Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
13. Februar 2011

Die Gnade Gottes – Heilmittel für die Seele

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir hatten an einem der vergangenen Sonntage erkannt, dass kein heilswirksames Werk vom Menschen geschehen kann ohne die Gnade. Wir können heilswirksam, verdienstlich nur wirken, wenn die Gnade uns trägt und beisteht. Diese Wahrheit ist aber nicht von allen, die sich Christen nennen, angenommen worden. Es sind Männer aufgestanden, die sagten: Der Mensch kann von Natur aus, ohne die Gnade, überhaupt nichts. Er kann, wenn er die Gnade nicht hat, nur sündigen. Alles, was ein Mensch tut ohne die Gnade, ist Sünde.

Die dies vertreten haben, sind Martin Luther, Bajus, Quesnel und die Jansenisten. Sie haben die Befähigung des gefallenen Menschen geleugnet, überhaupt etwas Gutes tun zu können. Sie haben darüber hinaus erklärt: Alles, was ein nicht in der Gnade stehender Mensch tut, ist Sünde.

Diese Irrlehre ist eine große Gefahr, denn wer sie annimmt, der raubt dem übernatürlichen Leben jede natürliche Grundlage. Der Mensch ist dann nicht mehr fähig, dem Rufe Gottes zur Begnadigung zu folgen. Diese Irrlehre hat ihr Wurzel darin, dass man sagt: Die Erbsünde hat den Menschen total verderbt. Das ist die Irrlehre Luthers. Die Erbsünde hat den Menschen total verderbt. Dagegen die katholische Lehre: Nein, es gibt keine wesenhaft böse Natur. Die menschliche Natur ist verwundet, sie ist geschwächt, aber sie ist nicht ausgelöscht. Sie ist nicht total verderbt. Deswegen gibt es natürlich gute Handlungen. Worin bestehen sie? Die natürlich gute Handlung besteht darin, dass man mit dem Gewissen und dem Willen das Rechte erkennt und tut. Dass man mit Gewissen und Willen das Rechte, das Gottgewollte tut, dem Sittengesetz zustimmt. Und um das zu verstehen, wollen wir heute fünf Sätze aufstellen.

Der erste Satz lautet: Der gefallene Mensch, also der Mensch ohne Gnade, vermag aus eigener Kraft seines Verstandes den einen wahren Gott aus dem Schöpfungswerk mit Sicherheit zu erkennen. Die Kirche hat immer die natürliche Erkennbarkeit Gottes festgehalten. Sie hat sie sogar auf dem Ersten Vatikanischen Konzil definiert. Damit hat die Kirche nichts anderes getan als die Lehre des Apostels Paulus zu wiederholen: „Was man von Gott erkennen kann“, schreibt er im Römerbrief, „ist den Heiden offenbar. Gott selbst hat es ihnen geoffenbart. Sein unsichtbares Wesen, seine ewige Macht und Göttlichkeit sind seit Erschaffung der Welt durch das Licht der Vernunft an seinen Werken zu erkennen.“ Durch das Licht der Vernunft an seinen Werken, oder besser noch aus seinen Werken zu erkennen. Das ist gerade entgegengesetzt den Irrlehren von Luther und seinen Gefolgsleuten. Denn er verwirft ja die Vernunft. „Die Vernunft“, sagt er, „ist eine Hure. Sie stinkt nach dem Bock Aristoteles.“ Er traut der Vernunft überhaupt nichts zu. Sie kann weder etwas erörtern noch schließen. Dagegen hat die Kirche, hat unsere Kirche immer an der Kraft der Vernunft festgehalten, den unsichtbaren Gott aus seinen sichtbaren Werken erkennen zu können.

Zweiter Satz: Der gefallene Mensch vermag aus eigener Kraft auch ohne Gnade manches natürlich gute Werk zu verrichten, so dass nicht alle Werke der Heiden Sünde sind. Die Kirche verwirft mit diesem Satz zweierlei, einmal dass der gefallene Mensch ohne Gnade in allem sündigen würde. Alles, was er tut, ist Sünde. Das ist verworfen. Und dann, dass der Unglaube allein schon jedes natürlich sittliche Handeln notwendig in Sünde umschlagen läßt. Nein. Die Heilige Schrift traut den Heiden natürlich gute Werke zu. Der Heiland sagt es ja selber: „Wenn ihr nur die grüßt, die euch grüßen, was tut ihr da Besonderes? Das tun auch die Heiden.“ Grüßen, einem anderen also freundlich gegenübertreten, ist eine gute Tat, und das können die Heiden. Das sagt uns der Heiland. Und noch deutlicher spricht es der Apostel Paulus aus: „Wenn die Heiden, die das Mosaische Gesetz nicht haben, aus natürlichem Antriebe – aus natürlichem Antriebe! – das tun, was zum Gesetz gehört, so sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz und zeigen, dass die Werke des Gesetzes in ihre Herzen geschrieben sind.“ Er traut den Heiden gute Werke zu. Er traut sie ihnen zu, obwohl sie das Gesetz des Moses nicht kennen. Es gibt eben ein natürliches Sittengesetz, und dieses ist in die Herzen der Menschen eingeschrieben und wird ihnen offenbar durch den Spruch des Gewissens.

Der dritte Satz lautet: Der gefallene Wille vermag nicht auf lange Zeit hindurch ohne Gnade das natürliche Sittengesetz in seinem ganzen Umfang zu beobachten, so dass er eben von Zeit zu Zeit in schwere Sünde fällt. Es gibt also Grenzen für den Willen, für den natürlichen Willen, und diese Grenze liegt darin, dass das gesamte Gesetz von ihm nicht beobachtet werden kann. Schon der Gerechtfertigte weiß, dass er unter Versuchungen zu leiden hat, dass die Konkupiszenz ihm zu schaffen macht und dass er auf längere Zeit nicht imstande ist, ohne jede läßliche Sünde zu leben. Erst recht kann das nicht der Mensch, der ohne die Gnade ist. Wiederum hat es Paulus wie kein anderer meisterhaft ausgesprochen im Römerbrief: „Denn ich habe Lust am Gesetze Gottes dem inneren Menschen nach, ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, welches dem Gesetz meines Geistes widerstreitet und mich gefangen hält unter dem Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist.“ Dann ruft er aus: „Ich unglückseliger Mensch! Wer wird mich erretten aus diesem Leib des Todes?“ Die gefallenen Menschen sind fähig, Teile des Naturgesetzes zu erfüllen, aber nicht das ganze Gesetz. Sie sind nicht fähig, sich auf längere Zeit von Todsünden freizuhalten.

Der vierte Satz lautet: Ohne Gnadenbeistand muss der Wille dem Anprall heftiger Versuchungen gegen das natürliche Sittengesetz mit großer Wahrscheinlichkeit mit moralischer Notwendigkeit erliegen. Moralische Notwendigkeit nennt man eine Notwendigkeit, die sich aus der menschlichen Schwäche, nicht aus der Sache selbst herleitet. Der Satz bedeutet: Über jeden Menschen kommen Versuchungen. Die Welt, das Fleisch, die Begierde, der Satan bereiten uns Versuchungen. Aber wir vermögen ihnen zu widerstehen in der Kraft der Gnade. Es gibt keinen Menschen auf Erden, der von Versuchungen völlig frei bleibt. Da zitiere ich immer das Wort des heiligen Pfarrers von Ars: „Nicht versucht zu werden ist der Zustand jener, die der Teufel für die Hölle herrichtet.“ Ich habe mich nicht versprochen. Nicht versucht zu werden ist der Zustand jener, die der Teufel für die Hölle herrichtet. Versuchungen gehören zu unserem Stande. Sie sind ja ganz erklärlich. Wer steht, den sucht der Teufel zu Fall zu bringen, also versucht er ihn.

Der fünfte Satz lautet: Nicht alle Werke des Todsünders sind schon deshalb sündhaft, weil er sich nicht im Stande der Gnade befindet. Das ist vielleicht der wichtigste von den fünf Sätzen. Nicht alle Werke des Todsünders sind schon deshalb sündhaft, weil er sich nicht im Stande der Gnade befindet. Das ist der Irrtum Luthers. Er sagt: Die Natur ist infolge der Erbsünde total verderbt, und deswegen kann der Mensch von Natur aus nur sündigen, nichts Gutes tun. Dasselbe hat Michael Bajus vertreten, der sagt: Der gefallene Mensch ist impotent, etwas Gutes, auch nur das geringste Gute, zu tun. Und Jansenius hat es auf die Spitze getrieben mit seinem Buche „Augustinus“. Schließlich noch Quesnel, ein arroganter theologischer Bettler. Er hat den Satz vertreten: Wenn der Mensch betet, sündigt er. Wenn der gefallene Mensch betet, sündigt er. Nein, meine lieben Freunde, das ist nicht die Lehre der Kirche. Die Kirche hat auf dem Konzil von Trient definiert, als zum Dogma erhoben: „Wer sagt, alle Werke, die vor der Rechtfertigung geschehen, seien Sünde, der sei ausgeschlossen.“

In der Heiligen Schrift ergeht an den Sünder unzählige Male die Aufforderung, Reue zu zeigen, Buße zu üben, zu beten, Almosen zu geben, um sich auf diesem Wege die verlorene Freundschaft Gottes wieder zu erwerben. Wären nun alle diese Werke des nicht gerechtfertigten Sünders Sünde, dann würde Gott zur Sünde auffordern. Nein, das ist ausgeschlossen. Die guten Werke, die der Sünder verrichtet, tragen zu seiner Bekehrung bei. Durch die Verrichtung guter Werke wendet sich der Sünder von den Geschöpfen ab und Gott zu. Es wird immer heller in seiner Seele und immer wärmer in seinem Geiste. Er beginnt ein neues Leben. Die guten Werke des Sünders sind nicht verdienstlich, sie tragen nichts für die Ewigkeit bei, weil sie nicht in der Gnade geschehen. Aber sie erwerben die Gnade der Verzeihung. Sie haben diese Kraft. Sie werden nicht im Himmel belohnt, aber sie tragen zur Bekehrung bei.

Diese Sätze, meine lieben Freunde, die ich Ihnen eben vorgelegt habe, sind von großer praktischer Bedeutung. Diese Lehre ist nämlich sehr tröstlich. Wer das Unglück hat, in eine Todsünde zu fallen, soll sich selbstverständlich sogleich bemühen, durch Reue und Beicht den Stand der Gnade wieder zu gewinnen. Nicht warten, nicht aufschieben, nicht verzögern. Sogleich bereuen, aus Liebe zu Gott bereuen. Sogleich das Bußsakrament empfangen, würdig und zerknirscht, damit die Gnade wieder einzieht in die Seele. Ich habe Ihnen schon gelegentlich gesagt, welches Wunder, welches Gottesgeschenk die vollkommene Reue ist. Die vollkommene Reue, verbunden mit der festen Absicht, sobald wie möglich zu beichten, tilgt in diesem Augenblick die Sünde. Ich wiederhole noch einmal: Die vollkommene Reue, verbunden mit der Absicht, sobald wie möglich zu beichten, tilgt in diesem Augenblick die Sünde. Das ist außerordentlich tröstlich. Man braucht nicht zu warten, bis wieder der Samstag kommt und der Priester im Beichtstuhl ist. Wir können sofort wieder in den Gnadenstand zurückkehren. Wie wunderbar! Welch ein Geschenk! Aber auch im Stande der Gnadenlosigkeit ist nicht alles verloren. Wer im Stande der Todsünde ist, der darf nicht sagen: Jetzt kann ich mich vollends gehen lassen. Ich bin aus der Gnade herausgefallen. Jetzt ist alles egal, was ich tue oder lasse, es ist eh alles hin. Nein, meine Freunde, nein. Wir müssen das vor allem den Jugendlichen sagen, die mit der Sünde der Selbstbefleckung ringen. Wenn sie einmal gefallen sind, dann sind sie manchmal niedergeschlagen und sagen: Jetzt ist alles egal, jetzt kann ich die Sünde auch fünf- oder sechsmal tun. Nein! Nicht die Sünde wiederholen, sondern reuevoll zu Gott aufblicken, sich von der Versuchung losreißen, Taten der Nächstenliebe setzen. Um die Sünde gegen die Keuschheit zu überwinden, meine Freunde, gibt es ein untrügliches Mittel. Es ist nichts so hilfreich wie die wirksame Liebe zum Nächsten. Warum? Weil Unkeuschheit ungeordnete Liebe zu sich selbst ist. Man will sich einen unerlaubten Genuß verschaffen. Diese verhängnisvolle Neigung wird besiegt, wenn man sich dem Nächsten zuwendet, ihm seine Last tragen hilft. Über der Hilfe für den anderen vergißt man gleichsam die eigene Begierde, schämt man sich, sich ihr hinzugeben. Auch im Zustand der Todsünde kann uns soll der Mensch Gutes tun: beten, den Gottesdienst besuchen, bereuen. So bereitet er sich auf die Erneuerung des Gnadenstandes vor. Das müssen wir vor allem den unglücklichen Brüdern und Schwestern sagen, die im Dauerzustand der Sünde leben und die daraus nicht herausfinden. Zum Beispiel die ungültig Verheirateten. Sie sind nicht von Gott verlassen. Seine Liebe umgibt sie, harrt auf ihre Bekehrung, sucht sie heim durch innere und äußere Gnaden. Ihnen muss man sagen: Niemals aufgeben, niemals alles verloren geben. Es ist niemals alles verloren.

Vor allem den Verkehr mit Gott nicht unterbrechen, die täglichen Gebete verrichten, den Gottesdienst am Sonntag besuchen. Beten soll man dann am meisten, wenn es einem am schwersten fällt. Beten soll man dann am meisten, wenn es einem am schwersten fällt. Dem Nächsten Gutes tun, hilfreich, freigebig, mitfühlend sein, dem Bruder, der Schwester in Angst und Not Trost spenden. Auf diese Weise bereitet sich der Sünder für den Wiedereintritt der Gnade vor. Gott will nicht, dass jemand verloren gehe, sondern dass alle zur Sínnesänderung gelangen. „So wahr ich lebe, spricht der Herr, ich habe kein Wohlgefallen am Tode des Gottlosen, sondern dass der Gottlose sich von seinem Wege bekehre und lebe.“

Amen.

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