Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
14. Mai 1995

Die geschichtliche Entwicklung der Kirche

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir befassen uns seit einigen Sonntagen mit der Sichtbarkeit der Kirche. Unter dieser Sichtbarkeit ist nicht die materielle, sondern die formelle Sichtbarkeit verstanden. Materielle Sichtbarkeit besagt, daß Menschen äußerlich gesehen werden können, die sich als der Kirche zugehörig bezeichnen. Ob dieser Anspruch berechtigt ist, das ergibt sich daraus, ob sie auch wirklich zur Kirche gehören, ob sie auch formell die Sichtbarkeit der Kirche darstellen. Formelle Sichtbarkeit der Kirche besagt, daß die Kirche sichtbar ist in ihren Eigentümlichkeiten, in ihren Merkmalen, also im Glaubensbekenntnis, im katholischen Gottesdienst und in der Kirchenverfassung. Diese formelle Sichtbarkeit der Kirche hängt natürlich bis zu einem gewissen Grade von den Menschen der Kirche ab. Die Kirche ist sichtbar kraft ihres Wesens (auch) durch die Menschen, die sie jeweils bilden. Das Wesen tritt ja niemals rein, abgelöst von der Individualität auf. Es gibt nicht irgendeinen Menschen, wo man sagen kann: Das ist der Mensch, sondern es gibt nur den Menschen Gustav oder den Menschen Adolf; aber es gibt nicht den Menschen. Und ähnlich kann man auch nicht sagen: Das ist die Kirche. Man kann immer nur sagen: Das ist die Kirche des 3. Jahrhunderts, des 12. Jahrhunderts oder des 20. Jahrhunderts. Die Kirche verwirklicht also ihr Wesen jeweils nur in konkreter Gestalt. Sie hat auch ein Wachstum, ähnlich-unähnlich wie es bei Christus war. Von ihm wird in der Heiligen Schrift berichtet: „Er nahm zu an Alter und Weisheit und Gnade vor Gott und den Menschen.“ Das Göttliche in Christus war keines Wachstums fähig, aber das Menschliche in Christus war sehr wohl einer Veränderung fähig und bedürftig.

Ähnlich ist es auch mit der Kirche. Zwischen einer Eichel und einem Eichbaum scheint ein unüberbrückbarer Gegensatz zu sein. Und doch ist es kein Gegensatz, denn die ausgewachsene Eiche hat sich aus einer Eichel entwickelt; und das, was in der Eichel angelegt war, hat sich im Eichbaum entfaltet. Man kann also nicht einen Gegensatz zwischen der Eichel und dem Eichbaum konstruieren, sondern man muß sagen, die Eichel hat die Anlagen in sich, die im Eichbaum entfaltet sind, und der Eichbaum ist das Ergebnis der Entwicklung, die in der Eichel angelegt war.

Man kann das Datum der Geburt der Kirche auf die Stunde genau angeben. Es war die dritte Stunde am Pfingsttage. Da trat die Kirche in der Kraft des Heiligen Geistes fertig vor die Öffentlichkeit. Die Kirche, die damals um die dritte Stunde des Pfingsttages aus dem Saal, in dem die Jünger versammelt waren, hinaustrat, ist dieselbe Kirche, die wir heute bekennen und in der wir uns befinden. Aber es ist eine Kirche, die einen Weg von 2000 Jahren zurückgelegt hat. Es ist eine Kirche, in die ganze Völkerschaften verschiedenster Art eingetreten sind. Es ist eine Kirche, in welche diese Völker ihre Eigenart mitgebracht haben, also die Griechen ihre Philosophie, die Römer ihre Staatskunst, die Germanen ihre Unruhe und Gottinnigkeit. Das Wesen der Kirche bleibt unwandelbar, aber was sich an das Wesen anlagert und was dazu dient, das Wesen sichtbar zu machen, das ändert sich. Und bei diesen Dingen kann es eine größere oder eine geringere Annäherung an das Wesen geben. In der Verkündigung des Wortes, in der Gestaltung des Gottesdienstes, in dem Ausbau der Verfassung kann das Wesen der Kirche mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck kommen.

Als die Apostel auszogen, um das Evangelium zu verkünden, da brauchte man eigentlich nur einen einzigen Satz zu bekennen, um Anspruch auf die Taufe zu erheben, nämlich man mußte bekennen: „Jesus ist der Christus, der Messias.“ Das genügte, wie wir von dem ägyptischen Kämmerer wissen, der von Philippus getauft wurde. Er bekannte: „Jesus ist der Christus“, hier war Wasser, so wurde er getauft. Aber dieses knappe Bekenntnis reichte allmählich nicht mehr aus, denn es bestanden verschiedene Ansichten, wer der Messias sei. Und so mußte man die griechische Philosophie zu Hilfe rufen, um diesen Jesus genauer zu beschreiben. Das Ergebnis liegt vor in den Lehrsätzen der Konzilien von Nizäa und Chalkedon. Diese Konzilien haben über Jesus ausgesagt: „Er ist der wahrhaftige Sohn Gottes.“ Sie haben die Trinität bestimmt mit den Worten: „Ein Wesen in drei Personen.“ Diese Worte stehen ja nicht in der Heiligen Schrift. Weder das Wort Wesen (ousia) noch das Wort Person (prosopon) findet sich in der Heiligen Schrift. Die griechische Philosophie hat sie uns geliefert. Aber daß diese Begriffe zutreffen, daß sie die Wirklichkeit erfassen, daß sie das Wesen des Christentums und seines Christus nicht verfälschen, das verbürgt uns der Heilige Geist. Er ist es, der die Kirche in alle Wahrheit einführt, wie es im heutigen Evangelium heißt. Und so haben die verschiedenen Völker jeweils etwas von ihrer Eigenart in die Kirche eingebracht, und es ist der Kirche zu allen Zeiten aufgegeben, ihr Wesen so rein wie möglich und so klar wie möglich darzustellen.

Die Kirche lebt in der Welt, und sie muß der Welt das Christusleben eingestalten. Sie muß also bis zu einem gewissen Grade in die Welt hineingehen und der Welt in einer Sprache, die sie versteht, die Christuswahrheit verkünden. Sie muß ihren Gottesdienst in einer Weise gestalten, die die Menschen begreifen, erfassen und vollziehen können. Das ist das ständig neu aufgegebene Streben der Kirche: ihr Wesen zu bewahren, aber es in einer Weise darzubieten, daß es die Menschen ergreifen und erfassen.

Dabei erheben sich selbstverständlich Gefahren. Man kann Formen finden, die das Wesen besser ausdrücken, und andere, die es weniger gut wiedergeben. Es gibt Veränderungen, die zulässig sind, es gibt aber auch Veränderungen, die unzulässig sind. Es gibt notwendige und nützliche Veränderungen am Erscheinungsbild der Kirche. Es gibt aber auch überflüssige und schädliche Veränderungen. Es gibt sogar die beängstigende Möglichkeit, durch Veränderungen das Wesen der Kirche zu wandeln. Ich will es an einigen Beispielen zu erhellen versuchen.

Die großen Päpste bis Pius XII., ja bis zu Johannes XXIII. haben die lateinische Sprache als ein allen sichtbares Zeichen der Einheit der Kirche gepriesen und tausendfach hervorgehoben. Wir alle wissen, daß dieses Zeichen der Einheit der Kirche beinahe verschwunden ist – gegen den erklärten Willen des II. Vatikanischen Konzils, wo es heißt: „Der Gebrauch der lateinischen Sprache ist beizubehalten.“ Aber die Entwicklung ist über diese Bestimmung hinweggegangen. Die lateinische Sprache ist so gut wie verschwunden. Ist das ein Gewinn für die Kirche, oder ist das ein Verlust? Wird dadurch ihre Einheit deutlicher sichtbar oder weniger deutlich? Jeder mag sich die Antwort geben.

Oder denken Sie an die Veränderungen im Gottesdienst. Das II. Vatikanische Konzil sagt: „Es sollen Änderungen im Gottesdienst nur getroffen werden, wenn der wahre und sichere Nutzen der Kirche sie fordert.“ Der wahre und sichere Nutzen. Prüfen Sie unter diesem Kriterium die seit dreißig Jahren in der Kirche erfolgten Veränderungen im Gottesdienst, in der heiligen Messe, bei der Sakramentenspendung, im Breviergebet. Hat der wahre und sichere Nutzen der Kirche alle diese Änderungen oder auch nur wenige von ihnen gefordert? Jeder möge sich die Antwort dazu selber geben.

Und noch ein letztes Beispiel. Die Kirche hat es immer als höchst angemessen erkannt, daß der Priester im Wesen und in der Lebensform Christus möglichst angenähert wird. Deswegen spendet sie das Sakrament der Priesterweihe, und das ist eine Wesensannäherung an Christus. Da wird der Geweihte Christus verähnlicht, insofern eben Christus Priester war. Die Kirche hat sich aber auch bemüht, das Erscheinungsbild des Priesters diesem Wesen möglichst anzupassen. Christus war ganz dem Vater im Himmel hingegeben und hat darum auf die irdischen Formen der Ehe und Familie verzichtet. So sollte auch der Priester auf Ehe und Familie verzichten, um einer größeren Familie Vater und Hirte sein zu können. Bis zum II. Vaticanum war das Weihesakrament ganz klar mit dem Gebot der Ehelosigkeit, der völligen geschlechtlichen Enthaltsamkeit verknüpft. Das II. Vaticanum hat den ersten Einbruch gebracht. Seit dem II. Vatikanischen Konzil gibt es den verheirateten Diakon. Ich sehe darin keinen Gewinn. Die Kirche braucht keine Diakone, sie braucht Priester. Denn was der Diakon tun kann, das kann auch jeder Laie tun. Indem man aber den verheirateten Diakon eingeführte, schuf man den ersten Einbruch in das Zölibatsgesetz. Und diese Bresche wird nun von beflissenen Modernisten benutzt, um auch die andere Säule, nämlich das zölibatäre Priestertum, zu Fall zu bringen. Jedermann weiß, daß damit das Priestertum als solches unmittelbar nicht betroffen wäre, aber der Ausdruck des Priestertums, sein Erscheinungsbild, das, was ihm offensichtlich höchst angemessen ist, würde dadurch unwiederbringlich Schaden erleiden.

Die Kirche ist sichtbar in ihrem Glaubensbekenntnis, in ihrem Gottesdienst, in ihrer Verfassung. Diese Verfassung ist in ihren Grundzügen von Christus festgelegt. Er hat die Apostel berufen. Er hat innerhalb der Apostel einen Ersten bestellt, den Petrus. Das ist die grundlegende Verfassung der Kirche. In Deutschland hat man neben dieser von Christus begründeten Hierarchie seit einigen Jahrzehnten eine zweite Hierarchie aufgebaut, eine Hierarchie der Räte, die von dem Pfarrgemeinderat bis zum Zentralkomitee reicht und die neben die Hierarchie göttlichen Rechtes tritt. Ich frage: Wird dadurch die Verfassung der Kirche deutlicher oder wird sie verundeutlicht? Jetzt sprechen plötzlich Hierarchen einer göttlichen Ordnung und Hierarchen einer menschlichen Ordnung mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit. Das Zentralkomitee redet zu fast allen Gegenständen, so wie auch die Bischofskonferenz, die es legitim tut. Wir werden nicht um die Entscheidung herumkommen, ob wir uns auf die Dauer eine solche Doppelung gefallen lassen können oder ob sie eines Tages verschwinden muß, um das reine Wesen der Kirche wieder deutlich vor aller Augen darzustellen.

Es gibt eben auch das Bemühen, durch Veränderungen im Erscheinungsbild das Wesen der Kirche zu treffen. Immer wieder erleben wir, wie Theologen, vom Protestantismus angekränkelt, die Kirche im protestantischen Sinne modeln wollen, indem sie neben den Bischof die verschiedenen Räte setzen, die ja den Synoden im Protestantismus entsprechen, und indem sie den Papst einbinden wollen in die Mitsprache anderer, die nicht an seiner Gewaltenfülle teilhaben. Gegen diese Versuche haben wir die heilige Pflicht, aufzustehen, um das Wesen der Kirche unversehrt und unverändert zu bewahren. Die Kirche muß gewiß bis zu einem gewissen Grade auf die wechselnden Zeiten und Verhältnisse Rücksicht nehmen. Selbstverständlich. Wenn es ein Zeitalter gibt, in dem die Massenmedien beherrschend sind, dann muß sie sich der Massenmedien bedienen, dann muß sie Zeitungen und Zeitschriften herausgeben, dann muß sie sich im Fernsehen und im Rundfunk zu Worte melden, dann muß sie Filme veranlassen, in denen der Glaube verkündet wird. Das ist durchaus legitim, ja das ist notwendig. Aber was sie nicht tun darf, das ist, sich den falschen Ansichten und Praktiken einer aus den Fugen geratenen Welt anzupassen.

Die Kirche weiß, was die Ehe ist. Die Ehe ist der heilige Bund zweier Menschen, die sich ganz übereignen, wo Christus der Dritte im Bunde ist – die Ehe ist ein Dreibund – und wo die Menschen auf göttliche Gebote festgelegt sind. Die Entstehung neuen Lebens ist an die Ehe gebunden. Durch die liebende Vereinigung der Gatten entsteht nach Gottes Willen neues Leben. Aber diese Vereinigung ist die einzige legitime Möglichkeit, wie neues Leben entstehen soll. Die Kirche weist deswegen die Versuchung ab, neues Leben auch außerhalb der Ehe entstehen zu lassen, neues Leben im Reagenzglas zu züchten oder durch künstliche Befruchtung neues Leben entstehen zu lassen. Das ist nicht menschlich, sagt die Kirche, weil es nicht von Gott gewollt ist. Die Kirche muß deswegen zu vielem, was sich heute tut und erklärt wird, ihr Nein sagen. Aber dieses Nein ist ein geheimes Ja, nämlich zu Gottes Willen und zur Würde des Menschen.

Die Kirche lebt aus der Tradition. Sie muß an dem festhalten, was ihr von ihrem Stifter gegeben ist. Das Neue, was auftritt, muß das entfaltete Alte sein. Und im Alten muß der Keim des Neuen verborgen sein. Die Kirche hat unüberschreitbare Grenzen, die sie nicht nur zu ihrem eigenen Schaden, sondern auch zum Schaden der Menschheit nicht überschreiten darf. Anpassungswillige Religionen gibt es genug. Der Protestantismus ist eine solche anpassungswillige Religion. Im Kaiserreich hat er den deutschen Imperialismus mitgetragen, in der Zeit des Dritten Reiches hat er auf die Fanfaren der Hitlerbewegung gehört, und heute macht er auf dem linken Spektrum Politik; denn links ist heute in. Nicht so die Kirche. Sie muß ihr göttliches Wesen durch die Zeit tragen, auf die Strömungen horchen und sich der Mittel bedienen, welche die neue Zeit bietet. Aber sie muß stets aus den unverfälschten Quellen des Glaubens schöpfen und das bewahren, was der Herr als ihr Pfand in sie hineingelegt hat.

Und da kommt auch unsere Aufgabe zum Vorschein. Wir haben die heilige Pflicht, zu unserem Teil die Sichtbarkeit der Kirche zu verwirklichen – durch unser Stehen im vollen und ganzen Glauben, durch einen würdigen, einen gotteswürdigen Gottesdienst, den wir feiern und an dem wir teilnehmen, durch treues Festhalten an der Kirchenverfassung, so schwer es manchmal dem Einzelnen werden mag. Wenn nämlich dem legitim gebietenden Bischof nicht mehr gehorcht wird, wenn dem legitim gebietenden Heiligen Vater der Gehorsam verweigert wird – wie beispielsweise in weiten Teilen der Schweiz –, da verschwindet zu ihrem Teil die Sichtbarkeit der Kirche in ihrer Verfassung. Wo der katholische Gottesdienst in eine protestantische Abendmahlsfeier oder in Spielerei und Mätzchen verwandelt wird, da verliert die Kirche zum Teil ihre Sichtbarkeit im Gottesdienst. Und wo das Glaubensbekenntnis verfälscht und ausgehöhlt wird, da schwindet die Sichtbarkeit der Kirche in ihrem Glauben. Es ist deswegen meines Erachtens unverantwortlich, Personen, die offenkundig vom katholischen Glauben abgefallen sind, weiter als Katholiken zu bezeichnen, ja predigen zu lassen und in katholischen Kirchen Gottesdienste halten zu lassen. Sie müßten längst exkommuniziert sein, um den klaren Schnitt hervorzubringen zwischen Glauben und Unglauben, zwischen Sichtbarkeit der Kirche und Abspaltungen von ihr.

Wir wollen uns diese schlechten Beispiele nicht zum Vorbild dienen lassen, sondern wir wollen an dem festhalten, was wir überkommen haben, im Vertrauen, daß Gott eines Tages auch die unzulässigen oder unzulänglichen Formen, mit denen heute das Wesen der Kirche ausgedrückt wird, zerschlägt und eine Zeit heraufführt, in der ihr Wesen wieder deutlich sichtbar vor aller Augen erscheint, damit die Kirche wieder die Stadt auf dem Berge wird, zu der die Völker wallen, um das Heil zu gewinnen.

Amen.

Schrift
Seitenanzeige für große Bildschirme
Anzeige: Vereinfacht / Klein
Schrift: Kleiner / Größer
Druckversion dieser Predigt