tut, dann kann ihm Gott auch eine Belohnung dafür geben, indem er ihm Reichtum oder Macht oder Erfolg schenkt. Es kann also auch das Glück des Bösen eine Belohnung für seine natürlich guten Taten sein. Sodann kann aber auch das Gute, das Gott ihm gewährt, ein Erweis seiner Liebe sein, mit dem er den Sünder herauslocken möchte, herauslocken aus seiner Sünde, aus seiner Verlorenheit. Gott will ihn gleichsam heilsam beschämen, damit er erkennt, wie erbärmlich er sich im Angesicht dieses heiligen und gütigen und gnädigen Gottes verhält. Schließlich kann das Glück des Bösen auch eine Bestrafung sein. Jawohl, die Wohltaten, die Gott ihm erweist, können eine Strafe sein. Ja, wie denn? Nun, dadurch, daß er sie benützt, um mehr und weiter und schlimmer zu sündigen. Damit straft er sich gewissermaßen selbst mit den Wohltaten Gottes.

Wir können also durchaus erklären, zu erklären versuchen, warum es den Bösen auf Erden manchmal gut geht, besser geht, als sie, wie es scheint, verdient haben. Wir können aber auch erklären, warum es den Guten schlecht geht. Warum wird ein guter Mensch mit Leid überhäuft? Der erste Grund ist darin gelegen, daß auch er Fehler hat und daß die Fehler Bestrafung verdienen. Leid kann Strafe sein, muß nicht Strafe sein, aber Leid kann Strafe sein, kann Strafe sein für Fehler. Ein zweiter Grund für das Leid des Gerechten kann darin gelegen sein, daß Gott seine Liebe herausfordern will. Meine lieben Freunde, wie kann sich denn Liebe besser beweisen, als daß man den Geliebten dennoch liebt, wenn er einen schlägt? Wenn also der Gerechte leiden muß, dann kann das durchaus ein Leiden aus Liebe sein. Gott möchte seine Liebe, die vielleicht nicht genügend groß, nicht genügend tief, nicht genügend weit war, auflodern lassen zu einer hellen Flamme. Gott möchte seine Liebe herausfordern. Ein dritter Grund, warum es den Gerechten schlecht gehen kann, ist darin gelegen, daß Gott die Tugend stärken will. Im Leid bewährt man sich ja, muß man sich bewähren, und wer im Leid aushält, der ist eben ein tugendhafter Mensch. Wer Gott nicht flucht, wenn Gott ihm Leid schickt, sondern wer seinen Blick anbetend und dankbar zu ihm erhebt, der wird durch das Leid auf eine höhere Stufe der Tugend gehoben. Das Leid, das Gott dem Gerechten zufügt, kann also seine Tugend stärken und fördern.

Und schließlich noch ein letzter Grund, warum der Gerechte leiden muß: Er vermehrt durch Leiden seine Verdienste. Ja, es gibt Verdienste, auch wenn das in dem Papier, das heute in Augsburg unterzeichnet wird, unterschlagen wird. Es gibt Verdienste. Der Mensch kann sich tatsächlich Verdienste sammeln; der Gerechte kann durch die guten Werke, die er übt, Verdienste für den Himmel gewinnen. Und wenn nun der Gerechte leiden muß und die Leiden in der Gesinnung Christi trägt, dann sammelt er Verdienste für die Ewigkeit, dann wird seine Krone nur noch schöner, die ihm Gott geben wird, wenn er ihn zu sich ruft.

Schließlich müssen wir auch hinweisen darauf, daß die endgültige Entscheidung nicht im Diesseits fällt, sondern im Jenseits. Da wird der Ausgleich vollzogen, da werden wir erkennen, daß Gott nicht ungerecht war, als er dem Gerechten Leid schickte und als er dem Sünder Gunst gewährte. Da werden wir erkennen, daß die Fäden zwar verschlungen waren, daß sie sich aber auflösen lassen; freilich nicht in der Geschichte. In der Geschichte sind alle Enthüllungen Gottes immer mit Verschleierungen verbunden. Gott enthüllt sich, gewiß, er offenbart sich, aber er offenbart sich in verborgener Weise, und je mehr er sich offenbart, um so mehr verhüllt er sich. Die größte, die stärkste, die unübersehbarste Offenbarung Gottes war das Kreuz Christi, und nirgends ist Gottes Liebe und Weisheit und Macht mehr verhüllt gewesen als am Kreuze Christi. Gott entäußert sich eben, wenn er sich offenbart. Er entäußert sich in die menschlichen Formen, Worte und Werke hinein. Er entäußert sich, und das bedeutet, daß ein Zwielicht über der Geschichte waltet. Die Kirche ist das Geschöpf Gottes, und doch weiß uns die Kirchengeschichte auch von düsteren Zeiten zu berichten, von Untaten und Missetaten von Gliedern der Kirche. In dieser Zeit gibt es keine eindeutigen Erfahrungen Gottes. In der Zeitgeschichte gibt es keine eindeutigen Erfahrungen Gottes. Das Wirken Gottes bleibt im Zwielicht. Wir müssen es hinnehmen, daß sich menschliches und göttliches Wirken unentwirrbar, für uns unentwirrbar vermischen und daß wir nicht sagen können: Hier ist Gott und hier ist Gott nicht. Nein, das können wir nicht mit Gewißheit sagen. In der Weltgeschichte bleibt es uns verborgen, wo Gott wirklich wirkt und wo er nicht wirkt. Natürlich möchten wir manchmal solche Feststellungen treffen. Der Sturz Hitlers erschien uns wie eine Fügung Gottes, gewiß. Aber wir wissen auch, daß dieses schreckliche Ereignis vom 8. Mai 1945 unendliches Leid über unser Volk gebracht hat.

Aber die Fäden der Geschichte werden einmal entwirrt werden am Jüngsten Tage. Nur einer kann die Feststellung treffen, ob die Geschichte Auftrag und Werk Gottes war, nämlich Gott. Er wird diese Feststellung treffen am Jüngsten Tage beim Weltgericht. Dann werden wir sehen, was wir jetzt nicht erkannt haben. Dann werden wir schauen, woran wir jetzt nur geglaubt haben. Am Ende wird uns alles lichtvoll und trostvoll geoffenbart werden.

Amen.

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