Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
10. August 2003

Der Dämon im eigenen Inneren

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Als der Herr vierzig Tage in der Wüste gewesen war, da nahte sich ihm der Versucher. Selbst die größte Abgeschiedenheit schützt nicht vor der Versuchung. Auch wenn wir ganz allein wären, tausend Kräfte aus der Höhe und tausend Stimmen aus der Tiefe werben um uns und rufen uns, und der gefährlichste Versucher kommt nicht von außen, der gefährlichste Versucher kommt von innen, aus dem eigenen Inneren, aus der eigenen Seele. Das ist der Dämon, der in unserem Inneren wohnt; das ist der gefährlichste Versucher. Zuweilen scheint er jahrelang zu schlafen, aber dann wacht er auf einmal auf, und dann stürzt ein Mensch, von dem man geglaubt hatte, er sei eine Zeder des Libanon, dann stürzt ein solcher Mensch zusammen.

Da möchte man zweifeln, ob unsere Erziehungsversuche und unserer Bildungsversuche überhaupt einen Sinn haben, wenn so etwas geschehen kann, daß selbst ein stärkster Mensch plötzlich zusammenbricht, wenn das unerwartet geschehen kann, wenn da nicht nur ein anderes Gesicht sich zeigt, sondern eine andere Persönlichkeit hervorzukommen scheint. Ja, meine Freunde, es gibt Menschen, die tatsächlich eine Art Doppelleben führen, nach außen ein Leben der Ordnung, der Pflicht, ein Leben im Lichte, aber wenn man näher zuschaut, da schlingt sich heimlich ein Leben der Unordnung, der Gier, der Hemmungslosigkeit, der Leidenschaft. Es gibt Menschen mit einem Doppelleben.

Das ist eines der geheimnisvollsten Abenteuer des menschlichen Lebens, der Dämon in der eigenen Brust, das Lauern und das Raunen des Versuchers im Herzen des Menschen. Er ist um so gefährlicher, weil er eben von innen die Seelenburg aufzubrechen versucht und nicht bloß von außen. Die seelische Form, die ein Mensch hat, die seelischen Gestaltungen setzen sich aus zwei Kräftebündeln zusammen. Das eine Kräftebündel könnte man als die Tagseite des Menschen bezeichnen, die man auch als Wahrheit bezeichnen könnte, nämlich alles das, was durch die Erkenntnis in den Menschen kommt, die Wirklichkeit, die er aufnimmt mit seinen Sinnen und mit seinem Verstande, die Kräfte, die im Menschen sind durch das Erkennen. Sie sind durch das Erkennen der Sinne und des Verstandes im Menschen und bilden gleichsam die Tagseite der Seele. Sie liegen im hellen Lichte unseres Bewußtseins, und alle Seelsorge, alle Erziehung, alle Menschenbildung geht davon aus, diese Kräfte im Menschen zu fördern und zu stärken. Sie geht dahin, daß die Wahrheit den Menschen beeinflusse und beherrsche, daß er die Wirklichkeiten, die er wahrnimmt, zu Lockungen und Drohungen verarbeitet, zu Lockungen hin zum Guten, zu Drohungen fort vom Bösen. Und so arbeitet auch Gott. Gott wirkt durch Lockungen und Drohungen auf uns ein, Lockungen zum Schönen und Guten und Heiligen, Drohungen vor dem Bösen und Perversen und Verwerflichen. Diese Impulse, die da von der Gnade Gottes ausgehen, sind keine blinden Stöße, sondern sind erkannte Motive, die uns einladen oder auch führen ans Licht der Wahrheit. Das ist gleichsam die Tagseite unseres Lebens, die von der Wirklichkeit ausgeht und durch die Erkenntnis aufgenommen wird und zu Motiven geformt wird, die unser Leben bestimmen sollen.

Daneben aber gibt es die Nachtseite, die Nachtseite unseres Lebens, das Unbewußte. Aus dem Unbewußten steigen endlose Ströme immer neuer Überraschungen auf. Sie lassen uns erkennen, daß der Mensch ein Rätsel ist, daß hinter jedem Seelenleben eine endlose Welt von Geheimnissen steht. Aus den Tiefen des Unbewußten strömt ein anderes Kraftbündel heraus, das die Form eines Menschen bestimmt, Anregungen, Abneigungen, Stöße, Impulse, die das Leben beeinflussen, die unser Handeln bewegen, die unseren Charakter bestimmen. Es ist nicht wahr, daß der Mensch immer und durchweg von bewußten Motiven bestimmt wird. Das ist nicht wahr. Sehr oft, und in unerweckten, unmündigen Seelen meistens, wird der Mensch von Stößen aus dem Unbewußten gelenkt und getrieben, die er entweder gar nicht oder nur dunkel empfindet. Das sind die Stimmen der Tiefe, die ihn rufen; das sind die Stimmen der Vorzeit, die in seinem Körper niedergelegt sind. Das sind diese Stimmen uralter Wildheit, der Wollust, der Grausamkeit und der urweltlichen Angst, die den Menschen umgarnen.

Auch gute Impulse können aus dem Unbewußten kommen. Es sind nicht alles untermenschliche und unmenschliche Antriebe, die daraus quellen. Auch die großen Anregungen, die die Menschen inspirieren, kommen aus dem Unbewußten und bringen immer neue Schöpfungen der Kultur und des Geistes hervor. Aber noch einmal: Diese, Kräfte, die aus dem Unbewußten in den Menschen hineindrängen, kann man als einen Dämon bezeichnen. Warum als einen Dämon? Weil sie dunkel, unberechenbar und allgewaltig sind, dunkel, unberechenbar, allgewaltig. Es ist ein Dämon des Abgrunds, der in uns lebt und der uns beherrschen möchte. Diese Kräfte, die da in uns hochdrängen, liegen noch vor dem Denken, vor dem Entscheiden; sie sind Lebenstriebe, Instinkte, die vor der Erkenntnis und vor den Willensentschlüssen liegen, und sie haben eine gewaltige acht, eben weil sie aus dem Inneren der Seele heraus wirken.

Diese unbewußten Kräfte wirken in unsere Handlungen hinein. Sie wirken in alle unsere Handlungen hinein irgendwie. Sie vermögen die Beweggründe, die von der Wahrheit ausgehen, vom bewußten Erkennen, zu verwandeln, zu verfälschen, umzubiegen. Die bewußten Motive können gewissermaßen nur noch Verkleidungen sein für das, was uns eigentlich antreibt. Und das ist ja eine der erschütterndsten Erfahrungen, die man macht mit Menschen und mit der Geschichte, daß nämlich die höchsten Werte, wie Edelmut, Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Liebe, umgebogen und ausgenutzt werden können, zur Täuschung benutzt werden können für ganz andere, mindere und minderwertige Antriebe, die aus dem Unbewußten kommen. Die höchsten Werte können durch eine unbewußte Rechthaberei in den Dienst des Dämons gestellt werden. Deswegen ist dem Menschen ein ständiger harter Kampf aufgegeben, um diese Stimmen der Tiefe zu überhören, um die Kräfte der Tiefe niederzuhalten. Der Mensch muß in einer unerbittlichen Selbstüberwachung stehen und in einer unermüdlichen Selbsterziehung. Und auch so noch ist immerfort ein Einbruch des Dämons in den Bereich des Geistes und der Wahrheit möglich. „Wer steht, der sehe zu, daß er nicht falle!“

Dennoch sind wir nicht rettungslos den Kräften der Tiefe ausgeliefert. Wir sind ihnen nicht zwangsweise preisgegeben. Wir haben den Geist, der die Führerrolle in uns übernehmen soll; wir haben den Willen, der zwischen den Antrieben, die in unserer Seele hochkommen, auswählen kann. Der Geist würdigt die Kräfte aus der Tiefe und wertet sie und verwirft diejenigen, die wertlos sind, und der Wille wählt die aus, die wertvoll sind und läßt die anderen, die wertlos sind, beiseite. Der Geist hat also eine regulierende Aufgabe. Er muß die Impulse ordnen. Das ist das Entscheidende, das wir in unserem Leben vollbringen müssen, daß wir Zucht und Ordnung lernen, daß wir die Hemmungen und die Auslösungen je nachdem, wie sie gefordert sind, durch die Macht des Geistes und des Willens uns auferlegen. Es braucht nichts erstickt und ausgelöscht zu werden, aber es muß alles geordnet und eingeordnet werden. Zucht und Form, das ist es, was uns auferlegt ist.

Freilich gelingt dieses Werk auch nur in annähernder Weise allein den Menschen, die geistig sind und unermüdlich an sich arbeiten. Der Trieb, das Unbewußte im Menschen, hat nämlich einen Vorsprung. Es ist von einer großen Kraft und Wildheit. Es ist von einer elementaren Wucht, und das ist der Vorteil gegenüber den Kräften des Geistes. Die Kräfte des Geistes wirken irgendwie blaß und fremd und fern, und diesen Vorsprung nutzt der Dämon aus, um uns zu überwältigen, um den Geist zu überwinden, um sich durchzusetzen gegen die Stimmen des Gewissens und der Vernunft. Es gibt aber ein Mittel,  meine lieben Freunde, um dem Geist den Vorrang zu verschaffen, um den Vorsprung einzuholen, den der Dämon aus der Tiefe hat. Wir müssen nämlich erstens die geistigen Erkenntnisse zu einem Erlebnis machen. Sie dürfen nicht in abstrakten Begriffen verbleiben, sondern wir müssen die geistigen Erkenntnisse zu einem Erlebnis machen, d.h. sie müssen sinnenhaft und durch Vorstellungen zu einem inneren Besitz werden.

Gott selbst hat offenbar diese Anlage im Menschen gekannt, und deswegen ist er erschienen als ein Kind, als ein Junge, als ein Mann, als ein Gekreuzigter. Jetzt haben wir einen Gott, den wir anbeten können in der Gestalt dieses Knaben und dieses Wanderers in Galiläa. Das ist es. Die Erkenntnisse unseres Geistes müssen zum Erlebnis werden, und wenn sie zum Erlebnis werden, dann werden sie auch zu einem inneren Besitz. Das ist nämlich die zweite Weise. Wir müssen die Erkenntnisse des Geistes zu einem inneren Besitz machen. Wodurch werden sie es? Durch die Tat. Wir müssen das, was wir erkennen, tun. Es darf nicht bei Vorsätzen bleiben, bei Wünschen, bei Anregungen, sondern es muß das, was wir in der Erkenntnis gewonnen haben, zur Tat werden. Durch die Tat geht uns gleichsam die Erkenntnis in Fleisch und Blut über. Ja, das ist es, die Erkenntnis wird uns zu Fleisch und Blut. Wir können nicht mehr davon lassen, denn sie ist unser innerster Besitz geworden.

Wer das schafft, wer die Erkenntnisse seines Geiste zum Erlebnis werden läßt, und wer die Erkenntnisse seines Geistes in Fleisch und Blut überführt, in dem herrscht das Gesetz des Geistes, der Freiheit und der Wahrheit. Ein solcher Mensch vermag aus der Wahrheit heraus zu leben, zu handeln und zu wirken. In einem solchen Menschen hat die Tagseite die Überhand gewonnen über die Nachtseite des Lebens. In einem solchen Menschen ist die Einheit des Lebens hergestellt, die Einheit von Tag- und Nachtseite. Ein solcher Mensch hat den Dämon in seinem Inneren nicht nur überwunden, er hat ihn erlöst.

Amen.

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