Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
27. August 2017

Der Weg der Gebote

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Was muss ich tun, damit ich das ewige Leben erlange?“, fragt der Gesetzeslehrer im Evangelium der heutigen heiligen Messe unseren Herrn. Martin Luther würde auf die Frage, was muss ich tun, um das ewige Leben zu erlangen? antworten: Glauben, glauben an Jesus, an sein Heilswerk, im Glauben an Jesus des Heiles gewiss sein, nicht mehr. Unser Herr ist anderer Ansicht. „Wenn du zum Leben eingehen willst, halte die Gebote.“ Der Eingang in das ewige Leben hängt vom Befolgen der Gebote ab. Der Glaube gehört dazu, er ist ja auch geboten, aber der Glaube allein genügt nicht. Gottes gebietende Weisheit hat von Ewigkeit her verfügt, dass alles Tun der Geschöpfe auf das von ihm bestimmte Ziel hingeordnet werden muss, nur dann nimmt es den geordneten und heilvollen Lauf. Die Gebote Gottes bezeichnen wir als das Sittengesetz. Es ist die Norm für das freie Handeln des Menschen. Es gilt für die gesamte Menschheit ohne irgendwelche Begrenzungen. Das Sittengesetz ist Ausdruck des verpflichtenden Schöpfer- und Erlöserwillen Gottes. Es trägt Gottes Willen an die Gewissen der Menschen heran. Für diesen Zweck hat Gott ein eigenes Organ geschaffen; wir nennen es katholische Kirche. Die Kirche hat das christliche Lebensgesetz autoritativ festzustellen und zu wahren. Sie gewinnt seine Normen aus Schrift und Überlieferung. Lehre und Praxis der Kirche bilden deswegen die nächste Regel des Sittengesetzes, Schrift und Überlieferung die entfernte Regel des Sittengesetzes. Das gesamte Sittengesetz ist Gegenstand des autoritativen Lehramtes der Kirche. Es erstreckt sich also über die Gebote, die in der Offenbarung enthalten sind, ebenso wie auf jene Normen, die sich aus dem sittlichen Naturgesetz herleiten. Gegenüber irrigen Ansichten sei ausdrücklich hervorgehoben: Die Zuständigkeit des kirchlichen Lehramtes erfasst auch den Bereich des sittlichen Naturgesetzes. Diese Wahrheit ist von der Kirche immer gelehrt und in jüngster Zeit wiederholt hervorgehoben worden. Papst Paul VI. erklärte zuversichtlich: „Kein gläubiger Christ wird bestreiten, dass die Auslegung des natürlichen Sittengesetzes zur Aufgabe des kirchlichen Lehramtes gehört.“ Er täuschte sich. Es gab Theologen, die eben das bestritten.

Die Offenbarung Gottes hat ihren Niederschlag gefunden im Alten und im Neuen Testament. Beide haben denselben Urheber und denselben Zweck, nämlich zum Gehorsam gegen Gott zu erziehen. Aber als Quellen der sittlichen Erkenntnis stehen sie nicht gleich. Das alttestamentliche Gesetz enthält Richtschnuren für Unvollkommene, das neutestamentliche Gesetz bietet die vollkommene Regel, nämlich das Gesetz der Liebe, wie es uns eben im Evangelium vorgetragen wurde. Die Gesetzgebung des Alten Testamentes ist übernatürlich, weil sie aus der Offenbarung stammt. Sie hat auch zum Zweck die Erfüllung des übernatürlichen Heilswillen Gottes. Sie sollte das Volk Israel für die messianische Zukunft erziehen. Sie sollte das Volk auf die Erlösung vorbereiten, zunächst zu seinem eigenen Heil, sodann zum Besten der gesamten Menschheit. Diese Vorbereitung geschah dadurch, dass der Glaube an den einen Gott und die aus dem Glauben quellenden natürlichen Tugenden fortgepflanzt wurden, dass das Bewusstsein der Schuld und der sittlichen Gebrechlichkeit erhalten und vertieft wurde, schließlich dass die Hoffnung auf den Erlöser bewahrt und stetig weiter entwickelt wurde. Das Gesetz des Alten Bundes umfasst drei Gebiete:

1.      das Moralgesetz,

2.      das Zeremonialgesetz und

3.      das Judizialgesetz.

Das Moralgesetz, also die Sittlichkeit, die sittlichen Normen, des Alten Bundes fällt mit dem sittlichen Naturgesetz zusammen. Das gilt vor allem vom Zehn-Gebote-Gesetz; das ist die feierliche Zusammenfassung der wichtigsten Moralgesetze. Es enthält jene Vorschriften, die aus den ersten sittlichen Grundsätzen erkannt werden können, im Monotheismus Israels eingeordnet. Das im alttestamentlichen Gesetz enthaltene Moralgesetz schärfte das natürliche Gesetz ein. Die positive Einschärfung natürlich erkennbarer Gebote diente zur Aufklärung und steten Mahnung, zum Antrieb für die Lauen und zur religiösen Verstärkung der Pflichten. Das Zeremonialgesetz enthält die Regeln für den Gottesdienst, also die Feste, das Priestertum, die Opfer, die Gelübde, den Kult. Dieses Zeremonialgesetz war ein Zuchtmeister für ein unreifes Volk, indem es äußerlich verbindliche, zahlreiche und bildhafte, sinnenhafte Vorschriften gab. Durch die dabei unvermeidlichen Übertretungen und die daraus folgende kultische Unreinheit schärfte es die Sehnsucht nach der göttlichen Gnade in den Menschen ein. Das Judizialgesetz ist das bürgerliche und staatliche Gesetz des Volkes Israel. Es enthält teilweise Anwendungen des Naturgesetzes und andere Bestimmungen; sie stehen im Dienste der übernatürlichen Berufung Israels. Sie sind eine äußere Schutzwehr der Offenbarungsreligion, eine Schranke gegenüber dem Heiligtum. Das Judizialgesetz ist das, was wir im bürgerlichen und im öffentlichen Recht heute vorfinden: Schutz des Eigentums, Körperverletzungsrecht, Todesrecht, Asylgesetzgebung, Königsgesetz.

Die Geltung des alten Gesetzes hörte auf mit dem Inkrafttreten des Gesetzes Christi. Sie hörte auf, aber nicht gänzlich, denn vom Moralgesetz, also von den sittlichen Normen, gilt: Es wird jetzt vervollkommnet und vollendet, als unvergängliches, weil natürliches Sittengesetz besteht es weiter. Gott ändert seine sittlichen Normen nicht. Das Moralgesetz ist in seinem Kern nichts anderes als die normative Definition des natürlichen Menschen. Weil dieser natürliche Mensch nicht im Alten Bunde endet, sondern fortgeführt wird, gilt das Moralgesetz für alle Zeiten fort, aber in der Lebensordnung Christi in neuer, erfüllter, erhabener Weise. Das Zeremonialgesetz und das Judizialgesetz dagegen verlieren als vorbereitende Normen ihre Geltung mit der messianischen Erfüllung. Das Kultgesetz, also das Opfer von Böcken und Stieren, wird mit Christus zum toten und todbringenden Gesetz. Es kann und darf nicht mehr beobachtet werden, weil sein ganzer Sinn ein vorgängiger war. Das Judizialgesetz wird ebenfalls zum toten Gesetz; sein Zweck ist mit dem Kommen Christi obsolet geworden. Die Tatsache, dass das alte Gesetz aufgehoben ist, haben die Apostel auf ihrem Konzil, auf dem Apostelkonzil, feierlich festgestellt. Und Paulus hat die Abschaffung des alten Gesetzes im Galaterbrief und im Römerbrief ausführlich begründet.

Dem alten Gesetz des Sinai-Bundes steht das neue Gesetz des Golgotha-Bundes gegenüber; es ist von anderer Art. Das neue Gesetz, also das Gesetz des Evangeliums, ist wesentlich ein inneres Gesetz. Es liegt in der heiligmachenden Gnade, in der Gnadengemeinschaft mit Christus, sofern diese zur Norm und Triebkraft des Handelns wird. Das Gesetz der Gnade ist der Heilige Geist, der im begnadeten Menschen wirkt. Er lehrt durch die Erleuchtung des Verstandes, was zu tun ist, und er bewegt das Herz zum rechten Handeln. Das Gesetz der Gnade besteht in der Eingebung des Heiligen Geistes. Deswegen kann Paulus sagen: „Das sind die Kinder Gottes, die sich vom Heiligen Geiste treiben lassen.“ Die der Seele innewohnende heiligmachende Gnade kann als Gesetz bezeichnet werden, weil sie die wesenhafte Hinordnung der Seele zum übernatürlichen Ziele ist und weil mit ihr der göttliche Geist der Heiligkeit der Seele einwohnt. Das Gesetz der Gnade ist allerdings nicht das einzige Sittengesetz des Neuen Bundes. Dazu treten das geschriebene, also in der Heiligen Schrift Neuen Bundes vorliegende Sittengesetz und das natürliche Sittengesetz. Das neue Gesetz ist auch das in Worten verkündete Gesetz Christi. Christus hat ja die grundsätzliche Vorschrift gegeben, dass seiner sichtbaren Kirche und ihren Gesetzen Gehorsam zu leisten ist. „Wer euch hört, hört mich.“ Er ist nicht nur Lehrer und Erlöser, wie Luther meinte, er ist auch Gesetzgeber, aber im höheren Sinne als Moses. Der Christ ist frei vom Gesetze des Moses. Nur das Sittengesetz, das Gott gegeben hat, gilt weiter. Die Moralgebote aber sind durch Christus verklärt, vervollkommnet, verinnerlicht. Der Christ ist frei vom Gesetz des Alten Bundes. Christus hat es durch seinen Tod überwunden. Seitdem ist jeder, der an ihn glaubt, davon frei. Aber das ist kein gesetzloser Zustand, denn die Bindung durch das Gesetz wird abgelöst durch die personale Bindung an Christus. Der vom Gesetz Freigewordene steht unter dem Gesetz Christi, unter dem Gesetz, das Christus ist. Die ewigen Ansprüche Gottes bestehen weiter, sie erheben jetzt ihre Stimme in Christus. Was jetzt vom Christen gefordert ist, ist nicht die Erfüllung sachlicher Gebote, sondern das ist die Hingabe an Gott und seinen Christus. An die Stelle der sachlichen Sittlichkeit tritt die personalistische; unser Gesetz ist Christus. Die im alttestamentlichen Gesetz enthaltenen sittlichen Vorschriften bleiben die Formen, in denen die von Christen geforderte Liebe zu vollziehen ist.

Eine besondere Bewandtnis hat es mit dem sittlichen Naturgesetz. Das ist nämlich so manchen modernistischen Theologen unbequem, und so suchen sie es zu entwerten. Das sittliche Naturgesetz ist die Summe jener sittlichen Normen, die der Mensch aus der Natur der Dinge kraft seiner natürlichen Vernunft als sittlich verbindlich erkennen kann. Das sittliche Naturgesetz ergibt sich als Norm aus der Schöpfungsordnung. So wie Gott die Dinge geschaffen hat, so sind sie für den Menschen verpflichtend. Das Sein fordert ein Sollen. Die sittliche Norm liegt in der Natur, d.h. in den objektiven Wesenheiten des Menschen und der Dinge. Also denken Sie etwa an die Pflicht und das Recht der Eltern, die Kinder zu erziehen. Sie haben die Kinder durch ihr Zusammenwirken auf diese Welt gebracht und sie sind auch verantwortlich dafür, dass sie nützliche Glieder des Gottesreiches und des Weltreiches werden – das ist ein Beispiel für das sittliche Naturgesetz. Die Vernunft erfindet es nicht, sie findet es vor in den Gegebenheiten der Dinge, in ihrem Wesen, in ihrer Natur. Das sittliche Naturgesetz wird von der Heiligen Schrift bestätigt. Im Römerbrief schreibt der heilige Paulus: „Indem die Heiden, die das alttestamentliche Gesetz nicht haben, von Natur das Gesetzliche tun, sind sie sich selbst Gesetz. Sie zeigen nämlich, dass die Werke des Gesetzes in ihre Herzen geschrieben sind, indem ihr Gewissen ihnen Zeugnis gibt und ihre Gedanken sich untereinander anklagen oder auch verteidigen.“ Hier ist klar von einem natürlichen, durch das eigene Denken und Gewissen allen Menschen bezeugten Gesetz die Rede. Inhalt des sittlichen Naturgesetzes sind einmal der allgemeine Grundsatz: das Gute ist zu tun, das Böse ist zu meiden, sodann die ersten Anwendungen dieses Grundsatzes auf materielle Gebiete des Handelns. Sie geben an, was gut und böse ist in allgemeiner Form. Also denken Sie etwa an die Sprache, die dem Menschen eigen ist. Die Sprache ist ihm gegeben, damit er sich äußern und verständigen kann. Wer mit der Sprache Falsches aussagt, Lügen verbreitet, missbraucht die Sprache. Da sehen Sie die Auswirkung des sittlichen Naturgesetzes. Oder denken Sie an die Geschlechtlichkeit. Der Mann ist auf die Frau hingeordnet, nicht Mann auf Mann und nicht Frau auf Frau, sondern der Mann auf die Frau und die Frau auf den Mann; das ist das sittliche Naturgesetz. Schließlich gehören auch dazu die entfernten Folgerungen und Anwendungen des sittlichen Prinzips. Das sind konkrete sittliche Normen, die bei tieferem Nachdenken dem Menschen aufgehen, also die Einheit der Ehe etwa, ihre Unauflöslichkeit. Das Naturgesetz hat Eigenschaften und Vorzüge, die es vor dem positiv menschlichen Gesetz auszeichnen. Es gilt nämlich für alle Menschen und alle Zeiten. Es ist eine allgemeingültige Norm. Die Allgemeingültigkeit ergibt sich aus der wesentlichen Einheit des Menschengeschlechtes. Es gibt nur Menschen, keine Untermenschen, aber auch keine Übermenschen. Die Allgemeinheit dieses Gesetzes ergibt sich dann aus der Einheit Gottes, der eben der Gesetzgeber für alle Menschen ist, und der göttlichen Weltordnung. Solange die Natur des Menschen bleibt, bleibt auch das natürliche Sittengesetz bestehen. Solange der Mensch also Mensch bleibt, gilt auch das natürliche Sittengesetz. Die Kirche ist nicht befugt, Dispensen zu erteilen. Auf naturrechtlichem Gebiete kommt ihr nur das Recht authentischer Erklärung zu. Das haben die Synoden und die Päpste in vielen Jahrhunderten getan. Denken Sie an die großen Enzykliken von Leo XIII., von Pius XI., von Pius XII.; das sind Ausformungen des natürlichen Sittengesetzes, Erklärungen, Erläuterungen. Das sittliche Naturgesetz ist auch dauernd und unveränderlich. Diese Tatsache ergibt sich aus der inneren Wahrheit seines Inhalts, aus der Unwandelbarkeit des Gotteswillens, der sich immer gleich bleibt, und aus der wesentlichen Unveränderlichkeit der menschlichen Natur. Wirkliche Änderungen der Dinge ändern nicht die absoluten Wesensnormen, sondern lediglich geschichtliche Verwirklichungsnormen. Soweit der Kern der Seinsordnung unveränderlich ist, ist es auch das sittliche Naturgesetz.

Das sittliche Naturgesetz erleidet auch keine Ausnahme durch Entschuldigung oder Dispens. Scheinbare Entschuldigungen vom Gesetz sind nicht wirkliche Ausnahmen, sondern sachgemäße Auslegungen. Also nehmen Sie meinetwegen die kurze Formel des Gebotes: Du sollst nicht töten! Damit ist nicht alles gesagt, damit wird nicht der ganze Sinn des fünften Gebotes ausgedrückt. Eigentlich müsste es heißen: Du sollst nicht totschlagen; du sollst nicht morden. Also z.B. ist die Notwehr und unter Umständen auch das Töten in Notwehr durch das fünfte Gebot nicht verboten. Das Gebot: Du sollst nicht stehlen! verbietet nicht die geheime Schadloshaltung. Wenn man fortwährend ungerecht behandelt wird, unter seinen Leistungen bezahlt wird, kann es unter Umständen möglich und erlaubt sein, sich im Geheimen schadlos zu halten. Die Grundwerte und die entsprechenden Grundhaltungen, z.B. die zwischenmenschliche Liebe, die Dankbarkeit den Eltern gegenüber, die Verantwortung für die eigenen Kinder, bleiben im Wesen trotz des Wandels der Zeiten gleich. Was sich ändert, mögen gewisse Formen des Ausdrucks sein. Wenn heute ein Mensch aus dem Mittelalter oder aus dem Altertum zurückkehrte, dann stünde er wahrscheinlich fassungslos vor dem technischen Fortschritt, der inzwischen erreicht worden ist. Aber spräche ein heutiger Mensch mit ihm über Liebe, Dankbarkeit, Verantwortung, dann wären sie wahrscheinlich beide gleicher Meinung. Was sich wandelt, sind die Umstände und das materiale Handlungsobjekt, nicht die naturgesetzlichen und positiv gesetzlichen göttlichen Normen. Es liegt kein Wandel sittlicher Normen vor, wenn sich das Urteil über Tatsachen ändert, das der Anwendung der sittlichen Normen zugrunde liegt. Also denken Sie etwa an die frühere Rechtfertigung von Hexenprozessen und Hexenverbrennungen. Man ging von der Annahme aus, es gäbe wirkliche Hexen, also Männer oder Frauen, die sich dem Teufel verschrieben haben und die mit ihm zum Verderben der Menschen zusammenwirken; gegen sie musste die Strafjustiz einschreiten. Wenn es aber solche Teufelspakte nicht gibt, dann entfällt auch die Bestrafung, dann entfällt auch die Pflicht zur Bestrafung. Früher – um ein anderes Beispiel zu bieten – verboten die Gerechtigkeit und die Liebe, die Sorge für das Gemeinwohl und die sachgerechte Verwaltung des Eigentums, dass man für ein Darlehen Zins forderte, Zins erhob. Unter den damaligen wirtschaftlichen Verhältnissen und der Funktion des Geldes besagte die Zinsforderung eine unrechtmäßige Bereicherung und eine Ausbeutung der Notleidenden. Aber die Funktion des Geldes im gesamten wirtschaftlichen Leben hat sich gewandelt. Jetzt fordern dieselbe Sorge um das Gemeinwohl und die sachgerechte Verwaltung des Eigentums, dass das Geld gerade auch durch das Bankwesen in Umlauf kommt und durch den Zins ein Ansporn geboten wird, das eigene Vermögen diesem Prozess zur Verfügung zu stellen. Also nicht das Gesetz hat sich gewandelt, sondern seine Voraussetzungen. Ein anderes Beispiel ist die Entwicklung in der sittlichen Beurteilung der Religionsfreiheit. Es wird uns ja gern vorgehalten: Ja, ja, jetzt hat sich die Kirche endlich bekehrt zur Religionsfreiheit. Es ist so einfach nicht, meine lieben Freunde. Man kann das Problem der Religionsfreiheit ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der objektiven Wahrheit und des objektiven Irrtums sehen. Und von daher kommt man zu dem Urteil: Der Irrtum hat keine Daseinsberechtigung und kann höchstens toleriert werden. Diese Erkenntnis und diese sittliche Norm sind heute und gestern dieselbe; das ist auch heute noch so. Der Irrtum hat keine Daseinsberechtigung und kann höchstens toleriert werden; das ist ein unumstößliches Gesetz. Aber auf dem Zweiten Vatikanum stand nicht der Irrtum im Blickfeld, sondern der irrende Mensch. Er verliert seine fundamentale menschliche Würde nicht, auch wenn er aus eigener Schuld im Irrtum ist. Er darf in seiner religiösen oder areligiösen Überzeugung nicht dem Zwang unterworfen werden. Diese Erkenntnis ist kein Widerspruch zu der früheren Erkenntnis, sondern deren Erweiterung und Vervollständigung.

Das göttliche Gesetzgebungsrecht, meine lieben Freunde, ist souverän, es bedarf keiner Zustimmung der Gesetzesunterworfenen. Die Annahme des Sittengesetzes durch die von ihm Verpflichteten ist nicht notwendig zu seiner Gültigkeit oder Verpflichtung. Die faktische Nichterfüllung des Sittengesetzes durch die Verpflichteten ist für dessen Geltung unerheblich. Und wenn noch so viele Menschen sich gegen die Wahrheit verfehlen, und wenn noch so viele Menschen die Gebote der geschlechtlichen Sittlichkeit missachten, die Gebote bleiben davon unberührt. Ganz anders als die modernistischen Theologen meinen. Sie vertreten die Meinung: Wenn die Mehrzahl der Menschen diese Gebote nicht hält, dann sind sie hinfällig. Nein! „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erwerben?“, fragt der Gesetzeslehrer Jesus. Dieser gibt zur Antwort: „Willst du zum Leben eingehen, so halte die Gebote.“ Wir gläubigen Christen haben den göttlichen Gesetzgeber dank der Gnade in unserem Herzen. Wenn wir ihm folgen, wenn wir seinem Antrieb uns ergeben, dann sind wir auf dem rechten Wege. Aber damit wir uns nicht täuschen und damit wir nicht unsere Wünsche fälschlich als Anregung des Heiligen Geistes ausgeben, ist es tunlich, ja notwendig, sich an die Gebote Gottes, wie sie in den Katechismen aufgezeichnet sind, zu halten. Sie sind der Weg zum ewigen Leben. In diesem Sinne, meine lieben Freunde, sollten wir oft mit dem Psalmisten beten: „Neige, o Gott, mein Herz zu deinen Geboten!“

Amen.

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