Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
14. Februar 2010

Die Blindheit des Herzens im Gottvertrauen überwinden

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Das Evangelium des heutigen Sonntags ist merkwürdig zweigespalten. Im ersten Teil die Leidensankündigung, im zweiten Teil die Heilung eines blinden Bettlers. Man könnte meinen, das habe nichts miteinander zu tun. Aber ich meine, die Kirche hat damit eine bestimmte Absicht verfolgt. Sie will vielleicht die erste Begebenheit durch die zweite auslegen und erklären.

„Siehe, wir ziehen hinauf nach Jerusalem.“ Hinauf; warum denn hinauf? Ja, weil Jerusalem hoch liegt, 700 – 850 Meter über dem Meeresspiegel. Das Jordantal, durch das der Herr gezogen kommt, liegt tief. Das Rote Meer liegt ja bekanntlich unter dem Meeresspiegel. Deswegen: „Wir ziehen hinauf nach Jerusalem. Dort wird sich alles erfüllen, was über den Menschensohn gesagt worden ist.“ Er ist der Menschensohn, der Menschensohn in einzigartiger Gestalt. Er ist der Menschensohn, der im Buche Daniel schon verkündet worden ist. Er ist der Menschensohn, der der Messias ist. Und dieser Menschensohn ist gleichzeitig der Gottesknecht des Propheten Isaias. Menschensohn, Messias, Gottesknecht – das alles bündelt sich in der Gestalt Jesu. Deswegen muss auch alles geschehen, was über ihn geschrieben ist, was die Propheten über ihn geschrieben haben. „Er wird den Heiden ausgeliefert.“ Das ist für einen Juden eine schreckliche Angelegenheit, denn die Juden, das wissen Sie ja auch aus unserer Gegenwart, haben ein großes Selbstbewußtsein, ein großes Sendungsbewußtsein. Und wenn jetzt einer aus ihrer Mitte den Heiden ausgeliefert wird, dann ist das die Ausstoßung aus der heiligen Gemeinschaft. Das ist schmerzlich, das ist bitter, das tut weh. Er wird den Heiden ausgeliefert. Aber nicht genug damit: „Sie werden ihn mißhandeln, sie werden ihn anspucken, sie werden ihn töten.“

Wer sind denn die, die ihn töten? Sind das die Soldaten? Sind das die Hohenpriester, die die Verantwortung tragen, oder sind das wir, die wir ihn ans Kreuz gebracht haben? „O Herr, was du erduldet, ist alles meine Last. Ich habe das verschuldet, was du getragen hast.“ Die Schmach, die Jesus auf sich nimmt, die haben wir verursacht. Er hat unsere Sünden auf das Kreuz getragen. Durch seine Wunden wurden wir geheilt. Im Brief an die Hebräer steht ein Satz, der vielen Gläubigen unbekannt ist, nämlich da heißt es: „Diejenigen, die, nachdem sie einmal erleuchtet wurden und zum Glauben gekommen sind, vom Glauben wieder abfallen, die kreuzigen Jesus von neuem.“ Sie kreuzigen Jesus von neuem.

Diese schreckliche Leidensankündigung wird den Jüngern unterbreitet. Aber als der Herr sie anschaut, sieht er in verständnislose Augen. Die Jünger haben die Worte gehört, aber nichts begriffen. Sie sind lange in der Schule des Meisters gewesen; sie haben sicher auch vom Propheten Isaias gehört und vom Gottesknecht, der leiden muss, aber sie hören weg. Lukas sagt dreimal dasselbe, dass sie nicht hören wollen: „Sie verstanden nichts davon“; „diese Rede war für sie dunkel“; „sie begriffen nicht, was damit gemeint war.“ Stärker kann man nicht das Unverständnis der Jünger ausdrücken. Sie hören nicht, weil sie nicht hören wollen. Der Mensch hat die furchtbare Gabe, wegzuhören, zu überhören. Das, was ihn nicht interessiert oder was er nicht hören möchte, das hört er nicht. Der Mensch hat die furchtbare Gabe, wegzuhören.

Was hier im heutigen Evangelium geschrieben ist, das gilt auch für uns. „Alles“, sagt der Apostel Paulus, „alles, was geschrieben steht, ist zu unserer Belehrung geschrieben“, also auch das Nicht-hören-wollen, das Weghören, das Ausweichen vor unbequemen Wahrheiten und Wirklichkeiten. Man will nicht hören, um nicht gebunden zu sein, um nicht verpflichtet zu werden. Man will nicht hören, um nicht tun zu müssen, was unbequem, lästig, peinlich ist. Im privaten Leben mag das Nicht-hören-wollen, das Weghören in vielen Fällen keine schlimmen Folgen haben. Aber das Weghören kann schlimme Folgen haben, wenn es Menschen in führenden Stellungen sind, die dieses Weghören auf sich nehmen, die Unangenehmes nicht hören wollen. Dann verpassen sie nämlich die Wirklichkeit, dann verpassen sie die Tatsachen. Wie sagt Lenin: „Tatsachen sind hartnäckige Dinge.“ Wahrhaftig, das sind sie. Tatsachen sind hartnäckige Dinge.

Soeben haben wir einen solchen Fall erlebt. Ich meine die schmerzvollen Vorgänge im Jesuitenorden. Sie treffen nicht nur diese Gemeinschaft, sondern sie treffen die ganze Kirche. Auch hier hat alles begonnen mit dem Nicht-hören- und Nicht-sehen-wollen. Jahrhunderte lang war der Jesuitenorden eine Zierde unserer Kirche. Er hat die Kirche verteidigt, gestützt und gefördert. Seine Mitglieder sind in die Missionen hinausgezogen und haben ganze Länder für den Glauben gewonnen. Seit dem Konzil hat sich das verändert. Von 1965 bis 1983 war Pedro Arrupe, ein Spanier, der Generalobere. Er regierte den Orden nicht, sondern ließ sich treiben. Die Disziplin im Orden löste sich auf. Befehle der Oberen wurden entweder gar nicht mehr gegeben oder nicht befolgt. Viele machten, was sie wollten. Das gemeinschaftliche Leben wurde sabotiert. Manche blieben der täglichen Meßfeier fern, andere betrachteten diejenigen, die das Brevier beten, als bigotte Sonderlinge. Den Papst zu kritisieren gehört seitdem zum guten Ton in der Gesellschaft Jesu. Der Orden war einmal gegründet worden zur Verteidigung des Papsttums. Heute finden sich in ihm die heftigsten Kritiker des Papstes. Seit 1871 geben die Jesuiten eine Zeitschrift heraus, die heute „Stimmen der Zeit“ heißt. Ich sehe mir fast jedes Heft an. Diese Zeitschrift widmet sich der populären Darstellung von Religion, Kultur, Wissenschaft aus katholischer Sicht; zumindest hat sie es früher getan. Seit den 60er Jahren läßt sich eine starke Änderung der Richtung feststellen. Jetzt begannen die Sticheleien gegen die kirchliche Lehre und gegen die kirchliche Ordnung. Die Jesuiten, die einst zur Verteidigung des Papsttums angetreten sind, verfielen immer mehr in Kritik des Papsttums und in Widerstand gegen den Willen der Päpste.

Auch die Lehre der Professoren aus dem Jesuitenorden ist nicht mehr insgesamt intakt. Es zeigen sich auch in der Lehre Auflösungserscheinungen. Das Landgericht Hanau – das Landgericht Hanau – hat festgestellt, dass ein junger Mann, der in St. Georgen bei den Jesuiten studierte, kein Examen machen konnte, weil dort Häresien vertreten werden. Ein rechtskräftiges Urteil des Landgerichts Hanau. Der Student brach sein Studium ab, weil ihm nicht zuzumuten sei, an einer Hochschule, an der Häretisches gelehrt wird, ein Examen zu machen. Das Landgericht führte dann aus: „Indem die Hochschule den häretischen Dozenten duldet, macht sie sich der Verbreitung der Häresie schuldig.“ Urteil des Landgerichts Hanau.

Dem inneren Zerfall entsprach der äußere. Der Orden hatte 1965 36.000 Mitglieder. 30 Jahre später waren es noch 22.000. Heute sind es angeblich noch knapp 17.000. Ich möchte nicht mißverstanden werden. Der Orden hat zweifellos auch heute noch viele Mitglieder, die sich dem Ideal der größeren Ehre Gottes verpflichtet wissen. Aber es ist ebenso sicher, dass sehr viele sich davon entfernt haben. Dem Heiligen Stuhl ist der Niedergang der Jesuiten nicht verborgen geblieben. Papst Paul VI. versammelte die Mitglieder der Generalkongregation in der Sixtinischen Kapelle vor dem Bild vom Jüngsten Gericht und redete ihnen ins Gewissen. Er setzte einen Kommissar ein. Aber die Jesuiten kehrten nicht um. Der Weg in den Abgrund geht weiter, alles im Zeichen der Anpassung und der zeitgemäßen Veränderung. Am 7. Juli 1973 veröffentlichte der Jesuitenprofessor Ludwig Volk in der Tageszeitung „Die Welt“ einen Artikel mit der Überschrift: „Die Soldaten Gottes kommen aus dem Tritt.“ Darin führte er aus, dass der Orden gegenwärtig in der schwersten Existenzkrise seiner 400-jährigen Geschichte sich befindet. Er befinde sich in Zersetzung und Auflösung. Volk stellte die Frage, ob der heutige Orden noch mit dem identisch sei, den der heilige Ignatius 1540 gegründet hatte. Und er fragte weiter, ob der Orden weiter auf der Bahn des „begeisterten Selbstmordes“ weiterschreiten wollte. Der Artikel war ein Alarmruf, ein Notschrei. Ich habe ihn damals gelesen und natürlich auch aufbewahrt. Wie reagierte der Orden? Die verantwortlichen und maßgebenden Personen wollten nicht hören, was Pater Volk ihnen sagte. Sie versuchten ihn mundtot zu machen. Wilhelm Schamoni, der Herausgeber der Zeitschrift „Theologisches“, bat darum, den Artikel in seine Zeitschrift aufnehmen und abdrucken zu können. Es wurde ihm versagt. Es sollte nicht verbreitet werden, was Pater Volk dem Orden ins Gedächtnis geschrieben hatte. Dann rief man einen der Hauptverantwortlichen für den Niedergang, den Theologen Karl Rahner, an. Er mußte 8 Tage später, am 14. Juli 1973, einen Gegenartikel in der Zeitschrift „Die Welt“ schreiben. „Der Jesuitenorden kommt nicht aus dem Tritt“, so war die Überschrift. Er hat also die Krise des Ordens rundweg geleugnet. Die Ordensleitung wollte nicht sehen, was jedem, der Augen hatte, sichtbar war. Sie wollte nicht hören, was jedem, der Ohren hatte, hörbar war. Und jetzt ist die Aufregung groß, wo sich schreckliche, aufsehenerregende Dinge in Schulen des Jesuitenordens zugetragen haben. Jetzt ist es zu spät.

Jahrzehntelang hat man der Auflösung der Ordnung, dem Wuchern des Ungehorsams zugesehen. Jetzt kommt die Quittung für das Wegsehen und für das Weghören. Jetzt ist der große Skandal da. Jetzt triumphiert der „Spiegel“. Jetzt reiben sich die Feinde der Kirche die Hände. In schrecklicher Weise erfüllt sich das Sprichwort des Volkes: „Wer nicht hören will, der muss fühlen!“

Das ist der erste Teil des heutigen Evangeliums, die Leidensweissagung und was sie uns zu bedeuten hat. Der zweite Teil ist ganz anderer Art. Da sitzt ein blinder Bettler am Wege. Es wird nicht der erste gewesen sein, den der Herr auf seiner etwa dreitägigen Wanderung getroffen hat. Bettler sind ja im Orient sehr häufig. Der Blinde hatte offenbar schon von Jesus gehört. Als man ihm sagt, dass dieser vorbeizieht, da schreit er in seiner Not: „Jesus, Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ Ja, er schreit. Man will es ihm verwehren; man will ihn zum Schweigen bringen. Er schreit noch lauter: „Jesus, Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ Die Anrede „Sohn Davids“ setzt voraus, dass er weiß, wer er ist, nämlich der erwartete Davidide, der erwartete Messias. Von ihm war nämlich im Buch des Propheten Isaias vorausgesagt worden, dass er auch Blinde heilen werde. Und das macht er sich zunutze, und das läßt ihn Hoffnung fassen. Jesus weist das Messiasbekenntnis des Bartimäus, so heißt nämlich der Blinde, nicht zurück. Er läßt ihn herbeirufen. Das ändert mit einem Schlage die ganze Lage. Eben war er noch bedroht worden, er solle schweigen. Jetzt wird ihm Mut zugesprochen. Das wird das gläubige Vertrauen des Mannes noch steigern. Wir lesen bei den anderen beiden Synoptikern, dass er den Mantel abwirft und aufspringt. Das ist ein Beweis für sein Vertrauen. Er hat Hoffnung gefaßt. Jesus fragt ihn, und diese Frage hat einen bestimmten Zweck. Sie dient nämlich dem Zweck, eine Äußerung des Glaubens zu veranlassen: „Was willst du, dass ich dir tun soll?“ „Mein Herr, dass ich sehe.“ „Rabbuni“, sagt er, „Rabbuni“, das ist eine feierlichere Form von Rabbi, eine ehrfurchtsvolle Form. „Rabbuni, mein Herr, dass ich sehe.“ Und Jesus spricht: „Sei sehend!“ Ein Wort, ein einziges Wort, nicht mehr. Aber dieses Wort ist ein machtvolles Wort, ist ein schöpferisches Wort: „Sei sehend!“ Jesus wirkt hier sein letztes von den Synoptikern berichtetes Heilungswunder. Der Herr hat ihm das Augenlicht geschenkt, aber nicht nur das Licht der körperlichen Augen, sondern auch die innere Schau, den Glauben. Denn so heißt es: „Er folgte ihm nach.“ Er war gewonnen für Jesus, für seine Sache, für seine Sendung.

Wir haben keinen Anlaß, an der Geschichtlichkeit dieser Begebenheit zu zweifeln. Der Blinde ist wirklich sehend geworden. Aber das Ereignis hat noch eine weitergehende Bedeutung, denn es gibt eben nicht nur körperlich Blinde, es gibt auch seelisch Blinde, es gibt auch geistig Blinde. Wie viele Blinde sitzen an unseren Straßen, in unseren Büros, in unseren Werkhallen, vor unseren Apparaten! Wie viele! Aber sie rufen nicht nach dem Herrn, sie verlangen nicht, sehend zu werden, denn sie wissen gar nicht, dass sie blind sind. Sie sind blind, weil sie Gott, weil sie die Religion, weil sie die Wirklichkeit Gottes und die Wirklichkeit der Religion nicht kennen. Ach, meine lieben Freunde, das ruft uns auf, zu flehen und zu rufen, dass sich die Blinden dem zuwenden, der das Licht der Welt ist, dass auch sie zu dem Rufe finden: Herr, dass ich sehend werde. Dass ich weiß, was nach deinem Willen zu tun ist. Dass ich erkenne, was mir zum Heile dient.

Eine Mutter hatte einen Sohn, der blind war. Die Mutter – was ich erzähle. ist ein wahres Begebnis – nahm sich rührend des blinden Kindes an. Sie las ihm vor, sie erzählte ihm, sie sang mit ihm, sie erklärte ihm die Welt, die er nicht sehen konnte. Aber sie gab ihm auch zu fühlen, einen Samtstoff oder ein seidenes Band, das konnte er ja mit seinen Händen tasten und so einen Eindruck empfangen. In seinem Inneren lebte deswegen eine bildkräftige Welt. Eine Schauung, ein traumhaft schöne Welt lebte im Inneren des Jungen. Aber doch zuweilen brach eine unstillbare Sehsucht nach dem Glück des Augenlichtes mit wildem Weh aus ihm hervor. Als wieder einmal die Mutter die Pracht und die Lieblichkeit der Schöpfung pries, das sprengte die furchtbare Bitterkeit, lange gestaut und zurückgehalten, alle Dämme und aus den Augen des Kindes rannen bittere Tränen. Schmerzgequält schrie der Knabe auf: „Und ich, Mutter, ich kann das alles nicht sehen.“ „Du kannst es sehen, mein Kind. Du kannst es sehen, deutlich und klar“, sagte sie. „Im Himmel werden deine Augen größer, schöner und klarer sein als die meinigen.“ „Ist das wahr, Mutter? Ist das wahr? Ich werde sehen, richtig sehen?“ „Du wirst sehen, und Gott wird dir alles zeigen, was du jetzt nicht sehen kannst.“ Der Knabe starb mit 12 Jahren. Nach kurzer, heftiger Krankheit hat der Todesengel ihn geholt. Ganz ohne Tränen, ohne Klagen, ganz still saß die Mutter am Bette, auf dem der tote Liebling hingestreckt war. In schneeweißen Händen hielt er ein kleines Kreuz. Das kleine Gesichtchen war überflackert vom hellen Schein einer Kerze. Dann stand sie auf und zeigte den Nachbarn das schöne Kinderantlitz mit den weit offenen und eigenartig glänzenden Augen. Ruhig und glücklich sagt die Mutter: „Er sieht!“

Amen.

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