Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
25. Dezember 2016

Die göttliche Person in zwei Naturen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte, zum Fest der Geburt unseres Heilandes Versammelte!

Nach dem Zeugnis der Evangelien trat Jesus Christus als leibhaftiger Mensch vor seine Zeitgenossen und gleichzeitig als unmittelbarer Träger göttlicher Rechte und göttlicher Machtvollkommenheiten, als wahrer Mensch und als wahrer Gott in einer Person. Er verlangte unbedingten Glauben an seine göttliche Sendung und seine göttliche Sohnschaft. Er bezeichnete diesen Glauben selbst als Offenbarung des für sonst niemand erkennbaren Geheimnisses Gottes des Vaters. „Niemand kennt den Sohn als der Vater, und den Vater kennt niemand als der Sohn und wem er es offenbaren will.“ Die Tatsache steht fest. Wie ist sie zu verstehen? Können wir versuchen, ein Verständnis von dem zu gewinnen, was vor 2000 Jahren geschehen ist? Menschwerdung, meine lieben Freunde, ist die Annahme der menschlichen Natur durch die zweite Person der heiligsten Dreifaltigkeit. In Christus ist eine göttliche Person, eine göttliche Person, nur eine göttliche Person, nämlich die Person des göttlichen Wortes. Aber in ihm sind zwei Naturen: eine göttliche und eine menschliche. Was bedeutet Natur? Was bedeutet Person? Natur ist das, was einem bestimmten Ding seine innerste Bestimmtheit, seine Wesenheit gibt. Natur ist das, was den Menschen zum Menschen macht. Person ist das Ich, das durch die Kräfte der Natur tätig ist, das diesen Kräften bestimmend, befehlend gegenübertritt. Das Ich ist verantwortlich für das, was geschieht. Natur und Ich, Natur und Person stehen sich also gegenüber. Die Natur steht in der Verfügungsgewalt der Person. Sie ist das Eigentum der Person. Person ist das Sein, welches die Natur durchdringt, gestaltet und besitzt. Die Menschwerdung bedeutet demnach: Eine bestimmte menschliche Natur ist so mit dem LOGOS (der zweiten Person in Gott) geeint, dass sie nicht mehr einen menschlichen Selbststand hat, sie ist nicht mehr Eigentum einer menschlichen Person, sondern sie hat Selbststand nur im Selbststand der göttlichen Person, im Selbststand des göttlichen LOGOS. Nicht mehr ein menschliches Ich redet, denkt, will und handelt mit den Kräften der menschlichen Natur, sondern das Ich des Gottessohnes. Bei dieser Sachlage darf und muss man die Handlungen der menschlichen Natur vom Ich des göttlichen LOGOS aussagen. Er ist der in der menschlichen und in der göttlichen Natur Tätige. Er verantwortet also auch die Tätigkeiten der menschlichen Natur. So unglaublich es dem menschlichen Ohr klingt, so muss man doch sagen: Der Sohn Gottes, sofern er der Inhaber der menschlichen Natur ist, ist geboren worden, sodass seine irdische Mutter Gottesgebärerin heißen kann und heißen muss. Vom Augenblick der Empfängnis an war das Wesen, das im Schoße Mariens entstand, der Gottmensch.

Dieses doppelte Sein, diese doppelte Natur beweist er in seinem ganzen Leben. Er isst und trinkt, er wird müde und schläft, er weint und tröstet, er zürnt und verzeiht, er fürchtet und überwindet. Er ist an diesem und jenem Ort, er hat sein Blut vergossen, er schenkt uns seinen Leib. Eigenschaften und Tätigkeiten der menschlichen Natur werden von dem göttlichen Ich des LOGOS ausgesagt. Eigenschaften und Tätigkeiten der göttlichen Natur werden von dem gleichen Ich ausgesagt: „Ich und der Vater sind eins“, „Wer mich sieht, der sieht auch den Vater“, „Mir ist alle Gewalt gegeben im Himmel und auf Erden“, „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen“. Er ist der Menschensohn, der wiederkommen wird in Macht und Herrlichkeit. Das göttliche Ich ist die personale Daseinskraft der menschlichen Natur Christi. Der Evangelist Johannes spricht diesen Sachverhalt in dem soeben gehörten inhaltsschweren Satz aus: „Das Wort ist Fleisch geworden.“ Das Wort, der LOGOS, die zweite Person in Gott, das persönliche, das personhafte Wort Gottes, das Wort, das Person ist, dieses Wort ist eingetreten in den Bereich des Fleisches. Damit wird ausgedrückt die Hinfälligkeit, die Schwäche, die Vergänglichkeit des Menschen; das ist mit dem Ausdruck Fleisch gemeint. Der LOGOS ist unwandelbar. Er konnte nicht in ein Geschöpf verwandelt werden, er konnte nicht aufhören zu sein, was er immer war, und anfangen zu sein, was er nicht war. „Er blieb, was er war, aber er nahm an, was er nicht hatte“: das Fleisch, die menschliche Natur in ihrer Hinfälligkeit. Der LOGOS stieg vom Himmel herab – so bekennen wir in jedem Glaubensbekenntnis –, aber das besagt nicht, dass er einen Ort verlassen hätte und einen unermesslichen Raum durcheilend an einen anderen Ort gegangen wäre. Er, der Unermessliche, der Allgegenwärtige ist keinem Raum näher, keinem ferner. Er erfüllt, er trägt, ja er schafft jeden Raum. Er hat eine Grenze überschritten, aber keine sichtbare, sondern eine unsichtbare, nämlich die Grenze, die zwischen der Seinsart des Geschöpfes und der Seinsart des Schöpfers verläuft. Er ging hinüber über die Grenze, die zwischen Gott und Geschöpf aufgerichtet ist. Er nahm die Natur des Fleisches, die vergängliche menschliche Natur an, sodass sie seine Natur, die Natur des personhaften Gottessohnes war. Er ergriff sie und verband sich mit ihr. Er setzte sie in eine so innige und tiefgehende Beziehung zu sich selbst, dass er ihr Ich wurde. Die Menschwerdung des LOGOS schränkt seine Gegenwart nicht auf den Raum der von ihm angeeigneten menschlichen Natur ein, sodass er jenseits ihrer nicht mehr gegenwärtig wäre. Die Menschwerdung des LOGOS ist vielmehr eine besondere, einmalige, sonst nirgends vorkommende Beziehung zu einer konkreten, aus Maria stammenden menschlichen Natur.

Ihren Ausgang nahm diese Beziehung in einem ewigen Ratschluss des himmlischen Vaters. Gott hat seinen eigenen Sohn in der Gestalt des sündigen Fleisches und um der Sünde willen gesandt. Wozu? Damit er die Welt erlöse. Der Sohn, der ein göttliches Dasein hatte, hat diesem Befehl des Vaters gehorcht. Er hat nicht gemeint, seine gottgleiche Würde wie einen Raub festhalten zu sollen, nein, er begab sich ihrer und tauschte sie gegen ein Knechtsdasein ein, er wurde menschengleich in Gestalt und Gebärde. Er erniedrigte sich im Gehorsam bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuze. Die Person des göttlichen LOGOS bleibt unwandelbar die gleiche, aber er hat zu seiner göttlichen Seinsweise noch eine menschliche angenommen. Er, der Reiche, ist um unseretwillen arm geworden, damit er durch seine Armut uns reich mache. So gilt es also festzuhalten: Christus ist Gott, hochgelobt, und stammt doch dem Fleische nach von den Vätern. In Christus ist eine Herrlichkeit, die kein Weiser dieser Welt kennt, die nur der Geist Gottes selbst durchschaut. Und doch wurde der Herr der Herrlichkeit ans Kreuz genagelt. Erstaunlich ist an diesen Aussagen nicht bloß ihre Paradoxie, sondern auch die Sicherheit und Selbstverständlichkeit, mit der das Gegensätzliche ausgesagt wird. Derjenige, von dem solche Aussagen gemacht werden, lebt in der Entrücktheit Gottes und in der Hinfälligkeit des Fleisches zugleich. Er lebt in der Unsterblichkeit des göttlichen Lebens und in der Vergänglichkeit der menschlichen Ohnmacht. Das alles ist geschehen um unseres Heiles willen. Die Lehre von der Menschwerdung ist die Bürgin unseres Heiles. Durch die Verbindung des LOGOS mit einer menschlichen Natur empfängt die Schöpfung das vom ewigen Vater in ewiger Tat gezeugte volle Leben. Durch sie tritt die Zeugungstat des Vaters aus dem innergöttlichen Bereich heraus in den Bereich des Geschöpflichen. Da ist der Abgrund zwischen Gott und Mensch überwunden, ja, das ist er, er ist die Brücke, er ist der Mittler, der Mittler zwischen Gott und der sündigen Menschheit. Da Christus in seiner menschlichen Natur das Haupt der Schöpfung ist, ist durch ihn die ganze Schöpfung mit Licht und Leben erfüllt worden. Die Menschwerdung ist von kosmischer Bedeutung. Indem der Mensch den geschichtlichen Christus im Glauben ergreift, kann er durch ihn in das innergöttliche Leben eingehen.

Man sollte meinen, meine lieben Freunde, dass alle, die den Namen Christen tragen, in diesem Glauben übereinstimmen. Doch das ist leider nicht der Fall. Der evangelische Theologe Reinhold Seeberg schreibt mit brutaler Offenheit: „Es ist ein Wahn, den Christus des Johannesevangelium als einen auf Erden wandelnden Gott zu verstehen.“ Es ist ein Wahn – also ein Traumgebilde, ein Irrtum –, den Christus des Johannesevangeliums als einen auf Erden wandelnden Gott zu verstehen. Seeberg steht nicht allein. Viele evangelische Theologen teilen seine Meinung. Aber genau das, was Seeberg als Wahn bezeichnet, ist der Inhalt des christlichen Glaubens, ist der Grund, weswegen wir Weihnachten feiern! Jawohl, weil Gott ein Mensch geworden ist, gibt es die christliche Religion, gibt es ein heiliges Land, über dessen Boden er geschritten ist. Weil Gott ein Mensch geworden ist, bekennen wir Maria als seine Mutter. Es ist uns schmerzlich zu sehen, wie evangelische Christen sich von unaufgebbaren Wahrheiten des Christentums trennen. Es ist und bleibt Wahrheit, meine lieben Freunde, was der Engel den Hirten auf den Halden von Bethlehem verkündete: „Heute ist euch in der Stadt Davids der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr.“ Es bleibt wahr, was der greise Simeon im Tempel sagte: „Dieser ist bestellt zum Fall und zur Auferstehung vieler in Israel und zu einem Licht zur Erleuchtung der Heiden.“ Wir haben Christus nur als den Gottmenschen. Als Wanderprediger oder als Morallehrer brauchen wir ihn nicht, da ist er uninteressant; Menschen dieser Art hat es zu Hauf gegeben. Wer Jesus wirklich folgen will, der muss ihn als Gottmenschen bekennen. Was Jesus einzigartig und einmalig macht, ist die Aneignung der menschlichen Natur durch den LOGOS, das ewige Wort Gottes. Nur die Annahme der menschlichen Natur durch Jesus verbürgt uns das Heil. „Quod assumptum non est, non est sanatum“, so haben die Kirchenlehrer der alten Zeiten uns versichert: Was der Erlöser nicht angenommen hat, das ist auch nicht geheilt. Quod assumptum non est, non est sanatum. An der Wirklichkeit der Menschwerdung hängt unser Heil. Es ist das Heil, das Gott bereitet hat vor allen Völkern. Wegen dieses Geschehens ist Gott in der Höhe Ehre und den Menschen auf Erden Frieden. Die Menschwerdung ist keine Phantasie, die Menschwerdung ist eine geschichtliche Wahrheit genauso wie die Kreuzigung und die Auferstehung Jesu. Und darum gilt das Ereignis, das wir zu Weihnachten feiern, als die Grundlegung unserer Erlösung, unserer Befreiung, unserer Beseligung. „Nun fallen ab die Ketten, nun weicht die Dunkelheit. Das Kind kann uns erretten, verwandeln Leid in Freud.“

Amen.

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