Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
26. November 1995

Die Ordnung der menschlichen Begierden

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Aus der Liebe wächst die Begierde heraus, die Begierde drängt nach dem Genuß. Die Leidenschaft der Liebe ist eine Kraft, die auf den geliebten Gegenstand hindrängt. Und dieses Hindrängen, dieses Hinstreben des sinnlichen Begehrungsvermögens nach einem noch nicht besessenen Gegenstand, der aber angenehme Sinnenlust verspricht, nennen wir Begierde. Die Begierde steht in der Mitte zwischen der Liebe und dem Ergötzen. Die Liebe hat Wohlgefallen an dem Gegenstand – einem Ding, einem Menschen –, und sie erzeugt die Kraft, die nach diesem Gegenstand hinstrebt. Die Begierde sucht in den Genuß des Gegenstandes zu kommen, das Ergötzen in dem Gegenstand zu finden.

Es gibt natürliche und nicht natürliche Begierden. Die natürlichen Begierden sind jene, die mit Notwendigkeit aus der Menschennatur herauswachsen, jene Begierden, die der Erhaltung des einzelnen und der Art dienen. Solche Begierden hat der Mensch mit dem Tier gemein, etwa die Begierde nach Nahrung, Kleidung, Wohnung, geschlechtlicher Betätigung, Sorge für die Nachkommenschaft. Das alles sind natürliche Begierden, die mit der Natur gegeben sind. Davon unterschieden sind die nicht natürlichen Begierden, die also aus dem Verstande, aus der Vernunft erwachsen. Der Verstand vergleicht und stellt Beziehungen her, und da kommt er dazu, zu erkennen oder zu meinen, daß bestimmte Dinge, bestimmte Werte, bestimmte Güter ihm einen sinnlich angenehmen Genuß verschaffen können. Die nicht natürlichen Begierden drängen also auf einen annehmbaren und annehmlichen, spürbaren und sinnlichen Genuß.

Diese nicht natürlichen Begierden sind außerordentlich zahlreich. Ich erwähne einige. Etwa die Begierde, sich zu rächen. Wenn uns jemand Unrecht zugefügt hat, wenn uns jemand geschadet hat, dann geraten wir leicht in die Gefahr, daß wir uns an ihm rächen wollen für das, was er uns angetan hat. Ich erwähne die Begierde, immer recht zu haben. Es gibt Menschen, die können anderen nicht ihre Meinung lassen, sei sie nun berechtigt oder unberechtigt. Das ist die Begierde der Rechthaberei. Der Geiz ist eine schlimme Begierde, das Verlangen, Werte, materielle Werte aufzuhäufen und immer mehr hinzuzufügen. So kann man eine Menge von Begierden namhaft machen, die vom Verstande erzeugt werden, aber in der Sphäre der Sinnlichkeit angesiedelt sind.

Die Auswirkungen der Begierden sind, wenn sie nicht gemäßigt, wenn sie nicht beherrscht werden, verhängnisvoll. Die erste Auswirkung der Begierde ist die Unruhe. Diese Unruhe ist verständlich. Wer die Begierde in sich trägt, der drängt nach dem Gegenstand, den ihm die Begierde vorstellt, hin, und solange er ihn nicht erreicht hat, ist er unbefriedigt. gleichsam gejagt und getrieben von seiner Begierde. Er meint, wenn er ihn erreicht hat, dann findet er Ruhe; wir werden gleich sehen, daß das eine Täuschung ist. Aber er ist in fortwährender Unruhe, um den sinnlich angenehmen Gegenstand zu erlangen. Wenn man einen Menschen findet, der am Verdursten ist, dann meint dieser Mensch, er brauche nichts anderes mehr auf dieser Welt als Wasser. Aber wenn er getrunken hat, dann stellt er fest, daß es auch noch andere Dinge gibt, die er entweder braucht oder die er gern haben möchte. So ist es auch mit der Begierde. Wenn die Begierde gestillt ist, dann ist die Ruhe nur für kurze Zeit gewährleistet. Denn die Begierde meldet sich wieder, und sie meldet sich in einer stärkeren Weise; sie ist unersättlich. Die Begierde verlangt immer neue, und zwar kräftigere Dosen. Und deswegen ist die Begierde für den, der meint, wenn er ihr nachgegeben hat, Ruhe zu finden, keine Quelle der Ruhe. Nachdem die Begierde gestillt ist, macht sie sich von neuem bemerkbar und treibt den Menschen weiter voran. Er kann in einen wahren Rausch kommen, er wird unbeständig und handelt übereilt, er ist verdrossen und mürrisch, weil er nämlich die Begierde nicht fortwährend befriedigen kann. Er wird gleichgültig gegen Hab und Gut, gegen Ehre, Gewissen und Glauben. Sie alle kennen den Komponisten Johann Strauß, den Wiener Walzerkönig. Was hat er alles getan, um ein Weib zu gewinnen! Er gab die österreichische Staatsangehörigkeit auf, wurde in Coburg deutscher Staatsbürger, trat vom katholischen Glauben zum Protestantismus über, nur um die Frau zu gewinnen. „Was tut man nicht alles für ein Weib“, hat er selber gesagt. Die Begierde ist unersättlich. „Usu crescit, numquam satiatur“, schreibt der heilige Hieronymus; dadurch, daß man ihr nachgibt, wächst sie. Sie wird niemals satt.

Schließlich führt die Begierde zum Ekel; denn eines Tages erkennt der Mensch, dumpf oder bewußt, daß die Begierde ihm nicht das gebracht hat, was er davon erwartet hatte. Und dann kommt der Widerwille gegen den Genuß, auch gegen den Gegenstand des Genusses. Deswegen sind so viele Begierden mit Gewalttaten und Verbrechen verknüpft. Sie entstehen aus dem Ekel, aus dem Ekel am Genuß.

„Neben dem Lustbecher des sinnlichen Genusses liegt der Revolver der Verzweiflung“, hat einmal Kardinal Faulhaber geschrieben. Wahrhaftig, so ist es! „Genießen macht gemein“, sagt Goethe. Oder Marie von Ebner-Eschenbach: „Die Genußsucht frißt alles, am meisten das Glück!“ „Zwischen Sinnenlust und Seelenfrieden bleibt dem Menschen nur die bange Qual“, heißt es bei Schiller. Wahrhaftig, ein erhellendes Wort. Zwischen Sinnenlust und Seelenfrieden bleibt dem Menschen nur die bange Qual. Entweder das eine oder das andere, beides zusammen ist ihm nicht vergönnt. Zwischen Sinnenlust und Seelenfrieden bleibt dem Menschen nur die bange Qual.

Deswegen muß die Begierde geregelt werden. Wir sprechen ja seit etlichen Sonntagen über die Selbsterziehung, und ein wichtiger Gegenstand der Selbsterziehung ist die Regelung der Begierde. Sie muß in einer zweifachen Weise vonstatten gehen. Einmal, indem man die Begierde mäßigt. Man muß sich schon in den Begierden, die erlaubt sind, Mäßigung auferlegen, denn sie können leicht ausarten. Auch die erlaubten Begierden können ins Übermaß umschlagen. Deswegen müssen sie gemäßigt werden. Das Maßhalten ist eine Kardinaltugend. Wir müssen immer beherrschte Menschen sein und uns auch gelegentlich Enthaltsamkeit auferlegen. Beherrschung und Enthaltsamkeit sind die beiden Mittel, um die Mäßigung der Begierden zu lernen. Man muß sich im Erlaubten Abbruch tun, um das Unerlaubte meiden zu können.

Die zweite Weise, die Begierde zu regeln, ist die Bekämpfung. Man muß die ungeordnete Begierde bekämpfen. Das geschieht einmal dadurch, daß man keine Liebe zu einer Unordnung in sich aufkommen läßt. Meine lieben Freunde: „Nitimur in vetito“ – Wir neigen zum Verbotenen. Das ist unsere Erbschaft von Adam her. Die Erbsünde ist getilgt der Schuld nach, aber die Begierlichkeit ist geblieben zum Kampf, der uns aufgegeben ist und zur Demütigung, deren wir bedürfen, auch zur Erinnerung an unsere Abstammung von dem ersten Menschenpaar. Deswegen keine Liebe zur Unordnung in sich aufkommen lassen! Und wenn wir die Begierde spüren, dann den Anfängen widerstehen! „Principiis obsta, sero medicina paratur“, so haben die Heiden gesagt: Widerstehe den Anfängen, zu spät wird sonst die Arznei bereitet. Wenn man nämlich die Begierde einmal aufgehen läßt, wenn man sie einal wuchern läßt, dann ist es schwer, manchmal unmöglich, sie wieder in den Griff zu bekommen. Den Anfängen widerstehen, nicht begehren, was wir nicht haben dürfen, nicht sich sehnen nach dem, was uns verwehrt ist! Und sich auch nicht betören lassen durch die Begierde. Die Begierde ist ja schlau, weil der Teufel schlau ist. Sie spiegelt uns Scheingründe vor. Sie sagt zum BeispielWenn du dir diese Freude, diesen Genuß gewährst, dann hast du Freude und Ruhe, dann ist die Spannung von dir gefallen. Das Gegenteil ist der Fall: Die augenblickliche Entspannung weicht sehr rasch einer stärkeren Spannung, die dann eine größere Sünde hervorbringt. Nein, meine lieben Freunde, sich nicht durch Scheingründe betören lassen!

Und vor allem die Seele auf das Gute, auf das Schöne, auf das Rechte ausrichten! Unermüdlich und rastlos tätig sein, sich nicht dem Müßiggang übergeben, sondern immer eifrig wirken, möglichst zum Nutzen für andere, altruistisch wirken! Die Wendung zum anderen besitzt Heilkraft für uns selber. Man darf nicht meinen, wenn man sich selbst, in seinem engen privaten Bereich um Tugend bemüht, werde man ein begierdefreier Mensch werden. Nein, wir müssen die Begierde dadurch bekämpfen, daß wir uns dem Nächsten zuwenden; auch dem Nächsten, der nicht liebenswürdig ist, auch dem Nächsten, an dem uns nicht liegt. Wenn wir das tun, dann werden mit Sicherheit unsere letztlich aus dem Egoismus hervorwachsenden Begierden gemindert, wenn nicht überwunden.

„Liebe Freunde, enthaltet euch als Fremdlinge und Pilger auf dieser Erde der sündhaften Gelüste, die wider die Seele streiten!“ So schreibt der erste Papst, Petrus, in seinem ersten Brief. Wahrhaftig, das ist die Mahnung, die heute, am Ende des Kirchenjahres, an uns ergeht: „Enthaltet euch der fleischlichen Gelüste, die wider die Seele streiten!“

Amen.

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