Die Wahrheit verkündigen,
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Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Beherrschung der Sinne (Teil 7)

19. November 1995

Segen und Gefahren der menschlichen Liebe

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die Leidenschaften sind naturgegeben. So hatten wir uns am vergangenen Sonntag vor Augen geführt. Sie können zum Guten und zum Bösen verwendet werden. Die wichtigste der Leidenschaften ist die Liebe. Die Liebe, allgemein gesprochen, ist das Wohlgefallen an einem Gute und die Zuneigung zu demselben. Die Liebe ist in den vernünftigen Geschöpfen eine von der Vernunft getragene, in den vernunftlosen Geschöpfen eine rein sinnliche. Die vernünftige Liebe ist jene, die von der Vernunft geleitet wird; die sinnliche Liebe ist jene, die durch Sinnenbilder hervorgerufen wird. Der Mensch vereinigt die vernünftige und die sinnliche Liebe, denn er ist aus Seele und Leib zusammengesetzt. Er ist also auch der sinnlichen Liebe fähig, und diese sinnliche Liebe ist nichts anderes als die Erregung des sinnlichen Begehrens, die durch ein Gut, das von der Phantasie vorgestellt wird, hervorgerufen wird und das in dem Wohlgefallen und in der Hinneigung zu diesem Gut besteht. Also eine Erregung des sinnlichen Begehrens. Auch hier ist wieder die doppelte Möglichkeit vorhanden, daß dieses sinnliche Begehren sich dem Guten und dem Bösen zuwendet.

Wie kommt es denn, daß der Mensch sich überhaupt mit der Liebe ausstreckt nach anderen? Die Wurzel der Liebe, der Grund der Liebe ist darin gelegen, daß der Mensch ein unvollkommenes Wesen ist. Er sehnt sich nach Ergänzung, nach Vollkommenheit; diese hofft er zu finden in anderen, seien es Sachen, seien es Personen. Und wiederum muß man die Ambivalenz dieses Strebens bedenken. Der Mensch kann versuchen, seine Ergänzung und Vollkommenheit im Guten zu finden, er kann es aber auch dahin bringen, daß er meint, im Bösen sich ergänzen und vervollkommnen zu können.

Die Ziel-Ursache der Liebe ist immer ein Gut. Der Mensch kann nur nach etwas streben, was er als ein Gut ansieht. Es muß das nicht immer ein wirkliches Gut sein, es kann ein Scheingut sein. Aber sich nach etwas ausstrecken, was kein Gut, das ist dem Menschen nicht möglich; denn Liebe ist Wohlgefallen, und das Wohlgefallen kann sich nur auf ein Gut richten. Leider ist das vermeintliche Gut, das der Mensch begehrt, häufig durch die Vorherrschaft der sinnlichen Liebe in Wirklichkeit ein Scheingut. Statt daß er sich von seiner erleuchteten Erkenntnis leiten ließe, gewinnt das sinnliche Begehren die Überhand, trübt den Verstand, beeinflußt den Willen, und so wendet sich der Mensch einem Scheingut zu. Er soll seinen Verstand ausbilden, er soll seine Vernunft schulen, er soll seinen Willen üben, damit er sich nicht einem Scheingut zuwendet, sondern einem wirklichen Gut. Es braucht eine ständige Anstrengung und eine eindringende Erkenntnis, um ein Gut von einem Scheingut unterscheiden zu können.

Die zweite Ursache der Liebe ist die Ähnlichkeit. Der Mensch wendet sich nicht jedem Gute zu, sondern nur einem Gute, von dem er erwartet, daß es ihm förderlich ist, daß es ihm angemessen und entsprechend ist. Das beobachten wir schon, wenn Menschen sich mit Menschen verbünden. Wir lieben unsere Angehörigen, unser Fleisch und Blut, unsere Verwandten, und das ist richtig. Wir lieben diejenigen, die uns lieben, und wir lieben jene, die mit uns im Ziel und im Streben verbunden sind. Wir lieben die genannten Personen, weil sie uns in irgendeiner Ähnlichkeit verbunden sind. Die Verwandten durch die gemeinsame Abstammung, die, die uns lieben, durch ihre Zuneigung, die sie uns erweisen, und jene, die mit uns im gleichen Streben und im Ziel verbunden sind, durch die Gemeinsamkeit der Ausrichtung auf bestimmte Werte. Die Ähnlichkeit, die uns dazu führt, andere zu lieben, ist wiederum Gefahren ausgesetzt. Es besteht die Gefahr, daß die Liebe in die Sinnlichkeit abgleitet, d.h. daß sie sich der Vernunft entzieht. Eine rein sinnliche Liebe der Eltern zu ihren Kindern oder umgekehrt ist bedenklich. Die Liebe kann schwach sein, wo sie stark sein müßte, etwa im Leid, in der Krankheit, in der Verlassenheit. Die Liebe kann auch in Leidenschaft versinken, vom Begehren überwältigt werden. Diesen Gefahren muß man wehren. Man muß sich aus der Tiefe der sinnlichen Liebe erheben zu der Höhe der geistigen Liebe; man muß die sinnliche Liebe in den Dienst nehmen für die geistige Liebe. Denn es gibt auch eine ungeordnete Liebe. In einem Schlager wird die Frage aufgeworfen: „Kann denn Liebe Sünde sein?“ Ja natürlich! Denn die Liebe hat eine innere Ordnung, und wer diese Ordnung nicht beachtet, der verfehlt sich gegen das Gesetz der Liebe. Die Liebe muß geordnet sein. Die eheliche Liebe etwa muß in Stufen aufgebaut sein, von der begehrenden üder die schenkende zu der dienenden Liebe. Das ist die innere Ordnung der Liebe, und wer diese Stufung nicht beachtet, wer etwa die begehrende Liebe zum Schaden der schenkenden und der dienenden Liebe wuchern läßt, dessen Liebe ist ungeordnet. Mir sagte einmal eine Frau: „Mein Schwager verfolgt mich mit der Liebe.“ Ja, was ist das eine törichte Redensweise, nicht wahr? Er wollte Unzucht mit ihr treiben, so müßte man es eigentlich sagen. Das ist keine Liebe, sondern Triebhaftigkeit; das ist eine reine Verkehrung des Begriffes Liebe, wie eben Liebe das am meisten geschändete Wort in allen Sprachen ist. Die wirkliche Liebe folgt der inneren Ordnung, die Gott ihr gegeben hat, und erhebt sich damit über die Niederungen, in die vor allem die sinnliche Liebe abgleiten kann. Die sinnliche Liebe betrügt und verdirbt den Menschen, wenn sie nicht geleitet ist von der vernünftigen Liebe.

Im Jahre 1848, meine lieben Freunde, so schildert es Heinrich Heine in seiner literarischen Lebensbeichte, kniete er im Louvre, also in dem großen Museum in Paris, vor einem Torso, einer verstümmelten Statue der Venus. Er sagte ihr: „Dir habe ich mein ganzes Leben gedient, nun rette mich!“ Er war erkrankt, schwer erkrankt. So flehte er diese Statue an, ihn zu heilen. Aber sie antwortet ihm kalt lächelnd: „Du siehst doch, daß ich keine Arme habe.“ Die Liebe muß von der Erkenntnis durchwirkt sein. Man kann nicht lieben, was man nicht erkannt hat, und man kann einen hohen Wert nur lieben, wenn man der Höhe dieses Wertes eingedenk ist. Je mehr man in die Werthaftigkeit eines Dinges oder einer Person eindringt, um so echter, um so tiefgründiger, um so tragfähiger wird auch die Liebe sein. Die Erkenntnis muß immer der Liebe vorausgehen. Liebe ohne Erkenntnis ist blind, manchmal sogar verblendet. Nein, sie muß durchlichtet und durchhellt sein von der Erkenntnis. Und deswegen wird diejenige Liebe, die am gründlichsten durchdacht und am tiefsten erkannt worden ist, auch die unerschütterlichste Liebe im Menschen sein.

Dann kann sie ihre herrlichen Wirkungen entfalten. Ihre Hauptwirkung besteht darin, daß sie den Liebenden mit dem Geliebten vereinigt. Die Einigung zwischen Liebendem und Geliebtem ist die Hauptwirkung der Liebe. Sie zeitigt dann das Miteinander-Leben, wo der eine trachtet, daß es dem anderen gut ist, daß seine Gedanken sich mit ihm begegnen, daß sie alle Fährnisse des Lebens gemeinsam durchstehen. Das ist die wunderbare Wirkung der heiligen Liebe, wo Vernunft und Sinnlichkeit zusammenkommen, wo die Leidenschaft der Liebe sich vermählt mit der geordneten Liebe der Vernunft und sie beide den Menschen zu heroischen Taten befähigen.

Die Heiligen haben häufig ihre geistige Liebe mit leidenschaftlicher innerer Anteilnahme verbunden. Was bedeutet es denn, wenn der heilige Pfarrer von Ars beim Sündenbekenntnis in Tränen ausbrach? Warum hat er geweint? Weil ihm die Beleidigung Gottes so zu Herzen ging, daß auch sein Körper diesen Schmerz ausdrückte, daß die Leidenschaft seiner sinnlichen Liebe dem geistigen Trieb der Liebe folgte. Oder was besagt es denn, wenn die heilige Gertrud von Helfta beim Lesen der Leidensgeschichte unseres Heilandes Tränen vergoß? Das besagt nichts anderes als daß ihre sinnliche Liebe, ihre Liebesleidenschaft sich verknüpft hatte mit ihrer Erkenntnis und mit ihrer geistigen Liebe zu unserem Heiland, der für uns gelitten hat und für uns gestorben ist.

Wir wollen, meine lieben Freunde, die Leidenschaft der Liebe pflegen. Aber sie muß geordnet sein, sie muß der geistigen Liebe untergeordnet sein, sie muß dem Gesetz der geistigen Liebe dienen. Sie muß sich vor allem auf den höchsten Gegenstand richten, den unsere Liebe überhaupt haben kann, auf Gott. Wir sind ja von Gott gekommen, er ist unser Schöpfer, und wir sind zu ihm auf dem Weg, er ist unser Ziel. Es besteht sogar eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Gott und den Menschen, und wegen dieser Ähnlichkeit muß er der höchste Gegenstand unserer Liebe sein. Wenn wir die wirkliche, von der Vernunft getragene Liebe mit der Liebesleidenschaft verbinden und auf Gott richten, dann werden wir fähig zu heroischen Taten im Dienste Gottes, dann sind wir imstande, unser Leben in die Schanze zu schlagen für Gott und sein Reich, dann werden wir bereit, die Verherrlichung Gottes zum ersten und obersten Inhalt unseres ganzen Lebens zu machen.

Amen.

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