Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
8. Oktober 1995

Der Wert der inneren Abtötung

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Eine Erbschaft der Ursünde ist das sinnliche Begehren in unseren Gliedern. Wir alle spüren, daß in uns eine Macht am Werke ist, die uns zum Bösen verführen will. Die Widerstände gegen das Gute, die wir spüren, müssen überwunden werden durch Selbstüberwindung, durch Selbstverleugnung, durch Abtötung. Abtötung ist ein Wort, das man nicht gern hört. Aber wir werden gleich sehen, daß die Abtötung, die hier gemeint ist, nicht das volle, starke, gesunde Leben ertöten will, sondern das kranke, das bresthafte, das dahinsiechende Leben. Abtötung besagt nicht, daß die Naturkräfte und die Naturtriebe unterdrückt werden sollen, es soll vielmehr nur ihre Unordnung bekämpft werden. Der Tod, der leibliche Tod, zerstört den Leib, das Prinzip unseres Handelns. Die Abtötung zerstört nicht die menschlichen Triebe, auch nicht das sinnliche Begehren zur Gänze, sondern nur dessen Unordnung. Abtötung ist also nicht eine Todeskraft, sondern eine Lebenskraft. Sie will das Verderben beseitigen, das dem segensreichen Wirken unserer Triebe und Antriebskräfte entgegensteht.

Die Abtötung wird uns in der Heiligen Schrift von allen Autoren nahegelegt. Besonders deutlich spricht darüber der Apostel Paulus. Im Galaterbrief schreibt er einmal: „Das Fleisch gelüstet wider den Geist, der Geist aber wider das Fleisch. Beide widerstreben einander, so daß ihr nicht das tut, was ihr wollt.“ Hier hat der Apostel Paulus die beiden entgegenstehenden Kräfte im Menschen benannt. Er nennt sie „Fleisch“ und „Geist“. Mit Fleisch ist nicht das materielle Substrat unseres Körpers gemeint, sondern die Hinfälligkeit des Menschen. Fleisch ist der irdische Sinn, das Haften am Vergänglichen, die Unterwerfung unter die Triebe. Und von ihnen sagt er: „Das Fleisch gelüstet wider den Geist, der Geist aber wider das Fleisch. Beide widerstreben einander.“ Es ist also ein Kampf im Menschen, „auf daß ihr nicht das tut, was ihr etwa wollt“. Und an einer anderen Stelle, im Römerbrief, heißt es: „Ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das dem Gesetze meines Geistes widerstreitet und mich gefangenhält unter dem Gesetze der Sünde, das in meinen Gliedern ist.“ Hier sieht er zwei Gesetze am Werk, das Gesetz in den Gliedern, damit sind natürlich auch die (ungeordneten) Strebungen des Menschen gemeint, und das Gesetz des Geistes. Und die beiden Gesetze widerstreben einander. Das eine zieht nach unten, das andere drängt nach oben. Von diesem doppelten Gesetz bemerkt der Apostel ein wenig weiter unten: „Wir sind Schuldner, nicht dem Fleische nach, um nach dem Fleische zu leben. Wenn ihr nach dem Fleische lebet, werdet iher sterben. Wenn ihr aber durch den Geist die Regungen des Fleisches tötet, werdet ihr leben.“ An dieser Stelle haben wir sogar das Wort Abtötung. „Wenn ihr durch den Geist die Regungen des Fleisches tötet, werdet ihr leben.“

Ich sage noch einmal: Damit sind nicht die natürlichen Kräfte gemeint, die vernichtet werden sollen, sondern damit ist das Ungeordnete in den Trieben und Leidenschaften gemeint, die in uns leben. Es gibt auch gute und heilsame Triebe; es gibt auch gute und heilsame Leidenschaften. Die Leidenschaft für das Gute, die Leidenschaft für die Gerechtigkeit, die soll nicht unterdrückt, die soll nicht ertötet werden, die soll gefördert und die soll begünstigt werden. Aber die niederziehenden Leidenschaften, die niederziehenden Triebe, die sollen bekämpft und überwunden werden.

Die Bekämpfung des Niederen ist eine Lebensaufgabe für jeden Menschen. Sie ist aus einem zweifachen Grunde gefordert, einmal als Buße, d.h. als Strafe für unsere Sünden, zum anderen als Mittel zur Bewahrung vor den Sünden. Wer sich alles Erlaubte gestattet, meine Freunde, ist nicht mehr weit vom Unerlaubten. Man muß sich im Erlaubten Abbruch tun, damit man die Kraft findet, das Unerlaubte zu meiden. Es ist ein ständiger Kampf in uns, und dieser Kampf muß das ganze Leben geführt werden.

Die Bekämpfung der niederziehenden Kräfte in uns ist eine Aufgabe, die besonders jenen gestellt ist, die durch Amt und Auftrag für andere verantwortlich sind, die zu einem höheren Maße an Vollkommenheit verpflichtet sind, die durch ihr Beispiel andere voranbringen, fördern, erziehen sollen. Ein Vater, eine Mutter, ein Lehrer, ein Priester, ein Offizier, ein Betriebsleiter, sie alle haben besondere Verantwortung dafür, daß sie das Niedere bekämpfen und die Seele freimachen für die Tugend. Die Tugend beginnt da, wo die Abtötung beginnt, und die Tugend schreitet da voran, wo die Abtötung voranschreitet. „Soviel wirst du im Guten vorankommen, als du dir selbst Gewalt antust“, heißt es in dem Buch von der Nachfolge Christi. „Soviel wirst du im Guten vorankommen, als du dir selbst Gewalt antust.“ Überwinden, ertragen, das Niedere bekämpfen, die Seele freimachen für das Höhere, das ist unsere ständige Aufgabe auf dieser Erde. Und ich sage noch einmal: Das Gesetz der Abtötung, das für alle gilt, gewinnt seine besondere Schärfe für diejenigen, denen andere anvertraut sind. Der Apostel Paulus war der vom Herrn gesandte Verkünder des Evangeliums, und er schreibt einmal: „Ich züchtige meinen Leib und bringe ihn in Botmäßigkeit, damit ich nicht, nachdem ich anderen Herold gewesen bin, selbst verworfen werde.“ Der Zusammenbruch von führenden Menschen ist immer ein besonderer Schrecken und Schaden für alle, die ihnen anvertraut sind. Deswegen müssen sie in besonderer Weise sich der Abtötung, der Selbstverleugnung verpflichtet wissen. Sie sollen sich ja auch den Menschen im guten Sinne anpassen, d.h. sie sollen auf ihre Eigenart, auf ihre Schwächen, auf ihre starken Seiten eingehen. Sie sollen sich der Menschen annehmen; sie sollen sie ertragen. Es ist nicht leicht, Menschen zu ertragen, aber dazu muß man sich eben erziehen. Man muß ein Mensch werden, der die anderen Menschen annimmt, der sich verstehend zeigt, wie es der Apostel Paulus einmal im Ersten Korintherbriefe bemerkt. Er schreibt da im 9. Kapitel: „Ich bin unabhängig von allen, aber ich habe mich doch zum Knechte aller gemacht, um recht viele zu gewinnen. Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, um Juden zu gewinnen. Denen, die unter dem Gesetze sind, war ich, als wäre ich unter dem Gesetze, obwohl ich nicht unter dem Gesetze bin, um die zu gewinnen, welche unter dem Gesetze sind. Denen, welche ohne Gesetz sind, bin ich wie einer der ihrigen geworden, obwohl ich nicht ohne Gesetz Gottes, sondern unter dem Gesetze Christi bin, um sie, die Gesetzlosen, zu gewinnen. Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, um die Schwachen zu gewinnen; allen bin ich alles geworden, um auf jeden Fall etliche zu retten.“

Sehen Sie, meine Freunde, an dieser Stelle hat der Apostel seine apostolische Verfahrensweise angegeben. Wer andere heraufziehen will, muß sich zu ihnen herabneigen. Wer anderen vorangehen will, muß ein Stück des Weges mit ihnen gehen. Er muß die Menschen verstehend und begreifend zu sich emporziehen, um sie auf diese Weise für Christus zu gewinnen.

Es gibt in unserer Natur Widerstand gegen die Abtötung. Wir alle kennen ihn nur zu gut. Wir alle wissen, daß ein doppeltes Gesetz in uns herrscht, ein Gesetz, das uns niederzieht, und ein anderes, das nach oben strebt. Aber gleichzeitig begreifen wir auch, daß in uns eine Sehnsucht nach dem Guten ist, daß wir ein Verlangen tragen, der Seele, dem Geist, der Vernunft die Herrschaft einzuräumen gegenüber den Trieben und gegenüber den Leidenschaften. Wir haben es ja schon oft erfahren. In der Aufregung der gehätschelten Leidenschaft empfinden wir Unruhe, und wenn die Aufregung sich gelegt hat, dann sind wir voll Bitterkeit und Reue und Scham. „Du hast es befohlen, o Gott, und so ist es, daß seine Strafe sich selbst ist jeder ungeordnete Geist.“ Ja, so ist es: Die Sünde trägt ihre Strafe in sich selber. Das Nachgeben gegenüber den Trieben trägt seine Strafe in sich selbst. Aber auch die Überwindung, wenn sie lange und beharrlich geübt wird, trägt ihren Lohn in sich selbst. Man tut das dann mit einer gewissen Selbstverständlichkeit, ja man empfindet sogar eine gewisse Befriedigung darin, daß man die Selbstbeherrschung, die Selbstverleugnung, die Abtötung geübt hat. Das Kreuz, meine lieben Freunde, ist ein Baum des Lebens. Wer davon ißt, wird leben. „Dem, der siegt, werde ich verborgenes Manna zu essen geben.“

Amen.

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