Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
19. April 1998

Die Verfehlungen gegen die christliche Hoffnung

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Am Passionssonntag haben wir uns die Pflicht der Hoffnung vor Augen geführt. Wir sind gehalten, auf Gott zu hoffen. Die Hoffnung ist die vertrauensvolle Erwartung aller Güter, die uns Gott für die Erfüllung seines Willens versprochen hat. Wir empfangen die Fähigkeit zur Hoffnung mit der heiligmachenden Gnade. Die Hoffnung ist also eine eingesenkte, eine eingegossene Tugend, die sich freilich im sittlichen Leben bewähren muß. Und da liegt auch die Fehlerquelle. Man kann sich gegen die Hoffnung verfehlen, entweder, indem man zu wenig oder, indem man zu viel hofft. Zu wenig hofft, wer verzweifelt; zu viel hofft, wer vermessen ist. Wir haben also eine klare Gliederung unserer Überlegungen. Wir müssen nachdenken über die Verzweiflung und über die Vermessenheit.

Die Verzweiflung ist die Aufgabe jeglicher Hoffnung auf Gott und unser eigenes Tun und die Aufgabe auch des Erwartens und Strebens nach der Seligkeit. In der Verzweiflung wird der Mensch irre an den Verheißungen Gottes, die Sünden zu vergeben, dem Menschen Hilfe zu leisten und ihm einst die Seligkeit zu schenken.

Die Verzweiflung hat verschiedene Wurzeln. Gewöhnlich sind es zwei, die zur Verzweiflung führen, einmal die Erkenntnis des Mißverhältnisses zwischen Gottes Anspruch  und dem eigenen Tun. Man erkennt die Übergewalt von Gottes Forderungen und sieht das eigene Versagen. Ale Kain seinen Bruder Abel erschlagen hatte, war er überzeugt, daß er keine Verzeihung mehr erreichen könnte. „Meine Missetat ist zu groß, als daß Gott mir vergeben könnte.“ Ähnlich war es bei Judas; er hatte den Herrn verraten. Seine Tat kam ihm zu Bewußtsein, und er sah keinen Ausweg mehr. Er nahm einen Strick und erhängte sich. Hieronymus sagt einmal treffend zu diesem Fall des Judas: „Judas hat mehr gesündigt, als er an Gottes Barmherzigkeit verzweifelte, als da er Jesus verriet.“ Die Sünde der Verzweiflung war schlimmer als der Verrat an seinem Herrn und Meister.

Daß Menschen irre werden an der Fügung und Führung Gottes, ist die zweite Wurzel, wie man zur Verzweiflung kommen kann. Das Übermaß des Leids treibt manche Menschen in die Verzweiflung. Wir haben es im deutschen Osten erlebt, wie Menschen, als die Horden der Roten Armee einbrachen und hausten, glaubten, keine Rettung mehr erwarten zu können und verzweifelten und sich in ihrer Verzweiflung selbst den Tod gaben. Aber auch unabhängig von solchen geschichtlichen Ereignissen können Menschen zur Verzweiflung kommen, wenn sie meinen, ihre Lage sei aussichtslos. In wie vielen Ehen, in wie vielen Familien leiden Männer, leiden Frauen untereinander! Wie oft müssen Menschen in einer Ehe klagen: „Ja, du hast mich bitter enttäuscht, und du hast mir das Leben zur Hölle gemacht!“ Wie viele Frauen klagen über alkoholsüchtige Männer, die sich betrinken und dann in der Betrunkenheit die Familie tyrannisieren, die Frau mißbrauchen und die Kinder schlagen! Wenn das über Jahre und Jahrzehnte geht, dann ist es begreiflich, wenn auch nicht zu entschuldigen, daß Menschen dazu kommen, zu sagen: „Ich kann es nicht mehr aushalten.“ Und häufig ist dann der Weg entweder aus der Ehe oder aus dem Leben vorgezeichnet. Das Übermaß an Leid treibt Menschen in die Verzweiflung.

Die Verzweiflung ist normalerweise, also wenn es zur Vollendung des Aktes kommt, eine schwere Sünde. Sie ist sogar eine Sünde gegen den Heiligen Geist, weil sie die Einwirkung der Gnade unmöglich macht. Die Verzweiflung hat auch häufig andere Sünden im Gefolge. Es kommt vor, daß Menschen sich aus Verzweiflung den Tod geben. Aber auch andere Sünden können aus der Verzweiflung hervorgehen. Man gibt das Streben auf, man läßt alles laufen. Man sündigt ohne Überlegung, weil man keine Verzeihung mehr erhofft. Ich habe einmal gelesen, daß sich zwei japanische Mädchen in einen Vulkan gestürzt haben aus Verzweiflung über ihre Schuld, aus der sie keinen Ausweg sahen. Die Verzweiflung zieht also gefährliche Sünden nach sich, und wir müssen uns davor hüten, daß wir uns der Verzweiflung überlassen.

Das Erbarmen Gottes ist groß, und Gott gibt uns soviel, wie wir von ihm erwarten. Wir können ihn nicht mehr beleidigen, als wenn wir ihm nichts zutrauen. In der Verzweiflung rauben wir ihm ein Stück seiner Ehre, weil wir ihm nicht mehr zutrauen, daß er retten kann, daß er helfen kann, daß er uns auch durch schlimmstes Leiden in seine Seligkeit führen kann. Wir sind verpflichtet, gegen alle menschliche Hoffnung, gestützt auf göttliche Hoffnung zu vertrauen und auf Gottes Hilfe zu warten.

Die zweite Verfehlung gegen die Hoffnung ist die Vermessenheit. Es scheint, daß diese Sünde heute häufiger ist als früher. Vermessenheit liegt dann vor, wenn man die Seligkeit erwartet ohne Verdienste, oder wenn man die Vergebung erwartet ohne Bekehrung. Beides sind Grundformen der Vermessenheit: Gottes Verzeihung erwarten ohne Reue und Buße und die himmlische Seligkeit erwarten ohne Mitwirken, ohne Verdienste. Der Verlust des Bußgeistes, den wir in den letzten Jahren, in den letzten Jahrzehnten in unserer Kirche erlebt haben, legt die Vermutung nahe, daß heute viele Christen im Zustand der Vermessenheit leben.  Sie meinen, Gott werde ihnen den Himmel schenken, auch wenn sie nichts tun. Sie meinen, er werde ihnen verzeihen, auch wenn sie sich nicht anstrengen.

Die Vermessenheit tritt in vier Formen auf. Einmal darin, daß der Mensch meint, er könne sich das Heil aus eigener Kraft erwerben. Das ist die Hybris der Pelagianer, die meinen, eigenes Tun und nicht Gottes Hilfe würde ihnen das Heil und den Ausweg aus allen Situationen verschaffen. Es ist ganz falsch, allein auf sich oder andere Menschen oder irdische Mittel zu vertrauen.  Wer sich selbst nur zum Schützer hat, der ist verlassen. Wer Gott zum Schützer hat, der kann wahrhaft auf die Hilfe Gottes bauen. Der Mensch ist schwach und hinfällig, er ist wie ein Rohr, auf das man sich stützt; das Rohr zerbricht oder dringt durch die Hand.

Die zweite Fehlform der Vermessenheit besteht darin, daß man das Heil erwartet, ohne etwas dazu zu tun, daß man Hilfe erwartet, ohne mitzuwirken. „Es ist zwar wahr, daß Gott dich selig machen will“, sagt unser schlesischer Dichter Angelus Silesius. „Glaubst du, er will’s ohne dich, dann glaubest du zuviel.“ Wie schön hat dieser geistliche Dichter hier diese Wahrheit eingefangen, daß man mitwirken muß. „Es ist zwar wahr, daß Gott dich selig machen will. Glaubst du, er will’s ohne dich, dann glaubest du zuviel.“ Der Mensch muß mitwirken, er muß sich anstrengen, er muß seine Kräfte aufbieten. Gott hilft dem Schiffer, aber er muß rudern. „Der dich ohne dich geschaffen hat, will dich nicht ohne dich rechtfertigen“, sagt der heilige Augustinus. Wir müssen also alles aufbieten, um das Heil zu erringen, und dann auf Gott hoffen.

Eine dritte Fehlform, die sich als Vermessenheit kundtut, ist die Versuchung Gottes. Wir wissen von einer solchen Versuchung Gottes aus der Heiligen Schrift. Der Satan versuchte Jesus. Er nahm ihn mit in die heilige Stadt, stellte ihn auf die Zinne des Tempels und sprach zu ihm: „Bist du Gottes Sohn, so stürze dich hinab; denn es steht geschrieben: Er hat seinen Engeln deinetwegen befohlen, daß sie dich auf den Händen tragen, damit du nicht etwa deinen Fuß an einen Stein stoßest.“ Jesus entgegnete ihm: „Es steht auch geschrieben: Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen!“ Hier haben wir also eine solche Versuchung Gottes vor uns. Wer mutwillig sich in die Gefahr begibt und dabei auf außerordentliche Hilfe Gottes rechnet ohne vernünftige Gründe, der versucht Gott. Wer sich mutwillig in die Gefahr begibt, der darf nicht auf Gott hoffen. Wir dürfen auf Gott hoffen, wenn wir das tun, was sein Wille ist, aber nicht, wenn wir seinem Willen zuwider handeln. In den Zeiten, da die Strafrechtspflege noch nicht über die heutigen Mittel der Erkenntnis verfügte, griff man zu Gottesurteilen, wie man das nannte, um einen Schuldigen oder einen Verdächtigen zu überführen. Man ließ also einen Mann, der im Verdacht stand, ein Verbrechen begangen zu haben, über glühendes Eisen laufen, oder man ließ ihn die Faust in kochendes Wasser tauchen und meinte, wenn er unschuldig sei, werde Gott ihn vor dem Verbrennen, vor dem Versengtwerden bewahren. Das war nicht Gottes Wille. Er wirkt nicht Wunder auf Befehl der Menschen. Das hieß Gott herausfordern, das hieß Gott versuchen, und deswegen hat die Kirche gegen diese Gottesurteile Einspruch erhoben und sie schließlich auch zur Abschaffung gebracht.

Eine vierte und letzte Weise, wie man vermessen sein kann, besteht darin, daß man fort und fort sündigt, in dem Vorsatz, in der Sünde zu verharren, weil man auf Gottes Barmherzigkeit vertraut. Hier wird die Barmherzigkeit Gottes das Motiv oder der Vorwand, um in der Sünde zu bleiben. Das heißt wahrhaft Gott herausfordern. Die Heilige Schrift hat gegen solche Herausforderungen Protest erhoben im Buche Sirach. „Sage nicht: Ich habe gesündigt, und was ist mir geschehen? Der Herr ist langmütig. Sei nicht ohne Furcht betreffs der Vergebung, daß du Sünde auf Sünde häufst. Sage nicht: Seine Barmherzigkeit ist groß, er wird mir schon meine vielen Sünden vergeben. Bei ihm ist wohl Barmherzigkeit, aber auch Zorn. Auf den Sündern lastet sein Grimm. Säume nicht, dich zum Herrn zu bekehren. Verschieb es nicht von einem Tag zum anderen. Denn plötzlich bricht aus der Zorn des Herrn, und du wirst weggerafft am Tage der Vergeltung.“ Man muß bedenken, daß Gott nicht nur barmherzig ist, daß er auch gerecht ist. Gottvertrauen und Furcht müssen sich die Waage halten.

Verzweiflung und Vermessenheit sind die beiden Formen, wie man sich gegen die Hoffnung verfehlen kann. Der Verzweifelte hofft zu wenig, der Vermessene hofft zu viel. Wir sollen alles von Gott erwarten und gleichzeitig alles tun, was in unseren Kräften steht.

Ein Meister des geistlichen Lebens, der heilige Ignatius von Loyola, hat diese Wahrheit einmal so ausgedrückt: „Dein Vertrauen auf Gott sei so tätig, als wenn Gott nichts, du alles tun müßtest. Deine Tätigkeit sei so voll Gottvertrauen, als wenn du nichts, Gott alles tun müßte.“ Gehe hin und tue desgleichen!

Amen.

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