Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
7. August 1988

Das Wesen der Rechtfertigung

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir hatten am vergangenen Sonntag von der Vorbereitung auf die Rechtfertigung gesprochen. Rechtfertigung ist die Versetzung aus dem Zustand der Todsünde in den Zustand der heiligmachenden Gnade. Diese Wirkung kann nur Gott hervorbringen, aber der Mensch muß sich beteiligen. Er muß sich vorbereiten, durch Glaube, durch Reue, durch den Anfang der Gottesliebe, durch Furcht vor der Gerechtigkeit Gottes, durch Abscheu vor der Sünde. Wenn die Rechtfertigung als Vorgang beendet ist, dann beginnt die Rechtfertigung als Zustand, d.h. man lebt in der heiligmachenden Gnade. Wer die heiligmachende Gnade einmal gewonnen hat, in dem ist jetzt das Leben der heiligmachenden Gnade.

Das ist das Thema unserer heutigen Überlegung. Was ist denn die heiligmachende Gnade? Was ist das für ein Geheimnis um die Rechtfertigung in unserer Seele? – Wir wollen zwei Fragen stellen, nämlich

1. Welches ist das ontologische, also das Seinswesen der heiligmachenden Gnade?

2. Welches ist das theologische, auf Gott bezügliche Wesen der heiligmachenden Gnade?

Was ist die heiligmachende Gnade also erstens ihrem Sein nach? Nun, da ist die Antwort doppelt. Sie lautet einmal: Die heiligmachende Gnade ist eine von Gott real verschiedene, geschaffene, übernatürliche Gabe. Eine von Gott real verschiedene, geschaffene übernatürliche Gabe. Die heiligmachende Gnade ist also nicht gleich Gott. Die heiligmachende Gnade ist nicht gleich der Heilige Geist in unserer Seele, sondern sie ist davon verschieden. Eine geschaffene – Gott ist ja ungeschaffen – eine geschaffene, übernatürliche Gabe. Es hat an Theologen nicht gefehlt, die behaupten, die heiligmachende Gnade sei der Heilige Geist in unserer Seele. Nein, er ist davon verschieden. Das Konzil von Trient sagt, daß wir gerechtfertigt werden „nicht durch die Gerechtigkeit, die Gott ist, sondern die er uns bezeigt“, die er an uns auswirkt. Und so heißt es auch im Römerbrief: „Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns geschenkt ward.“ Durch den Heiligen Geist ist die Liebe Gottes, die heiligmachende Gnade, ausgegossen, nicht der Heilige Geist selbst ist die heiligmachende Gnade. Nein, es muß daran festgehalten werden: Heiligmachende Gnade und Einwohnung des Heiligen Geistes, die ja damit verbunden ist, wie wir noch hören werden, sind verschieden.

Die heiligmachende Gnade ist ein von Gott eingegossenes, der Seele anhaftendes übernatürliches Sein – der Seele eingegossenes, der Seele anhaftendes übernatürliches Sein. Es ist wichtig, das zu sagen, denn die Irrlehrer des 16. Jahrhunderts haben auch das bestritten. Nach Luther ist die heiligmachende Gnade nichts anderes als die Huld Gottes, durch die er die Sünde nicht anrechnet und die Gerechtigkeit Gottes anrechnet. Nach dieser Irrlehre bleibt die heiligmachende Gnade draußen, außerhalb des Menschen, ist sie nur eine Geneigtheit, ein Wohlwollen, eine Huld Gottes. Es ändert sich in der Seele garnichts.

Das ist die falsche Lehre. Dagegen hat die Kirche daran festgehalten, daß die heiligmachende Gnade ein von Gott eingegossenes, der Seele anhaftendes übernatürliches Sein ist, also nicht nur etwas in der Gesinnung Gottes, sondern etwas in der Wirklichkeit des Menschen. Die Kirche kann sich dabei auf viele Stellen der Heiligen Schrift berufen, etwa auf den 1. Johannesbrief, wo es heißt: „Jeder, der aus Gott gezeugt ist, tut keine Sünde, weil sein Same in ihm bleibt.“ Weil sein Same in ihm bleibt! Also nicht bloß etwas Vorübergehendes, sondern etwas Bleibendes hat Gott in die Seele gelegt, eine Neuschöpfung, eine Wiedergeburt, eine Heiligung, etwas, was der Seele inhäriert, anhaftet. Und so hat die Theologie auch diese heiligmachende Gnade beschrieben mit den Ausdrücken der Qualität und des Habitus. Qualität, also Eigenschaft, und Habitus, das heißt bleibende Fertigkeit im Menschen. Das war alles notwendig. Man muß die Bilder der Heiligen Schrift – Same ist ja ein Bild – in Begriffe fassen, damit man die Wirklichkeit ihrer Aussage in den Griff bekommt – Begriff und Griff haben ja schon sprachlich etwas miteinander zu tun – und damit man sie vor allen Dingen gegen falsche Auslegungen verteidigen kann.

In den Missionen in Amerika war eine Reihe von Neubekehrten, und an sie machte sich nun ein protestantischer Sektenprediger heran und wollte sie vom katholischen Glauben abspenstig machen. Er machte es geschickt, er gab ihnen Geschenke. Und dann sagte er den neubekehrten Katholiken: „Euer Priester liebt euch nicht, denn er gibt euch keine Geschenke. Er gibt euch keinen Tabak und keine Kleider.“ Da sagte einer der Neubekehrten zu ihm: „Kannst du in meine Seele schauen?“ „Nein.“ „Wenn du in meine Seele schauen könntest, dann würdest du sehen, daß der Schwarzrock (also der Priester) uns Geschenke gibt, große Geschenke. Durch das Blut Jesu nimmt er mir die Sünden weg, und wenn ich kommuniziere, legt er mir den Leib des Herrn in die Seele. Diese Geschenke bleiben. Dein Tabak geht in Rauch auf, und die Kleider werden zuschanden. Aber was der Schwarzrock in meine Seele legt, das bleibt und verharrt.“

Sehen Sie, meine lieben Freunde, dieser schlichte Indianer hatte etwas begriffen vom Wesen der heiligmachenden Gnade. Er hatte mit eigenen Worten ausgedrückt, daß die heiligmachende Gnade eine der Seele eingegossene, bleibende, der Seele anhaftende göttliche Wirklichkeit ist.

Und da sind wir auch schon bei der Behandlung der zweiten Frage: Wie verhält sich denn die heiligmachende Gnade zu Gott? Nun, da können wir sagen: Die heiligmachende Gnade vermittelt uns eine Teilnahme an der göttlichen Natur. Ja, so groß muß man die heiligmachende Gnade beschreiben: Wir nehmen teil an der göttlichen Natur.

Wenn der Priester in der heiligen Messe auf der rechten Seite des Altares Wein und Wasser mischt – es kommt ja ein Tropfen Wasser in den Wein –, da spricht er ein wunderbares Gebet; in dem Gebet heißt es: „Laß uns durch das Geheimnis dieses Wassers und Weines teilnehmen an der Gottheit dessen, der sich herabgelassen hat, unsere Menschennatur anzunehmen.“ Und am Feste Christi Himmelfahrt wird gesagt, daß der Herr über alle Himmel emporgestiegen ist, um uns seiner göttlichen Natur teilhaftig zu machen. Da haben wir es. Teilhaftig werden der göttlichen Natur, das ist die heiligmachende Gnade.

Und auch dafür gibt es biblische Zeugnisse. Im 2. Petrusbrief heißt es, daß wir teilhaftig würden der göttlichen Natur. Der Apostel sagt dort sinngemäß: „Gott hat durch seine Herrlichkeit und Kraft uns der göttlichen Natur teilhaftig gemacht.“ Das sind gewaltige Aussagen, und natürlich müssen wir versuchen, sie näher zu bestimmen, denn auch hier kann man in die Irre gehen. Der Mensch wird ja nicht Gott,  wird nicht, wie der Pantheismus lehrt, in Gott umgewandelt. Er bleibt Mensch. Es wäre eine Irrlehre, wenn man sagen würde, aus dem Menschen würde Gott. Es ist aber auch nicht bloß so, daß die heiligmachende Gnade eine Nachahmung der Tugenden Gottes uns vermittelt, sondern sie ist tatsächlich eine physische Verbindung mit Gott durch eine geschaffene Gnade, durch eine geschaffene Gabe. Die heiligmachende Gnade ist eine wirkliche Verähnlichung und Vereinigung mit Gott. So hat es schon im 6. Jahrhundert ein großer Theologe ausgedrückt, indem er sagt: „Die heiligmachende Gnade bringt die größtmögliche Verähnlichung und Vereinigung mit Gott.“

Also das bedeutet es: Teilhaftig der göttlichen Natur. Unsere Seele wird verähnlicht und vereinigt mit Gott. Wir werden zur similitudo dei, wie die Theologen sagen, zur Ähnlichkeit, zum Gleichbild mit Gott. Mit seiner Heiligkeit, mit seiner Geistigkeit werden wir verähnlicht. Und was hier anfängt, das wird vollendet in der Ewigkeit. Wenn der heilige Johannes in seinem Evangelium oft davon spricht: „Ihr habt das ewige Leben in euch,“ – das ewige Leben in euch! – da will er auf die bleibende Qualität der heiligmachenden Gnade hinweisen. Was hier beginnt, in der heiligmachenden Gnade, das wird vollendet in der Glorie, in der Herrlichkeit des Himmels. Nur fallen dort eben die Schuppen von den Augen, aber die Wirklichkeit des ewigen Lebens, die ist schon jetzt in der heiligmachenden Gnade uns geschenkt.

Dann, wenn die Hüllen fallen, wenn wir vom Körper getrennt sind, dann beginnt der Glanz der unverhüllten Herrlichkeit sich auszuwirken, dann werden wir Gott schauen, wie er ist, dann gewinnt das ewige Leben, das Gott in der heiligmachenden Gnade in uns gesenkt hat, seine Vollendung. Das ewige Leben in der Ewigkeit, das ist nichts anderes als die Vollendung dessen, was auf Erden schon begonnen hat.

Das ist der Grund, meine lieben Freunde, warum wir die heiligmachende Gnade so schätzen, warum wir alles tun müssen, um in der heiligmachenden Gnade zu verharren, warum wir alles meiden müssen, wodurch wir sie verlieren, warum wir alles tun müssen, um sie wieder zu erwerben, wenn wir sie verloren haben.

In der Zeit der Christenverfolgung wurde der heilige Lucian neun Jahre lang im Gefängnis wegen seines Glaubens festgehalten. Man gab ihm nichts zu essen, man ließ ihn hungern, und dann setzte man ihm wunderbare Speisen vor, die aber zuvor bei den Götzen gewesen waren. Er nahm sie nicht. Man quälte ihn, man zerriß ihm den Leib, man legte ihn 14 Tage auf Scherben. Der heilige Lucian hat alle diese Qualen erduldet. Er wußte, wofür er es tat. Er wollte das ewige Leben seiner Seele nicht verlieren, und für dieses ewige Leben lohnte es sich, Qualen auf Erden zu erdulden.

Das soll uns eine Mahnung sein, meine lieben Freunde, das heiligmachende Gnadenleben in unserer Seele hochzuschätzen, es vor allen Gefahren zu bewahren, es zu pflegen und zu hüten, damit sich in der Ewigkeit vollenden kann, was hier begonnen hat.

 Amen.

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