Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
9. Mai 1999

Das besondere Gericht

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Nach dem Tode kommt über den Menschen das Gericht. Wir nennen es das besondere Gericht zum Unterschied von dem allgemeinen Gericht nach der Auferstehung der Toten. Dieses Gericht wird nicht mühsam gesucht und endlich gefunden, sondern in einem Nu, mit blitzartiger Schnelligkeit offenbart Gott dem Menschen seinen religiös-sittlichen Zustand, d.h. seine Beziehung zu Gott, in einer irrtumsfreien und untrüglichen Weise. Damit ist der Mensch gerichtet.

Das besondere Gericht ist ein Bestandteil unseres Glaubens. Die Konzilien von Lyon im Jahre 1274 und von Florenz im Jahre 1439 haben es in den Bemühungen, die getrennten Ostchristen mit der Kirche zu versöhnen, deutlich ausgesprochen. Von besonderer Kraft ist eine Konstitution, die Papst Benedikt XII. im Jahre 1336 erlassen hat. Wie kam es dazu? Sein Vorgänger, Papst Johannes XXII., hatte im Jahre 1331 in einer Predigt in Avignon gelehrt: Die Seelen der Geretteten werden erst nach der Auferstehung von den Toten die Gottesschau besitzen. Er hatte also einen Irrtum gelehrt. Er war der Meinung, daß die vollkommene Erlösung die Vereinigung von Leib und Seele voraussetzt, und meinte, daß eben deswegen die Seelen sich bis zu diesem Zeitpunkt in einem schlafähnlichen Zustand befinden; erst nach der Auferstehung der Toten werden sie Gott schauen, werden sie den Zustand genießen, den wir den Himmel nennen. Im folgenden Jahre lehrte er Ähnliches über die Verdammten. Der Papst hatte geirrt. Gegen ihn erhoben sich die Dominikaner und die Franziskaner, und er sah seinen Irrtum ein. Er beschloß, seinen Irrtum richtigzustellen, kam aber nicht mehr dazu, weil der Tod ihn überraschte. Erst sein Nachfolger hat diesen Irrtum korrigiert. Papst Benedikt XII. verkündete in seiner Konstitution „Benedictus Deus“: „Mit apostolischer Vollmacht bestimmen Wir in diesem für immer geltenden Lehrentscheid: Nach allgemeiner Anordnung Gottes waren, sind und werden sein im Himmel, im Himmelreich und im himmlischen Paradies mit Christus in Gemeinschaft mit den heiligen Engeln die Seelen aller Heiligen, die aus dieser Welt vor dem Leiden unseres Herrn Jesus Christus hinweggegangen sind, und die Seelen der heiligen Apostel, Märtyrer, Bekenner, Jungfrauen und der anderen Gläubigen, die nach Empfang der heiligen Taufe Christi gestorben sind und in denen beim Tode nichts zu reinigen war oder nichts zu reinigen sein wird, oder die nach dem Tode gereinigt worden sind, wenn etwas in ihnen damals zu reinigen war oder in Zukunft sein wird, und die Seelen der Kinder, die durch dieselbe Taufe Christi schon wiedergeboren sind oder die jemals getauft werden, wenn sie nach der Taufe vor dem Gebrauch des freien Willens sterben. Diese also waren, sind und werden sein im Himmel sofort nach ihrem Tod oder nach der Reinigung bei jenen, die einer solchen Reinigung bedürfen, und zwar auch vor der Wiedervereinigung mit ihrem Leib und vor dem allgemeinen Gericht nach der Auffahrt unseres Herrn Jesus Christus in den Himmel.“ Durch diese Konstitution wurde die kirchliche Lehre sieghaft behauptet. Was Johannes XXII. gelehrt hatte, war natürlich kein unfehlbarer Lehrentscheid, sondern eine Predigt, und in Predigten pflegen ja des öfteren Irrtümer vorgetragen zu werden.

Die kirchliche Lehre hat ihre Stütze im Neuen Testament. Wenn der Herr das Gleichnis von dem Verwalter den Jüngern darbietet, erklärt er, daß die Abrechnung sogleich am Ende erfolgt. Es ist keine Zwischenzeit, es wird kein Aufschub gewährt, sondern sogleich, nachdem die Arbeit getan ist, erfolgt die Abrechnung und die Belohnung. Auch in dem Gleichnis vom reichen Prasser und vom armen Lazarus geschieht die Scheidung der beiden sofort. Der eine wird sogleich in den Schoß Abrahams getragen, der andere sogleich in der Hölle begraben. Auch der Apostel Paulus lehrt, daß unmittelbar nach dem Tode das Gericht folgt. Die Korinther haben an ihm herumgenörgelt, an ihm und seiner Verkündigung und an seiner Missionsmethode. Da entgegnete er ihnen: „Mir liegt wenig daran, daß ich von euch gerichtet werde oder überhaupt von einem menschlichen Gerichte. Doch auch nicht einmal über mich selbst fälle ich ein Urteil. Ich bin mir zwar nichts bewußt, doch deswegen noch nicht gerechtfertigt. Der mich richtet, ist der Herr. So richtet denn nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt. Er wird das im Finsteren Verborgene ans Licht bringen und die Gesinnungen des Herzens offenbar machen. Dann wird jeder von Gott sein Lob erhalten.“ Ähnlich ist es auch im Hebräerbrief. Dort wird die Einmaligkeit des Opfers Christi verglichen mit dem einmaligen Sterben. „Gleichwie es dem Menschen gesetzt ist, einmal zu sterben, worauf das Gericht folgt, so wird auch Christus einmal geopfert, um die Sünden der vielen hinwegzunehmen.“ Die Kirche hat dann noch einmal im Katechismus des Konzils von Trient diese Wahrheit ausgesprochen: „Im Augenblick unseres Hinscheidens wird die Seele vor Gottes Richterstuhl gestellt. Dort wird eine unendlich gerechte Untersuchung gehalten über alles, was der Mensch je getan, gesprochen oder gedacht hat.“ Das ist also die Tatsache des Gerichtes, die uns durch das Lehramt der Kirche, durch die Heilige Schrift und auch durch die Lehren der Väter bezeugt wird. Schon im 3. Jahrhundert sagte der Bischof Cyprian: „Wenn der Mensch stirbt, dann wird ihm sogleich das endgültige Schicksal bereitet.“

Wie ist nun der Verlauf des Gerichtes zu denken? In der Heiligen Schrift ist vom Richterstuhl die Rede, von der Waage, von dem Buche, in das alles eingetragen ist. Alle diese Bilder und Gleichnisse sagen etwas Richtiges aus. Sie heben hervor, daß es einen Richter gibt, Gott, daß in seinem Gericht Gerechtigkeit geübt wird, deswegen die Waage, daß nichts vergessen wird von dem, was der Mensch getan, gesagt oder unterlassen hat, deswegen das Buch. Aber das sind natürlich nur Bilder; denn Gott braucht weder eine Waage noch einen Richterstuhl noch ein Buch. In einem Nu, mit blitzartiger Schnelligkeit offenbart er dem Menschen seinen religiös-sittlichen Zustand, d.h. seine Beziehung zu Gott. Im Leben übt sich der Mensch im Vergessen. Er sucht seine Missetaten dem Vergessen anheim zu geben; er verbirgt seine Motive und schönt sie. Beim Letzten Gericht wird das nicht mehr möglich sein. Dann steht der Mensch so vor Gott, wie er wirklich ist; dann wird er so geoffenbart, wie er sich tatsächlich verhalten hat. Da gibt es kein Ausweichen mehr, da gibt es keine Ausflucht mehr, sondern dann wird der Mensch in Gerechtigkeit sein Leben überschauen, und dann zwingt ihn Gottes Allmacht und Gottes Allwissenheit, das Urteil über sich selbst zu vollstrecken. Jawohl, das Gericht Gottes ist ein Selbstgericht des Menschen. Wenn ihn das Licht Gottes und die Wahrheit Gottes durchdringen, dann ist er gezwungen, an sich selbst das Urteil Gottes zu bejahen. Er wird keine Kritik daran üben, weil er sieht: Das Urteil ist gerecht. Er wird nicht irgendwelche Entschuldigungen vorbringen, denn alles das ist in Gottes Gericht schon einbezogen.

Dieses besondere Gericht ist in gewisser Hinsicht die Krönung der Gerichte, die der Mensch während seines Lebens vollzieht oder die an ihm vollstreckt werden. Wir vollziehen ein Selbstgericht, wenn wir ein gut und recht gebildetes Gewissen haben. Im Gewissensspruch vollziehen wir schon in dieser Erdenzeit ein Gericht. Wenn das Gewissen uns anklagt oder freispricht und wenn unser Gewissen recht gebildet ist, dann kommt in diesem Gewissensspruch Gottes Urteil über uns zu Gehör. Aber freilich, der Mensch verbildet sein Gewissen, um nicht gestört zu sein. Er versucht es zum Schweigen zu bringen, und er verschüttet die zarte Stimme Gottes in seinem Herzen, um ungestört seinen Vergnügungen nachgehen zu können. Ein Gericht wird auch an uns vollstreckt im Bußsakrament. Das Bußsakrament ist in der Form eines Gerichtes eingesetzt. Der Mensch klagt sich an, und der Priester als Stellvertreter Gottes spricht das Urteil. Wenn das Bußgericht richtig vollzogen wird, dann spricht der Vater im Himmel durch den Priester über den reuigen Sünder sein Urteil. In diesem Bußgericht vollzieht sich das Gericht, das der Vater im Himmel über Christus am Kreuze vollstreckt hat. Derjenige, der mit Christus verbunden ist, erfährt dieselbe Freisprechung wie Christus. Und derjenige, der in Selbstsucht und Lüge verhaftet ist, der erfährt dieses Urteil als verdammendes Gericht. Bei dem besonderen Gericht wird es ein großes Verwundern geben. Vieles, was dem Menschen auf Erden belanglos und gleichgültig erschien, das wird ihm dann als bedeutsam und schwerwiegend aufgehen; vieles, was ihm hier gewichtig und bedeutsam vorkam, das wird ihm dann als gleichgültig und belanglos erscheinen. Da findet eine Umwertung statt. Dieses Gericht vollzieht sich nicht mehr nach der öffentlichen Meinung oder nach der privaten Stimmung, nicht mehr nach Nutzen und Zweckmäßigkeit, sondern einzig nach Wahrheit und Gerechtigkeit.

Es gibt eine ergreifende Ballade: „Die Glocken von Speyer“. In dieser Ballade wird geschildert, wie ein armer Mann starb, und die Kaiserglocke des Domes zu Speyer fing an zu schlagen. Das Volk sagte sofort: „Der Kaiser ist gestorben“, nämlich Kaiser Heinrich V. Aber es war nicht der Kaiser, der starb, es war nur ein armer Mann. Wenig später fing das Arme-Sünder-Glöckchen auf dem Dom zu Speyer zu läuten an, und die Leute sagten: „Wer mag der arme Sünder sein, der jetzt gerichtet wird?“ Aber diesmal war nicht ein armer Mann, sondern der Kaiser gestorben – im Jahre 1125 zu Utrecht. Diese Ballade schildert in ergreifender Weise, wie das Urteil Gottes und das Urteil der Menschen auseinandergehen kann. Gott richtet anders als die Menschen; Gott urteilt anders als die Menschen. Der Maßstab des Gerichtes ist die Wahrheit und die Liebe in Person; der Maßstab des Gerichtes ist Christus. Nach dem Verhältnis zu Christus wird der Mensch gerichtet. Wenn er von der Wahrheit und von der Liebe durchdrungen war, dann wird er ein freisprechendes Urteil vernehmen. Wenn er sich aber gegen die Wahrheit und die Liebe gesträubt hat, wenn er dem Haß und der Abneigung und der Lüge und der Untreue verhaftet war, dann wird er ein verdammendes Urteil vernehmen.

Das besondere Gericht, das uns im Tode erwartet, entscheidet über unser künftiges Schicksal. Es wird also nicht nur das Niveau des Menschen offenbar gemacht, das er in dem Augenblick besitzt, da er stirbt, nein, es wird ihm auch seine künftige Existenzweise geoffenbart. Wenn er von der Wahrheit und von der Liebe, vom Königtum Gottes durchherrscht war, dann wird er ein reiches und erfülltes Leben finden in der anderen Welt. Wenn er aber von der Wahrheit und von der Liebe nicht ergriffen war, dann wird er ein kümmerliches und elendes Dasein haben, und dieses Dasein nennen wir die Hölle.

In jüngster Zeit ist von protestantischen Theologen, denen natürlich wieder katholische Nachsprecher folgen, die sogenannte Ganztodhypothese vertreten worden. Nach dieser Meinung geht der Mensch im Tode gänzlich zugrunde. Es stirbt nicht nur der Leib, es stirbt auch die Seele. Diese Ganztodhypothese widerspricht dem Glauben der Kirche, sie widerspricht der Lehre der Evangelien und dem Glaubensbewußtsein des gläubigen Volkes. Der Herr sagt nämlich dem Schächer zu seiner Rechten: „Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.“ Und der Herr schildert in dem Gleichnis vom reichen Prasser und dem armen Lazarus, daß es nach der Auflösung des Leibes ein anderes Leben gibt, ein anderes Leben entweder in Fülle oder in Armseligkeit. Es lebt ein Element weiter, das wir die Seele nennen. Es ist freilich ein undurchdringliches Geheimnis, wie es möglich ist, daß die Seele, die ja auf Erden an den Leib gebunden ist und auf den Leib hingeordnet ist, ohne den Leib weiterleben kann. Wir müssen annehmen, daß Gott in einer schöpferischen Wirksamkeit die Seele fähig macht, ohne den Leib zu existieren, und daß das Urteil also jetzt nur vollstreckt werden kann an der Seele. Erst wenn die Auferstehung von den Toten erfolgt, wird das Urteil auch am Leibe vollstreckt werden. Aber jetzt ist die Unsterblichkeit nur der Seele zugesichert. Bis dahin lebt die Seele im Wartestand; erst nach der Auferstehung der Toten und dem allgemeinen Gericht wird auch der Leib in die Unsterblichkeit einbezogen.

Hans Berg hat ein schönes Buch geschrieben: „Gegen den Strom“. In diesem Buche schildert er einen Mann, der einen Traum hat. Er träumt von einem Richterstuhl, auf dem Gott sitzt, und die Menschen treten in langer Reihe vor ihn hin und brauchen nur zu sprechen: „Ich liebe dich.“ Drei Worte. Wenn sie diese Worte sprechen, dann sind sie gerettet. Und er sieht Menschen, die freudig und mit strahlendem Gesicht vor den Richterstuhl treten und sprechen: „Ich liebe dich.“ Er sieht aber auch andere, die stocken und verstummen. Er steht in der Reihe, und jetzt kommt auch er dran. Er denkt: Nichts ist leichter, als das Wort zu sagen. Er tritt vor und will das Wort sagen: „Ich liebe dich“, aber er ist unfähig, es zu sprechen, denn es würde seinem seelischen Zustand nicht entsprechen. Ein Schrei – er wacht auf, der Traum ist dahin. Aber dieses Erlebnis im Traum hat bei ihm eine Umkehr bewirkt.

Wir wollen, meine lieben Freunde, solange wir auf dem Wege sind, uns bekehren, damit wir im Tode das wunderbare Wort sprechen können: „Mein Jesus, ich liebe dich“, und damit dieses Wort in unserem Munde wahr erfunden werde.

Amen.

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