Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
23. Juni 2013

Die Tugend der Mäßigkeit

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Sie wissen, was eine Tugend ist. Eine Tugend ist eine Fertigkeit, eine Geläufigkeit im Guten. Unter den Tugenden gibt es besonders gewichtige, man nennt sie die Kardinal-, die Haupttugenden. Es sind vier: Gerechtigkeit, Klugheit, Starkmut, Mäßigkeit. Wir wollen heute uns der Tugend, der Kardinaltugend der Mäßigkeit zuwenden. Mäßigkeit oder Mäßigung besagt Selbstbeherrschung. Sie bedeutet, dass alles sinnliche Luststreben der Vernunft unterworfen wird. Die Mäßigkeit hat natürlich ihr besonderes Objekt im Essen und Trinken. Die Zufuhr von Speise und Trank ist lebensnotwendig. Wir wissen, wie Menschen hungers, oder was noch schlimmer ist, durstes sterben können. Die Aufnahme von Nahrung und Trank ist mit Lustgefühlen verbunden, so hat es Gott gewollt, mit Lust-, aber auch mit Unlustgefühlen. Die Lustgefühle laden ein, die Unlustgefühle schrecken ab. Das rechte Maß richtet sich nach dem objektiven Bedürfnis. Man muss die Mindestgrenze erreichen und darf die Höchstgrenze nicht überschreiten. Die sittliche Tugend liegt aber nicht nur in der Einhaltung des objektiven gesundheitlichen Maßes, sondern vor allem in der Beherrschung des inneren Begehrens. Die Speise dient dem Leben und das sinnliche, leibliche Begehren muss dem Geiste unterworfen sein. Alles tierische Genießen, alles was die sittliche Freiheit beim Essen und Trinken verletzt, ist Sünde. Freilich, die Menge und die Art der Speise unterliegt Einschränkungen, unterliegt Forderungen, die sich aus der Umgebung, die sich aus der Sitte des Volkes ergeben. Man muss Rücksicht nehmen auf sich und auf andere. In jedem Falle sind die Gaben, die wir zu uns nehmen, als Geschenke Gottes zu würdigen. Deswegen lehrt uns die Kirche das Tischgebet. Wir sollen bitten und danken für die Gabe, die Gott uns gibt. Was ist es Erbärmliches, wenn, wie ich es in der Nazizeit erlebt habe, unter einer jungen Gemeinschaft als Tischgebet gesprochen wurde: „Es isst der Mensch, es frisst das Pferd, doch heute sei es umgekehrt.“ Das wurde als Tischgebet uns vorgetragen.

Der Widerspruch zur Tugend der Mäßigkeit ist die ungeordnete Neigung nach Speise und Trank, die Unmäßigkeit. Im Lukasevangelium steht die Mahnung: „Gebt acht auf euch selbst, damit nicht etwa eure Herzen mit Schwelgerei, Rausch und irdischen Sorgen beschwert werden.“ Schwelgerei kann eine Sünde, eine schwere Sünde sein, wenn sie zur Gefährdung der Gesundheit, zur groben Verschwendung oder zur völligen Hingabe an die Sinnenlust führt. Im Philipperbrief spricht der Apostel Paulus von denen, die Feinde des Kreuzes sind, denn ihr Gott ist der Bauch. Man spricht auch vom epikuräischen und sybaritischen Genuss. Sybaris war eine kleine Stadt in Süditalien, und diese Stadt war zu Macht und Reichtum gelangt. Sie weilte im Wohlleben, und deswegen nannte man diejenigen, die sich eben dem Wohlleben ergeben, Sybariten. Es hat immer Menschen gegeben, die kein Maß zu halten verstanden. Der Reichskanzler Otto von Bismarck war ein solcher. Viele Jahre lang hat er übermäßig gegessen und getrunken. Zum Frühstück aß er bis zu elf Eier. Erst der bayerische Arzt Schweninger hat ihn zu einer gesunden Lebensführung gebracht. Ähnlich der Komponist Max Reger. Er war einmal in Leipzig in einem Restaurant und bestellte vier Portionen. Der Kellner wartete mit dem Auftragen, bis die Gäste kämen. „Die sind schon alle da“, sagte Reger, und er hat vor den Augen des Kellners die vier Portionen aufgegessen. Das nennt man Unmäßigkeit.

Natürlich ist sie wahrscheinlich noch schlimmer, wenn sie sich auf das Trinken richtet, auf das Trinken alkoholischer, berauschender Getränke. Die Wirkung des Alkohols auf Gehirn und Nerven ist verheerend. Sie stört die normale Geistestätigkeit. Wenn der Vernunftgebrauch ausgeschaltet ist, spricht man von Trunkenheit. Man ist trunken, wenn der Vernunftgebrauch nicht mehr vorhanden ist, und der ist dann nicht mehr vorhanden, wenn man nicht mehr Gut und Böse unterscheiden kann. Die Hl. Schrift warnt vor der Trunkenheit: „Weder Ehebrecher noch Trunksüchtige noch Lästerer werden das Reich Gottes besitzen“, schreibt der Apostel Paulus. Er nennt die Trunkenheit unter den Werken des Fleisches, die vom Reiche Gottes ausschließen. „Wie am Tage lasst uns wandeln, nicht in Schwelgereien und Trinkgelagen.“ Unmäßiges Trinken verleitet zur Geschwätzigkeit, zu verwerflichen Unterhaltungen, zu ungehörigem Betragen. Die Trunksucht wirkt verheerend. Das Vermögen wird vergeudet, „vertrunken“, wie man sagt. Krankheiten stellen sich ein. Die Familie wird zerrüttet, ihre materielle Grundlage verschleudert, der Friede zerstört. Die Zucht der Kinder leidet, die Nachkommenschaft wird geschädigt, das Eheleben verwüstet. Die Trunkenheit zerstört schließlich den Sinn für alles Höhere. Ich habe einmal einen Trinker besucht, der saß am Tisch, hatte eine Flasche Schnaps vor sich und schüttete ein Gläschen nach dem anderen in sich hinein. Er sagte zu mir: „Ich brauche nur einen Bestatter.“ Unübersehbar und schlimm sind die sozialen Folgen. Durch Unmäßigkeit werden zweckmäßige Güter zerstört. Die Not der Armen wird dadurch gefördert. Die Unmäßigkeit schädigt und zerrüttet die geistige und leibliche Kraft. Sie steigert auch die Konkupiszenz. Der heidnische Dichter Terenz hat einmal den bedenkenswerten Satz geschrieben: „Sine Cerere et Baccho friget Venus“. Ceres ist die Göttin des Wachstums, Bacchus ist der Gott des Weines, Venus ist die Göttin der Liebe. Der Satz bedeutet also: „Ohne Nahrungsaufnahme und ohne geistige Getränke ist auch die Konkupiszenz nicht gefährlich.“ Sie wird erst gefährlich durch die wirkliche und überreichliche Nahrungsaufnahme und durch die Trunkenheit. Zum Trinker wird man durch Gewöhnung. Der Genuss alkoholischer Getränke beginnt mit scheinbar harmlosen Mengen und steigert sich allmählich. Vor Jahren kniete ich einmal in der Sakramentskapelle des Domes in Mainz. Ich bemerkte, dass ein Herr neben mir kniete, der nach Alkohol roch. Als ich mich umwandte, sah ich, es war ein Priester, dem ich die Primizpredigt gehalten hatte. Er war dem Alkohol verfallen. Er ist am Alkoholismus gestorben. Wie konnte es dazu kommen? Diejenigen, die ihn kannten, meinten, er habe auf den Schiffen, die er als Seelsorger begleitete, das Trinken gelernt. Andere meinten, er sei zum Trinken gekommen, um Trost zu suchen wegen der Herrschaft von dominanten Frauen in der Pfarrei. Der Alkoholismus, meine lieben Freunde, ist zu einer großen Gefahr für unser Volk geworden. Man schätzt in Deutschland zweieinhalb Millionen Alkoholkranke. Knapp 60% der 15- und 16-jährigen sind mindestens einmal im Monat betrunken. Das Komasaufen nimmt zu bei den Jugendlichen. 23.165 junge Leute zwischen zehn und zwanzig Jahren mussten während eines Jahres wegen Alkohols stationär behandelt werden. In diesen Tagen haben Abiturfeiern stattgefunden. In Bad Homburg haben sich die Schüler derart betrunken, dass vierzig von ihnen medizinisch versorgt werden mussten. In Frankfurt war es nicht viel anders. An die tausend betrunkene Jugendliche haben im Frankfurter Park einen Großeinsatz von Polizei und Feuerwehr ausgelöst. Totalabstinenz, also völlige Enthaltung von Alkohol, ist nicht vorgeschrieben, kann aber aus opferbereiter Nächstenliebe hervorgehen. Mein Religionslehrer war ein solcher Totalabstinenter. Er sagte einmal zu mir: „Solange es Menschen gibt, die zu viel trinken, muss es auch solche geben, die gar nichts trinken.“ Also aus opferbereiter Nächstenliebe hat er dem Alkohol völlig entsagt.

Freilich ist Schwelgerei, ist Trunkenheit nicht die einzige Sucht, der die Menschen nachgeben. Denken Sie auch an die Unmäßigkeit im Rauchen. Rauchen gilt in der Pubertät als ein Mittel, um dem anderen Geschlecht zu imponieren. Man erhofft auch davon Überwindung der Selbstunsicherheit. Man meint, man könne damit leichter Prüfungen und Stresssituationen bewältigen. Und in der Tat hat das Rauchen einen anregenden und in höheren Dosen einen beruhigenden Einfluss. Es mindert Hunger und Angstgefühle. Aber in vielen Fällen kommt es zu einer pharmakologischen Abhängigkeit von Nikotin. Unser Sportlehrer warnte davor, ein Sklave der Zigarette zu werden. Denken Sie an den ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt, bei dem die Zigarette nicht ausgeht. Wir haben es in der Gefangenschaft erlebt, dass Kameraden ihre dürftige Lebensmittelration weggaben, um Rauchware zu erlangen. Rauchen ist eine Gefahr für die Gesundheit. Es kann gefäßschädigende Wirkungen haben, führt zu Arteriosklerose, Herzinfarkt, Schlaganfall, Gefäßverschlüsse der unteren Gliedmaßen, man spricht vom Raucherbein. Dem Bundespräsidenten Heuss, der ein starker Raucher war, musste ein Bein abgenommen werden. Vielleicht noch schlimmer ist der übermäßige Gebrauch von Drogen, Rauschmitteln, Rauschgiften. Man rechnet heute in der ganzen Welt mit einem Umsatz an Drogen von über tausend Milliarden Euro. Über tausend Milliarden Euro werden umgesetzt im Rauschmittelhandel. Menschen greifen zu Drogen in Konfliktsituationen, aus Überdruss, Einsamkeit, Isolation, aber auch zur Steigerung des Lebensgenusses. Bei jungen Menschen stehen Neugier oder Abenteuerlust, Belastungen in der Zeit der Pubertät, Angst vor der Zukunft, mangelndes Selbstwertgefühl, Protest gegen die Welt der Erwachsenen im Vordergrund als Motive. Der wiederholte Gebrauch von Drogen kann zur Sucht, zur Drogensucht führen, und diese Sucht setzt sich dann über alle moralischen Bedenken hinweg. Um zu Drogen zu gelangen, gibt es eine eigene Drogenkriminalität. Der Süchtige verliert die Kontrolle über sich. Häufig ist damit verbunden Prostitution, HIV-Infektion, Aids, gesellschaftliche Ausgrenzung und Verelendung. Das relativ harmlose Morphium wird ja heute kaum noch gebraucht, aber wir haben einen geschichtlichen Fall des Missbrauchs von Morphium, nämlich bei dem Feldmarschall und späteren Reichsmarschall Hermann Göring. Er war morphiumsüchtig. In einem solchen Morphiumrausch machte er die Aussage: „Wenn ein einziges feindliches Flugzeug über Deutschland kommt, will ich Meier heißen.“ Bald kamen tausende und abertausende von Flugzeugen über Deutschland und zerstörten die deutschen Städte. Die Zahl der Haschischkonsumenten in Deutschland wird auf 200.000 bis 300.000 geschätzt. Dazu kommen sechzig- bis siebzigtausend Heroinabhängige. Eine andere Erscheinung, die mit der Unmäßigkeit zusammenhängt, ist die Wegwerfgesellschaft. Ich habe hier ein Blatt mit amtlichen Angaben. Da heißt es: Ein Drittel aller Lebensmittel landet nicht auf dem Esstisch, sondern im Müll, das meiste schon auf dem Weg vom Acker in den Laden, bevor es überhaupt unseren Esstisch erreicht. Jeder zweite Kopfsalat, jede zweite Kartoffel und jedes fünfte Brot. Das entspricht etwa 500.000 Lkw-Ladungen pro Jahr. Bis zu 20 Millionen Tonnen Lebensmittel werden jedes Jahr allein in Deutschland weggeworfen. Die Älteren von uns haben noch erlebt, wie der Wirtschaftsminister Ludwig Erhard aufrief zum Maßhalten. „Maßhalten“, hat er gesagt, „müsst ihr, nicht euch ins Übermaß verirren.“ Die Kirche hat das Maßhalten immer den Menschen vorgelegt und eingeschärft. Sie hat die Unmäßigkeit unter die sieben Hauptsünden eingereiht. Die Kirche hat Abbruchs- und Enthaltungsfasten geboten. Wie segensreich ist noch heute, was davon übriggeblieben ist, das Freitagsgebot. Es dient auch der Beherrschung des Nahrungstriebes. Das eucharistische Fasten ist zwar hauptsächlich wegen der Würde der eucharistischen Speise eingeführt, aber hat auch eine Auswirkung auf die Mäßigung. Es ist gar keine Frage, meine lieben Freunde, dass die Gefahren der Sucht heute unser Volk und Millionen unserer Volksbrüder bedrohen. Zur Sucht kann beinahe alles werden, nicht nur Essen und Trinken, nicht nur Tabak und Nikotin und Drogen. Auch das Fernsehen, auch das Internet, auch der Sport können zu Drogen werden. Um sich zu betäuben, um sich abzulenken, um sich einen Genuss zu verschaffen, greifen die Menschen zu diesen Mitteln. Letztlich ist für diese Erscheinungen nichts anderes verantwortlich als der Verlust Gottes. Wer Gott nicht sucht, der verfällt der Sucht.

Amen.                 

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