Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
23. August 1998

Die Pflicht zur Nächstenliebe

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Viele Sonntage haben wir die Pflichten gegen Gott bedacht. Wir wollen jetzt dazu übergehen, die Aufgaben zu bedenken, die wir gegenüber dem Nächsten haben. Das ist ein weites Feld, die Pflichten gegenüber dem Nächsten. Wir sollen uns ja, wenn wir uns auf das Bußsakrament vorbereiten, erforschen. Es ist nützlich, zu erforschen die Verfehlungen gegen Gott, gegen den Nächsten und gegen sich selbst. Darum ist es angebracht, die Pflichten, die wir gegenüber dem Nächsten haben, uns ins Gedächtnis zu rufen.

An erster und oberster Stelle steht die Pflicht der Nächstenliebe. Die Nächstenliebe ist ein Gebot, sie ist das Gebot unseres Herrn und Heilandes. Schon im Alten Bunde, im Buche Leviticus, steht der Satz: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“ Mag das auch zunächst auf den Stammesgenossen gemünzt sein, so ist doch angesichts der Tatsache, daß ein jeder Mensch das Bild Gottes an sich trägt, die Verpflichtung nicht auf den Stammesgenossen zu beschränken. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!

Auch die Heiden haben kraft ihrer Naturanlage, kraft ihres Gewissens um die Pflicht zur Nächstenliebe gewußt und haben es auch wiederholt ausgesprochen. Zur Höhe wurde freilich das Gebot der Nächstenliebe erst emporgeführt durch unseren Herrn Jesus Christus. Er hat das Gebot der Nächstenliebe mit dem der Gottesliebe verbunden und gesagt: „An diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“ Er nennt es ein neues Gebot. Neu ist es nicht deswegen, weil es formal unbekannt gewesen wäre; neu ist es, weil dieses Gebot durch ihn ein neues Vorbild, eine neue Motivation und eine neue Weise der Erfüllung gefunden hat. Seitdem Christus über diese Erde gewandert ist, ist er das hehre Vorbild der Liebe, der Nächstenliebe. Wir sollen die Nächstenliebe üben, wie sie Christus geübt hat. Und wie hat er sie geübt? Er hat die geliebt, die seine Feinde waren; er ist für die gestorben, die ihn zu Tode gebracht haben. Wir sollen die Nächstenliebe üben, weil Christus sie uns gelehrt und geboten hat, und wir sollen sie so üben, wie er sie geübt hat, nämlich bis zum letzten Atemzug und bis zum letzten Blutstropfen. Deswegen ist die Nächstenliebe ein neues Gebot.

Die Nächstenliebe faßt verschiedene Haltungen in sich. Die erste ist die Achtung. Wer Nächstenliebe üben will, muß zunächst Achtung vor dem Nächsten haben. Achtung bedeutet Wertschätzung, Hochschätzung, Respekt. Niemand kann Nächstenliebe in sich tragen, der einen anderen verachtet. Ich bin immer etwas verwundert, wenn ich in der Wochenendausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in dem regelmäßig zu findenden Fragebogen die Frage lese: „Welche geschichtliche Persönlichkeit verachten Sie am meisten?“ Ein Christ dürfte darauf nur die Antwort geben: „Keinen!“ Auch nicht Stalin, auch nicht Hitler. Verachten darf man keinen Menschen, weil ein jeder Mensch eine unantastbare Würde und einen unverletzlichen Wert besitzt.

Freilich ist es mit der Achtung nicht getan. Die Nächstenliebe schreitet fort zum Wohlwollen. Wohlwollen besteht darin, daß man dem Nächsten nichts Übles wünscht, sondern ihm alles Gute wünscht. Wohlwollen besagt Geneigtheit, Zugeneigtheit zum anderen. Man will, daß es dem anderen gut geht und daß er seinen Lebensweg in Frieden und in Gottergebenheit nehmen kann. Wohlwollen gehört unverzichtbar zur Nächstenliebe. Das Wohlwollen muß in einer Verbundenheit begründet sein. Alle Menschen sind durch die Menschennatur und die Berufung zur Seligkeit miteinander verbunden. Sie müssen diese Verbundenheit auch beweisen in der Nächstenliebe. Man muß sich in irgendeiner Weise mit allen Menschen solidarisch wissen. So schwer es fallen mag im einzelnen Falle: Es muß eine grundlegende Solidarität, eine grundlegende Verbundenheit mit allen Menschen bestehen, wenn immer wir Anspruch erheben wollen, die Nächstenliebe zu üben. Schließlich muß die Nächstenliebe sich auch in der tätigen Liebe kundtun, wie wir gleich sehen werden. Das ist das Wesen der Nächstenliebe: Achtung, Wohlwollen, Verbundenheit, tätige Liebe.

Ihre Wirkungen sind davon abzuleiten. Die Nächstenliebe muß die wohlwollende Haltung auch zeigen und üben. Man muß den anderen Menschen das Wohlwollen zu erkennen geben. Die unterste Stufe der Nächstenliebe ist das Mitleid. Die Wirkung der Nächstenliebe, die am ehesten von uns gefordert ist, ist Mitleiden. Mitleiden besagt, daß man das Leid des anderen empfindet, daß man sich in ihn hineinversetzt, daß man am Leid des anderen Anteil nimmt. Meine lieben Freunde, das ist nicht schwer. Es mag einer verbrochen haben, was er will, es mag einer angerichtet haben, was er will, er hat sich damit ja selbst am meisten geschadet, und damit ist auch für uns die Basis für das Mitleid gegeben. Wir können mit einem Menschen Mitleid empfinden, der in dieser Weise sein eigenes, gottgestaltetes Wesen verunstaltet hat. Das Mitleid, wenn es als Tugend geübt wird, wird zur Barmherzigkeit. Barmherzigkeit ist die Liebe zum gefallenen Geschöpf. Barmherzigkeit, sagt man, ist die schönste Tugend Gottes selbst, sie ist auch die schönste Tugend des Menschen. Barmherzig sein, das heißt, Mitleid und Wohlwollen und Anteilnahme gegenüber dem gefallenen Geschöpf zeigen. Das macht den Menschen Gott ähnlich. „Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist!“ „Selig die Barmherzigen, sie werden Barmherzigkeit erlangen.“ Die Barmherzigkeit ist eine rührende und ergreifende Auswirkung der Nächstenliebe.

Die Nächstenliebe muß bestimmte Eigenschaften haben. Sie muß nämlich erstens allgemein sein. Sie schließt niemanden aus. Sie erstreckt sich auf alle Menschen, selbstverständlich nicht im selben Umfang und im selben Maße. Es gibt Abstufungen. Diese Abstufungen richten sich nach Stand und Vermögen und auch nach der Beziehung und der Not des anderen. Aber eine grundlegende, alle Menschen umfassende Nächstenliebe muß vorhanden sein. Und das Minimum dieser allgemeinen Nächstenliebe besteht darin, daß man bereit ist, dem Nächsten in der äußersten Not zu helfen.

Wenn die Nächstenliebe alle Menschen umfaßt, dann auch die Feinde. Feinde sind jene, die uns hassen und uns schaden wollen. Die Nächstenliebe macht vor dem Feind nicht halt. Das ist vielleicht das wirksamste Kennzeichen der Botschaft Jesu, daß er die Feindesliebe uns zur Pflicht gemacht hat. „Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde! Tut Gutes denen, die euch hassen, und betet für die, welche auch verfolgen und verleumden, auf daß ihr Kinder eures Vaters im Himmel seid, der seine Sonne über Gute und Böse aufgehen und Regen über Gerechte und Ungerechte fallen läßt!“ Der Apostel Paulus hat diese Botschaft wohl verstanden und aufgenommen und schreibt deswegen im Römerbrief: „Niemandem vergeltet Böses mit Bösem! Seid auf das Gute bedacht, nicht nur vor Gott, sondern auch vor den Menschen! Habet womöglich, soviel an euch liegt, Frieden mit allen Menschen! Rächet euch nicht, sondern laßt dem Zorngerichte Gottes Raum, denn es steht geschrieben: Mein ist die Rache, ich will vergelten. Vielmehr, wenn dein Feind Hunger hat, so speise ihn, wenn ihn dürstet, so tränke ihn. Denn tust du dieses, wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln. Laß dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse durch das Gute!“ Wahrhaftig, meine lieben Freunde, eine solche Botschaft kann nicht von Menschen stammen. Eine solche Lehre muß Gott zum Urheber haben. Wir sollen uns nicht rächen an unserem Feinde, wir sollen ihm Böses mit Gutem vergelten, wir sollen ihm verzeihen, und wir sollen für ihn beten. Wenn wir das tun, dann sind wir Kinder unseres himmlischen Vaters. Die Nächstenliebe muß allgemein sein. Sie muß weiter wirksam sein, das heißt: Kindlein, laßt uns lieben, nicht mit Worten und mit der Zunge, sondern in der Tat und in der Wahrheit. Die Liebe muß also tätig sein, sie muß sich durch Werke erweisen, und die Kirche hat in ihrer Weisheit seit vielen Jahrhunderten die Werke der Barmherzigkeit aufgezählt, der leiblichen und der geistlichen Barmherzigkeit. Hungrige speisen, Durstige tränken, Nackte bekleiden, Fremde beherbergen, Gefangene erlösen, Kranke besuchen, Tote bestatten, das sind die Werke der leiblichen Barmherzigkeit. Unwissenden Belehrung zuteil werden lassen, Zweifelnden recht raten, Sünder zurechtweisen, Unrecht geduldig tragen, Beleidigern gern verzeihen, Betrübte trösten, für Lebende und Verstorbene beten, das sind die Werke der geistlichen Barmherzigkeit. Wahrhaftig, wer diese Werke übt in der Weise, die ihm möglich ist, in der Weise, die heute angemessen ist, der hat wirksame Nächstenliebe.

Eine weitere Eigenschaft der Nächstenliebe ist, daß sie lauter sein muß. Lauter, das heißt, wir dürfen den Nächsten nur im Guten lieben, nicht zum Bösen. Wir dürfen also nicht Genossen seiner Sünde werden. Die Nächstenliebe muß aufrichtig sein, d.h. wir müssen den Nächsten lieben nicht um unseretwillen, sondern um seinetwillen. Wir dürfen nicht auf Nutzen und Vergeltung hoffen. Der heilige Paulus hat im 1. Korintherbrief weitere Eigenschaften der Nächstenliebe aufgezählt. „Die Liebe ist langmütig, gütig ist die Liebe. Die Liebe ist nicht eifersüchtig. Sie prahlt nicht und bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht taktlos, sucht nicht das Ihre. Sie läßt sich nicht verbittern. Sie trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das Unrecht, sie freut sich vielmehr mit der Wahrheit. Sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie hält alles aus. Die Liebe hört nie auf.“ Eine Eigenschaft ist vielleicht noch besonders erwähnenswert: Sie hält alles aus, d.h. sie erträgt alles. Sie alle wissen, meine lieben Freunde, wie schwer es ist, Menschen zu ertragen. Viele Menschen haben etwas Unerträgliches an sich. Welche heroische Nächstenliebe ist notwendig, um unerträgliche Menschen zu ertragen. Haben es nicht viele unserer Frauen und Mütter bewiesen, daß sie solcher Liebe fähig sind? Wissen wir nicht Beispiele, ergreifende Beispiele der Nächstenliebe von Kindern und Jugendlichen, die ihren Eltern, die sie geschändet und mißbraucht haben, verziehen haben und sie im Alter betreut haben?

Die Nächstenliebe muß auch wohlgeordnet sein. Das heißt, es gibt eine bestimmte Differenzierung, je nach der Nähe zum anderen und je nach dem eigenen Vermögen. Niemals ist es verboten, bestimmte Menschen mehr zu lieben als andere. Die, welche wir besonders lieben, nennen wir unsere Freunde. Es sind Menschen, mit denen wir verbunden sind durch Einmütigkeit in den irdischen und himmlischen Dingen, denen wir unsere wohlwollende Liebe zuwenden und denen wir die Treue halten in guten und in bösen Tagen. Der heilige Hieronymus sagt einmal: „Eine Freundesliebe, die ein Ende findet, war keine echte Freundesliebe.“ „Die Liebe hört nie auf“, so sagt der Apostel Paulus. Freundesliebe gehört zum Schönsten, was uns auf Erden widerfahren kann. „Ein treuer Freund liebt mehr als ein Bruder“, so steht in der Heiligen Schrift. Die Freundesliebe ist ein Abglanz der Liebe, die uns mit Gott verbindet.

Meine lieben Freunde, die Liebe, die wir den Menschen schulden, hat uns Christus in ergreifenden Beispielen nahegebacht. Heute, ganz zufällig, ist das Evangelium zur Verlesung gekommen vom barmherzigen Samaritan. Der unter die Räuber Gefallene fand Erbarmen bei dem reisenden Samariter, der nicht vorüberging wie der Priester und der Levit, sondern der sich zu ihm beugte, der für ihn sorgte und der ihn in die Herberge mitnahm. Dieses wunderbare Gleichnis soll uns stets vor Augen leuchten, wenn wir aufgefordert sind, Nächstenliebe zu üben.  „Die meisten Menschen brauchen mehr Liebe, als sie verdienen“, hat einmal die weise Marie von Ebner-Eschenbach geschrieben. Wahrhaftig, so ist es. Die meisten Menschen brauchen mehr Liebe, als sie verdienen. Verdienen tun es manche wenig aufgrund ihres Verhaltens, aber sie brauchen die Liebe. Sie können nur gut sein, wenn ihnen Liebe, auch unverdiente Liebe, begegnet.

Wenn wir die Liebe üben, dann sind wir Kinder unseres himmlischen Vaters und Brüder unseres Heilandes. Der Herr stellt sich gleichsam vor einen jeden Menschen, um ihn zu schützen. Man kann einen Menschen nicht verletzen, ohne zuvor Christus zu verletzen. „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Aber auch umgekehrt: „Was ihr dem geringsten meiner Brüder nicht getan habt, das habt ihr mir nicht getan.“ Er stellt sich vor einen jeden und deckt ihn gleichsam mit seinem Leib und mit seiner Seele. Wer die Nächstenliebe übt, der findet sicher den Weg zum Himmel. Wir haben soeben gehört: „Willst du zum Leben eingehen, so halte die Gebote!“ Also zuerst und zuoberst das Gebot der Nächstenliebe. Das Gericht findet nach den guten Werken statt. Es wird gefragt, ob du Hungrige gespeist, ob du Durstige getränkt, ob du Nackte bekleidet hast. Und wehe dir, wenn du hier säumig gewesen bist!

„Daran sollen alle erkennen, daß ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe zueinander habt.“ Das ist also das Kennzeichen eines wahren Christen, daß er die Liebe übt. „Daran sollen alle erkennen, daß ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe zueinander habt.“

Amen.

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