Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
26. Oktober 1986

Pflichten gegen fremdes Leben

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Vor zwei Wochen haben wir den ersten Teil des 5. Gebotes betrachtet: „Du sollst nicht töten!“ Dieser erste Teil befaßt sich mit den Pflichten gegen das eigene Leben. Der zweite Teil, den wir uns heute vornehmen, geht auf die Pflichten am fremden Leben. Das 5. Gebot verlangt von uns, daß wir fremdes Leben achten. Das bedeutet

1. daß wir dem Nächsten am leiblichen Leben nicht schaden, und

2. daß wir ihm an seiner Seele keinen Schaden zufügen.

Man kann den Leib töten, man kann aber auch die Seele morden. Die ersten Pflichten richten sich gegen das leibliche Leben des anderen. Man darf Nächsten nicht hassen, man darf ihm keinen Schaden zufügen, man darf ihn nicht ungerecht und absichtlich töten.

Der Haß ist ein Vernichtungsaffekt. Wer haßt, wünscht dem anderen Schaden zuzufügen, kleinen oder großen Schaden. In seiner Abneigung, in seiner Erbitterung gegen den anderen möchte er, daß es ihm schlecht geht, daß ihm Unheil und Ungemach zugefügt werden. Vom Haß kündet die Heilige Schrift schon auf den ersten Seiten. Esau haßte seinen Bruder Jakob, Kain haßte seinen Bruder Abel. Vom Haß wird berichtet in der Königsgeschichte. Der König Saul haßte den David. Die Söhne Jakobs haßten ihren Bruder Josef und wollten ihn töten auf dem Felde; Ruben verhütete, daß ihr Haß zum Mord wurde.

Der Haß ist immer eine schwere Sünde. Er ist eine Wurzelsünde, eine Grundsünde, eine Sünde, die viele andere Sünden nach sich zieht. „Wer seinen Bruder haßt, ist ein Mörder,“ sagt der Apostel Johannes. Warum? Weil der Wille für die Tat steht, weil die Absicht, dem anderen Schaden, womöglich den Tod zuzufügen, schon fast so schlimm wie Mord ist. Das 5. Gebot verbietet den Haß.

Es wendet sich aber auch dagegen, daß wir dem Nächsten am leiblichen Leben schaden. Ein häufiger Fall, wie den anderen Schaden zugefügt wird, ist der Streit. Der Zank schadet dem Nächsten. Der andere wird aufgeregt, es wird ihm die innere Ruhe geraubt, die Zufriedenheit. Streit hat schädliche Auswirkungen auch auf das körperliche Leben. Der Zwist verursacht Nervenkrankheiten, hohen Blutdruck, Schlaganfälle. Wir dürfen dem Nächsten keinen Schaden zufügen durch Schläge. Das ist keine bloß theoretische Aussage, meine lieben Freunde. In vielen Familien gibt es Schläge zwischen den Ehegatten. Sehr viele Frauen wissen zu berichten, daß sie von ihren Männern geschlagen worden sind. Schläge sind eine Auswirkung der Abneigung, der Unbeherrschtheit, der Rücksichtslosigkeit. In der Gegenwart lesen wir oft von einem weiteren schweren Vergehen gegen das 5. Gebot, nämlich der Verfälschung von Lebensmitteln. Wir hören von gepanschten Weinen, von verfälschten anderen Lebensmitteln wie Mehlspeisen, Milchpulver. Auf diese Weise wird dem Nächsten auch Schaden zugefügt, schwerer Schaden, oft unbehebbarer Schaden an der Gesundheit. Im Mittelalter wurden Lebensmittelverfälscher mit ihren Waren lebendig begraben. So streng hat man dieses Vergehen geahndet. Wir dürfen dem Nächsten keinen Schaden an seiner Gesundheit zufügen.

Wir dürfen ihn noch viel weniger ungerecht oder heimtückisch oder grausam töten. Das nennt man Mord. Und wie wir jeden Tag aus der Zeitung entnehmen können, ist der Mord nicht selten. Gemordet wird allenthalben und überall. Der Mord ist immer eine schwere Sünde, er raubt dem Menschen das Wertvollste, was er – irdisch gesehen – besitzt, nämlich sein Leben. Er verkürzt seine Lebenszeit und damit auch die Spanne, die er hätte, um sich Verdienste für den Himmel zu sammeln. Mord ist die Vollendung des Hasses gegen den Nächsten.

Nun ist allerdings das 5. Gebot auch schon manchmal mißverstanden worden. Du sollst nicht töten, das kann nicht heißen, daß die Beförderung vom Leben zum Tod absolut und in jedem Falle verboten sei. Das 5. Gebot will dem Unrecht wehren, aber nicht dem Recht. Und die Kirche hat durch zweitausend Jahre das Recht auf Notwehr verteidigt. Gegen einen gegenwärtigen gewaltsamen, das Leben bedrohenden Angriff darf sich der Mensch schützen. Er darf sich schützen, indem er den Angreifer niederschlägt und – unter Umständen – tötet. Das ist kein Vergehen gegen das 5. Gebot. Denn hier wird ja gar nicht einmal der Tod des anderen beabsichtigt, sondern der Schutz des eigenen Lebens; und wegen dieses guten Zweckes ist es gestattet, den ungerechten Angreifer abzuwehren.

Freilich soll man zunächst andere Mittel anwenden, um den Angriff abzuwehren. Man soll fliehen, man soll den anderen niederschlagen. Erst wenn das alles nichts hilft, ist die Tötung des ungerechten, das Leben bedrohenden Angreifers gerechtfertigt. Notwehr darf man üben nicht nur bei einem Angriff auf sich selbst, Notwehr darf man auch üben bei einem Angriff auf den Nächsten. Schon im Alten Testament wird berichtet, wie Moses einen Ägypter tötete, der einen Israeliten ungerecht bedrängte. Der Angriff, der sich auf die Gemeinschaft, auf das Volk richtet, darf ebenfalls durch Notwehr abgewiesen werden. Es gibt eine gesellschaftliche, eine Volksnotwehr, und sie hat zwei Gesichter. Einmal führt die Obrigkeit das Schwert; und wenn es zum Schutz der Gemeinschaft notwendig ist, die schwersten Verbrecher zur Hinrichtung zu führen, so erhebt die Kirche dagegen vom Glauben her keinen Einspruch. Die Todesstrafe ist legitim. Wenn sie nicht angewandt wird, dann ist das eine politische Maßnahme, aber das Recht der Obrigkeit, schwerste Verbrecher zum Tode zu bringen, ist unbestritten. Das ist die Notwehr der Gesellschaft. Sie wehrt sich hier gegen einen ungerechten Angreifer, der ihren Frieden, ihre Ruhe, ihre Ordnung bedroht. Selbstverständlich muß das die letzte Waffe sein. Zunächst müssen andere Mittel angewendet werden. Aber wenn sie versagen, dann hat die Obrigkeit das Recht, die Todesstrafe zu verhängen und zu vollstrecken.

Ähnlich ist es mit dem Kriegsdient. Ecclesia non sitit sanguinem – Die Kirche dürstet nicht nach Blut, ganz gewiß nicht. Aber sie hat den Wehrdienst, sie hat den Kriegsdienst, sie hat den Kampf, den gerechten Kampf, niemals verurteilt. Der Staat, die Nation, das Volk hat das Recht, sein Leben, sein Eigenleben gegen den ungerechten Angreifer von außen zu verteidigen. Die Nation hat deswegen auch das Recht, von ihren Männern den Wehrdienst zu fordern. Im Evangelium ist nirgends die Rede davon, daß Christus ein Pazifist gewesen sei. Der Vorläufer des Herrn, Johannes der Täufer, hat, als die Soldaten zu ihm kamen und fragten: „Was sollen wir denn tun? Du predigst die Buße, die Bekehrung. Was sollen wir tun?“, da hat er nicht gesagt: Legt euere Waffen ab, sondern da hat er gesagt: „Seid mit euerem Lohn zufrieden und bedrückt niemanden ungerecht!“

So gibt es denn auch viele Kriegsleute, die Gott angenehm waren, wie der König David, wie der Hauptmann Cornelius in der Apostelgeschichte. Wir haben viele Soldatenheilige in unserer Kirche, von Florian angefangen über Goegr bis zu Sankt Martin. Die Kirche hat die gerechte Selbstverteidigung eines Landes, auch mit der Waffe, niemals grundsätzlich verworfen. Das ist kein Verstoß gegen das 5. Gebot.

Das sind die Verfehlungen gegen das leibliche Leben. Aber das 5. Gebot verbietet auch die Verfehlungen gegen das geistige Leben. Es untersagt Verführung und Ärgernis. Verführung ist die auf schlaue Weise geschehende Bemühung, einen anderen zur Sünde zu bringen. Der Urverführer ist der Satan. Er verleitete die ersten Menschen im Paradiese zu der Sünde des Hochmuts, des Ungehorsams, der Unbeherrschtheit, und seitdem hat die Verführung nicht mehr aufgehört. Die heiligen Martyrer wissen aus ihrer Lebensgeschichte zu berichten, wie sie verführt werden sollten, Christus das Zeugnis zu verweigern. Der Prokonsul bemühte sich, den greisen Polykarp von Smyrna – 86 Jahre alt – von seinem Glauben abzubringen. Der König Wenzel von Böhmen wollte den heiligen Johannes Nepomuk verführen, er bot ihm ein Bistum an, er könne Bischof werden. Und als die Verlockungen nicht verfingen, da drohte er. Er sperrte ihn in den Kerker, er ließ ihn peinigen, er warf ihn in die Moldau. Das waren Versuche der Verführung, mit Verlockung und mit Drohung den Menschen von seinem Glauben und seinem Vorsatz abzubringen.

Und so ist es immer geblieben bis heute. Der Verführer ist stets bereit, unschuldige Seelen zu verderben. Er hat immer zwei Mittel. Das eine Mittel ist das Versprechen von Vorteil, wenn man der Verführung nachgibt, und das andere Mittel ist der Hinweis auf Übel, die zugefügt werden, wenn der andere sich dem Verführer nicht beugt.

Eines der düstersten Kapitel unserer Jugend ist die Verführung. Die große, herrliche Frau, Christa Meves, hat ein schönes Buch geschrieben mit dem Titel „Wieviel Verführung  verträgt ein Volk?“ Wahrhaftig, das ist ein zeitgemäßes Buch, denn öffentliche und geheime Verführer suchen unserem Volk die Sittlichkeit und die Religion auszutreiben. Zu lange schon wirken die Mächte der Verführung auf unser Volk ein.

Die primitivste, aber oft die wirksamste Verführung ist die zu einem liederlichen Leben, also zu geschlechtlichen Exzessen. Denn hier kommt dem Verführer die Triebhaftigkeit entgegen, die im Menschen, in jedem Menschen, auf der Lauer liegt. Und weil eben im Inneren des Menschen ein solcher Trieb ist, spricht er auf diese Verführung auch so leicht an.

Eine andere Weise, dem anderen Menschen am geistigen Leben zu schaden, ist das Ärgernis. Ärgernis ist eine Handlung oder Unterlassung, durch die einem anderen Anstoß gegeben wird und Anlaß zur Sünde. Der Ärgernisgeber macht es nicht so wie der Verführer, daß er es darauf anlegt, daß er die Absicht hat, den anderen zur Sünde zu bringen, aber aus seiner Handlung erwächst eine solche objektive Anreizung zur Sünde.

Das Ärgernis ist mannigfaltig. Unbedachte Äußerungen der Eltern können in den Seelen von Kindern schwerste Verwüstungen anrichten. Der ständige Unfriede im Haus kann die Kinder für das ganze Leben schädigen. Das ist Ärgernis! Ärgernis kann es auch im Kirchenraum geben. Sancta sancte – mit dem Heiligen muß man heilig umgehen, und wer im Kirchenraum eine Art Happening veranstaltet, wer die Eucharistiefeier umfunktioniert zu einem Gemeinschaftsmahl, der gibt Ärgernis! Mir sagte einmal eine fromme Frau aus einer Gemeinde: „Der Pfarrer macht keine Kniebeuge, wenn er am Allerheiligsten vorübergeht. Wenn es aber wahr ist, daß dort der Heiland ist?“ Das ist Ärgernis! Vom Ärgernisgeber steht in der Heiligen Schrift geschrieben: „Es wäre besser, er wäre nie geboren, oder es würde ihm ein Mühlstein an den Hals gehängt, und er würde in die Tiefe des Meeres versenkt werden.“

Es ist häufig Unbedachtsamkeit, die Ärgernis geben läßt. Es ist nicht immer böser Wille, keineswegs. Es ist manchmal einfach Nachlässigkeit; aber trotzdem ist das Ärgernis von furchtbarer Macht. Es ist schon manchem durch das, was er an einem Priester erleben mußte, ein ganzer Himmel eingestürzt. Ähnlich ist aber auch die Verantwortung der gläubigen Laien. Wir dürfen das Heilige nicht zum Ärgernis werden lassen. Ein frommer Mensch, der große Verheißungen erweckt, dann aber in seinem Verhalten zum Nächsten hart, ungerecht, verleumderisch ist, gibt Ärgernis. Er wird zum Anlaß, daß die Menschen sagen: Da seht ihr sie, die Kirchgänger! Da seht ihr sie, die Kommunikanten! Da seht ihr sie, die Katholiken! Mit dem Gott, den sie anbeten, will ich nichts zu tun haben. Das ist Ärgernis! Hier muß man auf der Hut sein, meine lieben Freunde, daß man nicht aus Unbedachtsamkeit, aus Nachlässigkeit dem Nächsten zum Ruin wird.

Das 5. Gebot hat eine doppelte Seite. Es legt uns Pflichten auf gegen uns selbst und Pflichten gegen den Nächsten. Wir dürfen nicht unser Leben zugrunde richten, wir dürfen aber auch nicht das Leben des Nächsten schädigen. Das 5. Gebot wird erfüllt durch die Liebe zum eigenen Selbst und durch die Liebe zum Nächsten. Die Liebe tut nichts, was dem Nächsten oder dem eigenen Selbst schadet. „Hast du die Liebe, dann hast du das Gesetz erfüllt.“

Amen.

Schrift
Seitenanzeige für große Bildschirme
Anzeige: Vereinfacht / Klein
Schrift: Kleiner / Größer
Druckversion dieser Predigt