Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
30. April 2017

Der Dienst des Hirten

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die Bevölkerung des alten Israel bestand zum großen Teil aus Halbnomaden, in der Wüste Juda und im Ostjordanland aus reinen Nomaden. Sie waren Hirten, Hüter von Herden; ihr Besitz waren Schafe und Ziegen, Esel und Kamele. Zur Ausstattung des Hirten gehörten zwei Werkzeuge. Einmal eine Keule, eine kurze Keule aus hartem Holz. Sie hatte den Zweck, tierische und menschliche Feinde von der Herde abzuwehren. Sodann hatte der Hirte einen Stab, einen langen Hirtenstab, mit dem er die Tiere lenkte oder miteinander kämpfende Tiere trennte oder mit dem er einen den Weg behindernden Dornstrauch beiseitedrängte. Der schwere Beruf des Hirten verlangte Wachsamkeit, Tapferkeit und hingebende Wartung. Die Herdentiere waren eine begehrte Beute für wilde Tiere: Wölfe, Hyänen, Löwen. Das Hirtenleben war entbehrungsreich. An keinem Tag des Jahres durften die Hirten die Tiere allein lassen. Sie hatten weder einen Ruhetag noch Urlaub. Der Hirt kennt alle Tiere seiner Herde; er vermag ein jedes von einem anderen zu unterscheiden. Wodurch? Am Gesicht. Das Gesicht eines jeden Schafes ist so geartet, dass man es von einem anderen unterscheiden kann. Der Beruf des Hirten ist in unserer Zeit nicht ausgestorben. Noch immer ziehen Schafhirten durch unsere Lande, und es haben sich neuzeitliche Formen des Hirten entwickelt: der Cowboy und der Gaucho.

Name, Aufgabe und Tätigkeit des Hirten wurden von den menschlichen Hirten auf Gott übertragen. Im Alten Bunde ist Gott der Hirte Israels. Israel ist das Volk seiner Weide. Er sammelt Israel wieder, da er es zerstreut hatte (nach Babylon), und er behütet wie ein Hirt seine Herde. Die bisherigen Hirten haben die Herde ausgebeutet, haben sie verwahrlosen lassen, und deswegen wird nach dem Propheten Ezechiel Gott sich selbst seiner Herde annehmen und der rechte Hirt sein und sie auf satte Weide führen. Auch von Gott bestellte Führer der Menschen werden als Hirten bezeichnet. Moses ist der Hirt der Herde Gottes. Er muss Josue zum Führer Israels einsetzen, damit die Gemeinde Jahwes nicht Schafen gleiche, die keinen Hirten haben. David wird von Gott von seinen Schafen weggeholt, um das Volk Israel zu weiden. Auch der Messias wird als Hirt dargestellt. Nach dem Propheten Ezechiel wird Gott den Davidspross als einzigen Hirten über das geeinte Volk setzen. Den Hirten im Alten Bunde sind eigen Sammlung und milde Leitung der Herde, Fürsorge und Pflege, Güte und Erbarmen. Der historische Jesus erscheint in seinem Erdenleben wie in seiner Verherrlichung als messianischer Hirt. Jesus weiß sich auf Erden zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt, um das Verlorene zu suchen und zu retten, auch um die Gläubigen zu der kleinen Herde des messianischen Gottesvolkes zusammenzuschließen. Jesus kennt nun die Kostbarkeit eines jeden Herdentieres. Und darum spricht er zu den Scharen: „Welcher Mensch unter euch, der hundert Schafe hat, und eines davon verliert, lässt nicht die neunundneunzig in der Wüste und geht dem verlorenen nach, bis er es findet?“ So versteht sich seine Hirtensorge um die Sünder und die Zöllner, was ihm zum Vorwurf gemacht wurde, aber was sein Beruf war als Hirte. Er ist Hirt im universalen Sinne, er muss alle übrigen Menschen, nicht nur die Israeliten, für seine Herde zu gewinnen suchen.

Jesus nennt sich – wie wir eben im Evangelium gehört haben – den guten Hirten der Herde der an ihn Glaubenden. Das entscheidende Kennzeichen des guten Hirten besteht darin: Der gute Hirt gibt sein Leben hin für seine Schafe. So hat er seinen Hirtendienst ausgeübt bis zum letzten Blutstropfen, bis zum letzten Atemzug. „Ich lasse mein Leben für meine Schafe.“ In seinem Tod sieht er die messianische Weissagung des Propheten Zacharias erfüllt: „Ich werde den Hirten schlagen, und die Herde wird sich zerstreuen.“ Von Christus wird der Name des Hirten auch auf Menschen übertragen, nämlich auf die Menschen, die ihm im Hirtenamt nachfolgen. Die Leiter der christlichen Gemeinden werden als Hirten bezeichnet, ihr Dienst ist Hirtendienst, ihnen obliegt die Hirtensorge für die einzelnen Gemeinden. In seiner Abschiedsrede in Milet fordert Paulus die Vorsteher der Gemeinden auf, acht zu haben auf die ganze Herde, in der sie der Heilige Geist zu Bischöfen bestellt hat, zu weiden die Herde Gottes, die er durch das Blut seines Sohnes erworben hat. Unter den Hirten herrscht eine Gliederung, eine Über- und Unterordnung. Es gibt Priester und Bischöfe, eine kirchliche Hierarchie, wie wir aus dem Briefe des Papstes Clemens Ende des 1. Jahrhunderts an die Gemeinde in Korinth erfahren. Und einer von den Hirten wird zum obersten Hirten bestellt, er wird vom Auferstandenen beauftragt, seine gesamte Herde zu weiden. „Weide meine Schafe, weide meine Lämmer.“ So hat die Kirche dieses Wort immer verstanden. Der himmlische Christus bleibt der Hirt seiner messianischen Gemeinde. Da die als Herde erscheinende Kirche das Volk Gottes bzw. die Herde Gottes ist, steht die Vorstellung von Gott als dem obersten Hirten allemal im Hintergrund. Alle irdischen Hirten sind lediglich Abbilder, Schattenrisse, die im Auftrag des obersten Hirten wirken, und ihm einmal Rechenschaft ablegen müssen. Das Hirtenamt ist eine bildliche Bezeichnung für die der Kirche eigentümliche Vollmacht, die in der Priester- und Bischofsweihe übertragen und in der kanonischen Sendung rechtlich umschrieben wird. Das Hirtenamt bezieht sich einmal auf die Bereiche der Lehre, sodann auf den Bereich der Sakramente und schließlich auf den Bereich des christlichen Lebens. In manchen Gegenden, so im Rheinland, wird heute noch der katholische Pfarrer Pastor genannt – Pastor heißt Hirte. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in der Kirche viel über das Priesterbild diskutiert. Was ist das Wesen des katholischen Priesters? Welches ist sein Muster? Woran muss er maßnehmen? Ich habe den Sinn und Zweck dieser Diskussion nie verstanden. Der Priester ist Stellvertreter Christi und Verwalter seiner Geheimnisse. Sein Priestertum ist gänzlich ausgerichtet und geformt nach dem Priestertum Christi, und das Priestertum Christi ist das Priestertum des guten Hirten. Das ist das Leitbild des katholischen Priesters.

Der wahre Hirt geht seiner Herde voran, er führt, er weist ihr den Weg ins Himmelreich. Als Johannes Vianney seine Pfarrstelle in Ars antrat, begegnete er einem Jungen und fragte ihn nach dem Wege nach Ars. Der Junge zeigte ihn. Darauf antwortete der heilige Pfarrer: „Du hast mir den Weg nach Ars gezeigt, ich werde dir den Weg zum Himmel zeigen.“ Der gute Hirt kennt seine Herde, macht sich vertraut mit Jungen und Alten, mit Hochgestellten und Niedrigen; niemand ist ihm fremd. Der Hirte ruft, und die Schafe hören seine Stimme, weil sie sie kennen. Der Hirt führt seine Gemeinde auf gute Weide. Er hat die heilige Pflicht, die ihm Anvertrauten zu nähren. Das geschieht durch die Lehre, die Weisung, durch Predigt und Unterricht, aber auch durch die Spendung der Sakramente, insbesondere durch die Gabe des Bußsakramentes und durch das Geschenk des Leibes Christi. Der gute Hirt bietet reiche Gelegenheit zu Gebet und Gottesdienst und Andacht und Messopfer. Ich habe nie verstanden, wie man als Priester einen eucharistiefreien Tag machen kann. Der gute Hirt hat die heilige Pflicht, die ihm Anvertrauten im Glauben zu nähren, in den Glauben einzuführen, ihren Glauben zu vertiefen, ihren Glauben zu erhalten. Er selbst muss unermüdlich an der Erweiterung und Vertiefung seines eigenen Glaubens arbeiten, studieren, das Wissen vermehren, um den Seinen davon mitteilen zu können. Man kann nur vermitteln, was einem Eigenbesitz geworden ist. Ein Hirt darf nicht unvorbereitet daherreden, er muss vielmehr stets mit dem Gegenstand seiner Lehre und Verkündigung ringen, um ihn in die bestmögliche Form zu bringen. Der Glaube der Gläubigen kann auch nur erhalten werden, wenn die Angriffe des Unglaubens, des Halbglaubens und des Auswahlglaubens abgewehrt werden. Der gute Hirt muss die Wahrheit verkünden, gelegen oder ungelegen, ob er ankommt oder ob er anstößt. Als man den heiligen Dompropst von Berlin, Bernhard Lichtenberg, diesen schlesischen Priester, warnte, er solle vorsichtig sein im Reden in der Zeit des Nazitums, da entgegnete er: „Wenn wir Priester schweigen, werden die Leute irre.“ Er hat nicht geschwiegen, und er hat sein Reden mit dem Leben bezahlt. Der gute Hirt ist Seelsorger. Er trägt die heilige Verantwortung für das Heil der Seelen. Seelsorge wendet sich jedem einzelnen zu in seiner Lage und in seinen Bedürfnissen. Das geistliche Wohl der ihm Anvertrauten liegt ihm am Herzen und lässt ihm keine Ruhe bei Tag und bei Nacht. Er hat die heilige Pflicht, seinen Anbefohlenen die Werke der geistlichen Barmherzigkeit zu erweisen: Unwissende lehren, Zweifelnden raten, Trauernde trösten, Irrende zurechtweisen, Unrecht ertragen, Beleidigungen verzeihen, für Lebende und Tote beten. Der gute Hirt geht seiner Herde nicht nur voran, er geht ihr auch nach, d.h. er lässt die Abgewichenen, die Zurückgebliebenen, die Verirrten nicht im Stich. In der Pfarrei eines guten Hirtens darf es keine einzelne Seele geben, die aufgegeben wird. Es muss dem guten Hirten daran liegen, alle seine Glieder zu praktizierenden katholischen Christen zu bilden. Der gute Hirt ist der Prototyp des unermüdlichen Seelsorgers. Der gute Hirt setzt sich auch ein für seine Schafe, er schützt sie, er verteidigt sie. Der Hirt weiß, wer der gefährlichste Feind der Schafe ist: der Wolf. Ihm muss er begegnen, ihn muss er abwehren, dazu trägt er seine Keule. Der priesterliche Hirt muss ebenso verfahren. Er muss die Gefährder seiner Gemeinde kennen, er muss sich umsehen, woher die Bedrohungen für seine Gemeinde kommen. Es sind jene, die sagen: Mach dir’s auf der Erde schön, kein Jenseits gibt’s, kein Wiedersehn. Es sind jene, die sagen: Es ist alles gleich, ob man katholisch oder evangelisch oder muslimisch ist. Besonders gefährlich sind die Wölfe, die sich verkleiden. Sie kommen daher als Schafe, also als harmlose Wesen, in Wirklichkeit aber sind sie reißende Wölfe. Es sind jene, die sagen: Es ist alles nicht so schlimm. Wir kommen alle, alle in den Himmel, auch ohne Bemühung. Man braucht sich nicht anzustrengen, um das ewige Leben zu gewinnen. Der gute Hirt tritt den Feinden und Widersachern seiner Herde entgegen, mutig und furchtlos wehrt er die Schädiger seiner Gemeinde ab.

Der gute Hirt muss zum Opfer für seine Gemeinde bereit sein; er darf den Tod nicht fürchten. Er gibt sein Leben für die Schafe, wenn es erforderlich ist. Die Kirche fordert vom katholischen Priester den Einsatz seines Lebens für seine Gemeinde. Wie kann sie das von einem Schwachen verlangen, der nicht einmal eine Neigung überwinden kann? Die Quelle dieses hingabebereiten Wesens ist das Beispiel Christi, die Lebenshingabe Jesu am Kreuze. Der Priester ist nach seinem Bilde geformt, er muss auch seine Gesinnung in sich tragen. Viele Priester haben dieser Forderung entsprochen. Im Jahre 1945 drang die Rote Armee in Schlesien ein. Die nichtkatholischen Religionsdiener flohen nach dem Westen. Die katholischen Priester in Schlesien hielten aus bei ihrer Herde, alle und ohne Ausnahme! Fünfzig von ihnen haben ihr Leben für ihre Herde geopfert. Jesus stellt den guten Hirten dem Mietling gegenüber, dem bezahlten Knecht. Ihm gehören die Schafe nicht, und entsprechend gering ist seine Bindung an sie. Die innere Distanz zeigt sich in der Gefahr. Er fehlt ihm nicht an Aufmerksamkeit, er sieht den Wolf kommen, aber anstatt ihn abzuwehren, verlässt er die Herde, und zwar eilends, er flieht. Der Wolf reißt sie und zerstreut sie. Der traurige Kommentar des Herrn zu diesem schäbigen Verhalten ist: „Er ist ein Mietling, es liegt ihm nichts an den Schafen.“ Was soll man, meine lieben Freunde, zu jenen Mietlingen sagen, die ihre Herde verlassen, nicht weil sie den Wolf kommen sehen, sondern eine Frau?

Schließen wir uns an unseren obersten Hirten Jesus Christus an, halten wir uns an ihm fest. „Der Herr ist mein Hirt, mir wird nichts mangeln.“ An die menschlichen Hirten ergeht das Wort des himmlischen Hirten: „Sorget für die euch anvertraute Herde, seid nicht Herrscher eurer Gemeinden, sondern Vorbilder für die Herde.“ Und den Gemeinden ruft der Herr zu: „Nehmt euch der menschlichen Hirten an, fühlt euch für sie verantwortlich, seid dankbar für ihre Dienste und nehmt sie dankbaren Herzens für euch in Anspruch. Zeigt ihnen (den Hirten), was ihr von ihnen von Rechts wegen erwarten könnt. Fürchtet euch aber auch nicht, sie an ihre Pflichten zu erinnern.“ Möchte sich, meine lieben Freunde, an uns das Wort erfüllen, das Petrus in seinem 1. Brief an die Christen seiner Zeit richtet: „Ihr hattet euch verirrt wie Schafe, jetzt aber seid ihr heimgekehrt zum Hirten und Bischof eurer Seelen.“

Amen.

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